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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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der freien Persönlichkeit, die sich nicht bevormunden und einschnüren lasse, ver¬
tritt, empfiehlt er nun die genossenschaftliche Zusammenfassung, die Einordnung
in den Verband. Gewiß dürfen die Liberalen heute ihr altes rein individua¬
listisches Prinzip nicht mehr uneingeschränkt festhalten. Allein überall, wo sich
noch echter Liberalismus findet, wird er gegen die Alleinherrschaft der Verbände,
und zwar gegen die der Arbeiter ebenso wie gegen die der Unternehmer reagieren,
und er reagiert tatsächlich ja immer von neuem dagegen. Damit hängt es
zusammen, daß die Arbeiterverbände und die Arbeiterinteressen im Liberalismus
durchaus nicht eine klassische Stütze finden. Es ist Willkür, wenn Naumann
gerade aus dem Gesichtspunkt der Verteidigung der Arbeiterverbände die geschlossene
liberal-sozialistische Phalanx konstruiert. Es war in dieser Hinsicht interessant,
daß die Frankfurter Zeitung (1910, Ur. 180) während der Verhandlungen über das
Neichsversicherungsgesetz bei einer Frage dem Standpunkt des Zentrums vor
dem der Freisinnigen den Vorzug gab. Wenn man die Gruppierung der
Parteien lediglich nach dem vornehmen will, was für Naumann "das Problem"
ist (S. 105), so kann man auch eine ganz andere Zusammenstellung machen,
als Naumann sie dekretiert, z. B. Zentrum und Sozialisten gegen Liberale und
Konservative oder auch Zentrum, Freisinnige und Sozialisten gegen National¬
liberale und Konservative. Indessen sind diese Parteien ja keineswegs Gegner
der Sozialpolitik überhaupt, und in ihren Kreisen finden sich sogar enragierte
Sozialpolitiker wie der Arbeitersekretär Vehrens, der reichsparteiliche Abgeordnete
Linz und der bisher nationalliberale Wgeordnete v. Heyl, die an Interesse für
den Arbeiterstand keinem von der andern Seite nachstehen. Das Moment,
welches nach Naumann Liberalismus und Sozialismus zu einer Einheit macht,
trennt sie eher, als daß es sie verbindet, und es reicht ferner bei weiten: nicht
hin, um dem politischen Leben einen bestimmten Charakter zu geben. Werfen
wir einen Blick auf die großen Parteigruppierungen der letzten Jahre, den
badischen Großblock und den Bülow-Block im Reichstag, so ist hier die Frage
der Arbeiterverbande weder das Einigende noch das Trennende. Der Bülow-Block
zeigt, daß eine Parteigruppierung, die nicht auf dem Naumannschen Schema
beruht. Großes leisten kann, während der Beweis, daß der Bund "von Basser¬
mann bis Bebel" die Fragen von Heer, Flotte, Kolonien, Wirtschaftspolitik,
Polenpolitik und auch Sozialpolitik zu lösen vermag, wohl auf sich warten
lassen wird. Begreiflicherweise ist Naumann dem Bülow-Block, obwohl er ihm
beitrat, nicht grün, wie er denn auch zu denen gehört, die ihn untergraben
haben: er habe nicht mehr bedeutet, "als wenn im März einmal einige Tage
besonders warm sind" (S. 47). Da beweist der Abg. v. Heydebrand (dessen
Verfahren bei der Finanzreform wir im übrigen nicht billigen) doch mehr
politisches Urteil, wenn er in seiner Rede vom 10. Juli 1909 hervorhebt,
gewisse nationale Interessen seien durch den alten Block dauernd gesichert worden*).



") Näheres darüber in meiner Schrift- "Die Politische Lage im Reich und in Baden"
(Heidewerg 1.910), S, 20.
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der freien Persönlichkeit, die sich nicht bevormunden und einschnüren lasse, ver¬
tritt, empfiehlt er nun die genossenschaftliche Zusammenfassung, die Einordnung
in den Verband. Gewiß dürfen die Liberalen heute ihr altes rein individua¬
listisches Prinzip nicht mehr uneingeschränkt festhalten. Allein überall, wo sich
noch echter Liberalismus findet, wird er gegen die Alleinherrschaft der Verbände,
und zwar gegen die der Arbeiter ebenso wie gegen die der Unternehmer reagieren,
und er reagiert tatsächlich ja immer von neuem dagegen. Damit hängt es
zusammen, daß die Arbeiterverbände und die Arbeiterinteressen im Liberalismus
durchaus nicht eine klassische Stütze finden. Es ist Willkür, wenn Naumann
gerade aus dem Gesichtspunkt der Verteidigung der Arbeiterverbände die geschlossene
liberal-sozialistische Phalanx konstruiert. Es war in dieser Hinsicht interessant,
daß die Frankfurter Zeitung (1910, Ur. 180) während der Verhandlungen über das
Neichsversicherungsgesetz bei einer Frage dem Standpunkt des Zentrums vor
dem der Freisinnigen den Vorzug gab. Wenn man die Gruppierung der
Parteien lediglich nach dem vornehmen will, was für Naumann „das Problem"
ist (S. 105), so kann man auch eine ganz andere Zusammenstellung machen,
als Naumann sie dekretiert, z. B. Zentrum und Sozialisten gegen Liberale und
Konservative oder auch Zentrum, Freisinnige und Sozialisten gegen National¬
liberale und Konservative. Indessen sind diese Parteien ja keineswegs Gegner
der Sozialpolitik überhaupt, und in ihren Kreisen finden sich sogar enragierte
Sozialpolitiker wie der Arbeitersekretär Vehrens, der reichsparteiliche Abgeordnete
Linz und der bisher nationalliberale Wgeordnete v. Heyl, die an Interesse für
den Arbeiterstand keinem von der andern Seite nachstehen. Das Moment,
welches nach Naumann Liberalismus und Sozialismus zu einer Einheit macht,
trennt sie eher, als daß es sie verbindet, und es reicht ferner bei weiten: nicht
hin, um dem politischen Leben einen bestimmten Charakter zu geben. Werfen
wir einen Blick auf die großen Parteigruppierungen der letzten Jahre, den
badischen Großblock und den Bülow-Block im Reichstag, so ist hier die Frage
der Arbeiterverbande weder das Einigende noch das Trennende. Der Bülow-Block
zeigt, daß eine Parteigruppierung, die nicht auf dem Naumannschen Schema
beruht. Großes leisten kann, während der Beweis, daß der Bund „von Basser¬
mann bis Bebel" die Fragen von Heer, Flotte, Kolonien, Wirtschaftspolitik,
Polenpolitik und auch Sozialpolitik zu lösen vermag, wohl auf sich warten
lassen wird. Begreiflicherweise ist Naumann dem Bülow-Block, obwohl er ihm
beitrat, nicht grün, wie er denn auch zu denen gehört, die ihn untergraben
haben: er habe nicht mehr bedeutet, „als wenn im März einmal einige Tage
besonders warm sind" (S. 47). Da beweist der Abg. v. Heydebrand (dessen
Verfahren bei der Finanzreform wir im übrigen nicht billigen) doch mehr
politisches Urteil, wenn er in seiner Rede vom 10. Juli 1909 hervorhebt,
gewisse nationale Interessen seien durch den alten Block dauernd gesichert worden*).



") Näheres darüber in meiner Schrift- „Die Politische Lage im Reich und in Baden"
(Heidewerg 1.910), S, 20.
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[0348] Lin Tendcnzromcm der freien Persönlichkeit, die sich nicht bevormunden und einschnüren lasse, ver¬ tritt, empfiehlt er nun die genossenschaftliche Zusammenfassung, die Einordnung in den Verband. Gewiß dürfen die Liberalen heute ihr altes rein individua¬ listisches Prinzip nicht mehr uneingeschränkt festhalten. Allein überall, wo sich noch echter Liberalismus findet, wird er gegen die Alleinherrschaft der Verbände, und zwar gegen die der Arbeiter ebenso wie gegen die der Unternehmer reagieren, und er reagiert tatsächlich ja immer von neuem dagegen. Damit hängt es zusammen, daß die Arbeiterverbände und die Arbeiterinteressen im Liberalismus durchaus nicht eine klassische Stütze finden. Es ist Willkür, wenn Naumann gerade aus dem Gesichtspunkt der Verteidigung der Arbeiterverbände die geschlossene liberal-sozialistische Phalanx konstruiert. Es war in dieser Hinsicht interessant, daß die Frankfurter Zeitung (1910, Ur. 180) während der Verhandlungen über das Neichsversicherungsgesetz bei einer Frage dem Standpunkt des Zentrums vor dem der Freisinnigen den Vorzug gab. Wenn man die Gruppierung der Parteien lediglich nach dem vornehmen will, was für Naumann „das Problem" ist (S. 105), so kann man auch eine ganz andere Zusammenstellung machen, als Naumann sie dekretiert, z. B. Zentrum und Sozialisten gegen Liberale und Konservative oder auch Zentrum, Freisinnige und Sozialisten gegen National¬ liberale und Konservative. Indessen sind diese Parteien ja keineswegs Gegner der Sozialpolitik überhaupt, und in ihren Kreisen finden sich sogar enragierte Sozialpolitiker wie der Arbeitersekretär Vehrens, der reichsparteiliche Abgeordnete Linz und der bisher nationalliberale Wgeordnete v. Heyl, die an Interesse für den Arbeiterstand keinem von der andern Seite nachstehen. Das Moment, welches nach Naumann Liberalismus und Sozialismus zu einer Einheit macht, trennt sie eher, als daß es sie verbindet, und es reicht ferner bei weiten: nicht hin, um dem politischen Leben einen bestimmten Charakter zu geben. Werfen wir einen Blick auf die großen Parteigruppierungen der letzten Jahre, den badischen Großblock und den Bülow-Block im Reichstag, so ist hier die Frage der Arbeiterverbande weder das Einigende noch das Trennende. Der Bülow-Block zeigt, daß eine Parteigruppierung, die nicht auf dem Naumannschen Schema beruht. Großes leisten kann, während der Beweis, daß der Bund „von Basser¬ mann bis Bebel" die Fragen von Heer, Flotte, Kolonien, Wirtschaftspolitik, Polenpolitik und auch Sozialpolitik zu lösen vermag, wohl auf sich warten lassen wird. Begreiflicherweise ist Naumann dem Bülow-Block, obwohl er ihm beitrat, nicht grün, wie er denn auch zu denen gehört, die ihn untergraben haben: er habe nicht mehr bedeutet, „als wenn im März einmal einige Tage besonders warm sind" (S. 47). Da beweist der Abg. v. Heydebrand (dessen Verfahren bei der Finanzreform wir im übrigen nicht billigen) doch mehr politisches Urteil, wenn er in seiner Rede vom 10. Juli 1909 hervorhebt, gewisse nationale Interessen seien durch den alten Block dauernd gesichert worden*). ") Näheres darüber in meiner Schrift- „Die Politische Lage im Reich und in Baden" (Heidewerg 1.910), S, 20.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/348>, abgerufen am 24.07.2024.