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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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ist nach seiner Weltanschauung als konservativ anzusprechen, wenn wir Gott¬
gläubigkeit und Mißtrauen gegen alles Neue als die Grundlagen konservativer
Gesinnung anerkennen. Diese Eigenschaften finden wir, von einigen Ausnahmen
abgesehen, nicht nur bei den Führern der liberalen Parteien, sondern auch
bei den sozialdemokratisch organisierten Arbeitern. Der Austritt zahlreicher
Industriearbeiter evangelischer Konfession aus der Landeskirche spricht nicht
gegen unsere Auffassung, weil für diesen Enschluß fast immer wirtschaftliche
oder politische Gründe maßgebend sind. Und wenn es den Führern der kon¬
servativen Parteien nicht gelungen ist, die tatsächlich vorhandene konser¬
vative Gesinnung für ihre Ideale vom Staat nutzbar zu machen, so ist
das ein Zeichen dafür, daß diese Ideale sich von der gesunden Grundlage
entfernt haben und daß die Darbietungen der konservativen Politik nicht im
richtigen Verhältnis zu dem Kulturbedürfnis der Volksmehrheit stehen. Recht
zum Bewußtsein ist mir die Richtigkeit dieses Gedankenganges gekommen, als
ich zwei Aufsätze im Tag (Ur. 19 und 31) gelesen hatte: "Kulturkonservatismus"
ist der eine und "Konservative Weltanschauung und konservative Partei" der
andere betitelt. Beide haben einen Mann zum Verfasser, der sich mit vollem
Bewußtsein als "Konservativer" fühlt und der obendrein als Herausgeber der
Zeitschrift für Politik zum Hüter einer wissenschaftlichen politischen Forscherarbeit
geworden ist: Dr. Adolf Grabowsky. Der Autor stimmt mit mir überein, wenn
er sagt: "Im Privatleben, also jenseits der Parteischranken, gibt es keinen
Konservativen, der nicht liberale und keinen Liberalen, der nicht konservative
Elemente enthielte", und weiter, "Das Negative sind die Pöbelinstinkte, die unser
ganzes Leben, unser ganzes reiches Schaffen tiefer und tiefer in den klebrigen
Sumpf blödester Gleichmacherei zu ziehen drohen. Das Positive ist der deutsche,
vor allem der preußische Staatsgedanke, der den Ausgleich aller gegeneinander
wirkenden Strebungen zum Vorteil des Ganzen in sich schließt, und der diesen
Ausgleich von den Führenden, den Wegweisenden erwartet. Hiermit ist bereits
bewiesen, daß die konservative Weltanschauung heute unter allen Gebildeten und
Einsichtigen sieghaft um sich greift. Der Fortschritt liegt heute in der
konservativen Weltanschauung, die Gebildeten werden wie durch Schicksalszwang
zu ihr getrieben. .. . Man müßte also annehmen, daß die konservative Partei
unerhört wächst, daß unsere Besten in ihre Organisationen in stürmischen Mengen
strömen. Und doch sieht man nichts hiervon, ja im Gegenteil, die konser¬
vative Partei steht im Augenblick allein, ganz isoliert, ganz verlassen,
abgeschnitten von dem Strom der Entwicklung."

In seiner Erklärung dieser Tatsache verfährtGrabowsky indessen einseitig, wenn
er die Feindschaft der Konservativen gegen Industrie und Handel als Ursache in den
Vordergrund schiebt. Gewiß ist diese Ursache als äußerliches Moment und im engen
Zusammenhange mit der agrarischen Herkunft des preußischen Staates höchst bedeut¬
sam, aber daneben und darunter schlummert die wichtigere und schwerwiegendere,,
die Grabowsky zwar im Sinn hat, die er aber nicht genügend hervorhebt.


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ist nach seiner Weltanschauung als konservativ anzusprechen, wenn wir Gott¬
gläubigkeit und Mißtrauen gegen alles Neue als die Grundlagen konservativer
Gesinnung anerkennen. Diese Eigenschaften finden wir, von einigen Ausnahmen
abgesehen, nicht nur bei den Führern der liberalen Parteien, sondern auch
bei den sozialdemokratisch organisierten Arbeitern. Der Austritt zahlreicher
Industriearbeiter evangelischer Konfession aus der Landeskirche spricht nicht
gegen unsere Auffassung, weil für diesen Enschluß fast immer wirtschaftliche
oder politische Gründe maßgebend sind. Und wenn es den Führern der kon¬
servativen Parteien nicht gelungen ist, die tatsächlich vorhandene konser¬
vative Gesinnung für ihre Ideale vom Staat nutzbar zu machen, so ist
das ein Zeichen dafür, daß diese Ideale sich von der gesunden Grundlage
entfernt haben und daß die Darbietungen der konservativen Politik nicht im
richtigen Verhältnis zu dem Kulturbedürfnis der Volksmehrheit stehen. Recht
zum Bewußtsein ist mir die Richtigkeit dieses Gedankenganges gekommen, als
ich zwei Aufsätze im Tag (Ur. 19 und 31) gelesen hatte: „Kulturkonservatismus"
ist der eine und „Konservative Weltanschauung und konservative Partei" der
andere betitelt. Beide haben einen Mann zum Verfasser, der sich mit vollem
Bewußtsein als „Konservativer" fühlt und der obendrein als Herausgeber der
Zeitschrift für Politik zum Hüter einer wissenschaftlichen politischen Forscherarbeit
geworden ist: Dr. Adolf Grabowsky. Der Autor stimmt mit mir überein, wenn
er sagt: „Im Privatleben, also jenseits der Parteischranken, gibt es keinen
Konservativen, der nicht liberale und keinen Liberalen, der nicht konservative
Elemente enthielte", und weiter, „Das Negative sind die Pöbelinstinkte, die unser
ganzes Leben, unser ganzes reiches Schaffen tiefer und tiefer in den klebrigen
Sumpf blödester Gleichmacherei zu ziehen drohen. Das Positive ist der deutsche,
vor allem der preußische Staatsgedanke, der den Ausgleich aller gegeneinander
wirkenden Strebungen zum Vorteil des Ganzen in sich schließt, und der diesen
Ausgleich von den Führenden, den Wegweisenden erwartet. Hiermit ist bereits
bewiesen, daß die konservative Weltanschauung heute unter allen Gebildeten und
Einsichtigen sieghaft um sich greift. Der Fortschritt liegt heute in der
konservativen Weltanschauung, die Gebildeten werden wie durch Schicksalszwang
zu ihr getrieben. .. . Man müßte also annehmen, daß die konservative Partei
unerhört wächst, daß unsere Besten in ihre Organisationen in stürmischen Mengen
strömen. Und doch sieht man nichts hiervon, ja im Gegenteil, die konser¬
vative Partei steht im Augenblick allein, ganz isoliert, ganz verlassen,
abgeschnitten von dem Strom der Entwicklung."

In seiner Erklärung dieser Tatsache verfährtGrabowsky indessen einseitig, wenn
er die Feindschaft der Konservativen gegen Industrie und Handel als Ursache in den
Vordergrund schiebt. Gewiß ist diese Ursache als äußerliches Moment und im engen
Zusammenhange mit der agrarischen Herkunft des preußischen Staates höchst bedeut¬
sam, aber daneben und darunter schlummert die wichtigere und schwerwiegendere,,
die Grabowsky zwar im Sinn hat, die er aber nicht genügend hervorhebt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/411>, abgerufen am 24.07.2024.