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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Linne verlieren
Und nichts, selbst nicht des flüchtigsten Argwohns Grauen,
Trübte, auch nur einen Augenblick,
Das heilige Vertrauen,
Das in uns schläft wie ein träumendes Kind,
Aus den "Stunden des Nachmittags",
Die süße Stunde, wenn die Lampe scheint,
Wenn Trost und Abendruhe freundlich winken;
So tief die Stille, daß man einer Feder Sinken
Zu hören meint, O wie die süße Stunde schweiget
Die Liebste naht sich wie ein Hauch,
Ganz leis und heimlich, wie ein Rauch,
Der langsam in den Abend steigt. Roch spricht sie nicht -- noch darf ich lauschen
Auf ihrer Seele Melodie;
Ich fühle sie erglühn und rauschen,
Und auf die Augen küff ich sie. Die süße Stunde, wenn die Lampe scheint,
Wenn tief
Aus Herzensgrunde, wo es leuchtend schlief,
Sich das Geständnis drängt, das selig macht:
Wir liebten uns, so lang' der Tag gelacht. Und man spricht von den schlichtesten Dingen:
Von Früchten, die reif zum Pflücken hingen,
Von der Blume, die sich erschloß
Zwischen der Decke von grünem Moos;
Wie die Erinn'rung jäh und schreckhaft war
An Liebesworte, die schon längst vorblaßten,
Und die man tief in einem alten Kasten
Auf einem Blatte fand aus frühem Jahr,

Kurz sei noch auf Verhaerens übrigen Werke eingegangen. Wir verdanken
ihm außer einer wertvollen, von tiefstem Verständnis zeugenden Studie über
Rembrandt noch vier Dramen. Sie haben nichts von äußeren Geschehnissen,
von Lärm und Massenwirkung, und daher wird es wohl zu begründen sein,
daß die moderne Bühne sie nicht anerkennen will. "I^e Lloitrs" ist das
Gegenstück zu "I^Sö ^vins8". Es zeigt, daß allein das Geständnis von der
Missetat zu erlösen vermag. Die Form ist wundervoll. Prosa, die sich an
den wichtigen, pathetischen Stellen zum Vers und in höchster Erregung zum
freien Rhythmus erhebt. Dieses Drama reißt mit sich fort durch seine glühende
Rhetorik, und darin scheint mir seine tiefinnere Wirkung zu beruhen; es zeigt,
daß seelische Evolutionen mehr ergreifen als alles Toben und Waffenrasseln
auf der Bühne. "I^es ^ubes" ist die dramatische Illustration zu den "Villes
l'entAeuIaireZ" und stellt den sozialen Kampf in den Mittelpunkt. Ich halte
es mit "PKilipp II", in welchem uns ein geschichtlich wahrer Don Carlos,
im Gegensatz zu Schiller, gezeigt wird, für die verhältnismäßig schwächeren
Leistungen. Dagegen ist "decima ac Sparte" meisterlich in Konzeption und


Linne verlieren
Und nichts, selbst nicht des flüchtigsten Argwohns Grauen,
Trübte, auch nur einen Augenblick,
Das heilige Vertrauen,
Das in uns schläft wie ein träumendes Kind,
Aus den „Stunden des Nachmittags",
Die süße Stunde, wenn die Lampe scheint,
Wenn Trost und Abendruhe freundlich winken;
So tief die Stille, daß man einer Feder Sinken
Zu hören meint, O wie die süße Stunde schweiget
Die Liebste naht sich wie ein Hauch,
Ganz leis und heimlich, wie ein Rauch,
Der langsam in den Abend steigt. Roch spricht sie nicht — noch darf ich lauschen
Auf ihrer Seele Melodie;
Ich fühle sie erglühn und rauschen,
Und auf die Augen küff ich sie. Die süße Stunde, wenn die Lampe scheint,
Wenn tief
Aus Herzensgrunde, wo es leuchtend schlief,
Sich das Geständnis drängt, das selig macht:
Wir liebten uns, so lang' der Tag gelacht. Und man spricht von den schlichtesten Dingen:
Von Früchten, die reif zum Pflücken hingen,
Von der Blume, die sich erschloß
Zwischen der Decke von grünem Moos;
Wie die Erinn'rung jäh und schreckhaft war
An Liebesworte, die schon längst vorblaßten,
Und die man tief in einem alten Kasten
Auf einem Blatte fand aus frühem Jahr,

Kurz sei noch auf Verhaerens übrigen Werke eingegangen. Wir verdanken
ihm außer einer wertvollen, von tiefstem Verständnis zeugenden Studie über
Rembrandt noch vier Dramen. Sie haben nichts von äußeren Geschehnissen,
von Lärm und Massenwirkung, und daher wird es wohl zu begründen sein,
daß die moderne Bühne sie nicht anerkennen will. „I^e Lloitrs" ist das
Gegenstück zu „I^Sö ^vins8". Es zeigt, daß allein das Geständnis von der
Missetat zu erlösen vermag. Die Form ist wundervoll. Prosa, die sich an
den wichtigen, pathetischen Stellen zum Vers und in höchster Erregung zum
freien Rhythmus erhebt. Dieses Drama reißt mit sich fort durch seine glühende
Rhetorik, und darin scheint mir seine tiefinnere Wirkung zu beruhen; es zeigt,
daß seelische Evolutionen mehr ergreifen als alles Toben und Waffenrasseln
auf der Bühne. „I^es ^ubes" ist die dramatische Illustration zu den „Villes
l'entAeuIaireZ" und stellt den sozialen Kampf in den Mittelpunkt. Ich halte
es mit „PKilipp II", in welchem uns ein geschichtlich wahrer Don Carlos,
im Gegensatz zu Schiller, gezeigt wird, für die verhältnismäßig schwächeren
Leistungen. Dagegen ist „decima ac Sparte" meisterlich in Konzeption und


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[0338] Linne verlieren Und nichts, selbst nicht des flüchtigsten Argwohns Grauen, Trübte, auch nur einen Augenblick, Das heilige Vertrauen, Das in uns schläft wie ein träumendes Kind, Aus den „Stunden des Nachmittags", Die süße Stunde, wenn die Lampe scheint, Wenn Trost und Abendruhe freundlich winken; So tief die Stille, daß man einer Feder Sinken Zu hören meint, O wie die süße Stunde schweiget Die Liebste naht sich wie ein Hauch, Ganz leis und heimlich, wie ein Rauch, Der langsam in den Abend steigt. Roch spricht sie nicht — noch darf ich lauschen Auf ihrer Seele Melodie; Ich fühle sie erglühn und rauschen, Und auf die Augen küff ich sie. Die süße Stunde, wenn die Lampe scheint, Wenn tief Aus Herzensgrunde, wo es leuchtend schlief, Sich das Geständnis drängt, das selig macht: Wir liebten uns, so lang' der Tag gelacht. Und man spricht von den schlichtesten Dingen: Von Früchten, die reif zum Pflücken hingen, Von der Blume, die sich erschloß Zwischen der Decke von grünem Moos; Wie die Erinn'rung jäh und schreckhaft war An Liebesworte, die schon längst vorblaßten, Und die man tief in einem alten Kasten Auf einem Blatte fand aus frühem Jahr, Kurz sei noch auf Verhaerens übrigen Werke eingegangen. Wir verdanken ihm außer einer wertvollen, von tiefstem Verständnis zeugenden Studie über Rembrandt noch vier Dramen. Sie haben nichts von äußeren Geschehnissen, von Lärm und Massenwirkung, und daher wird es wohl zu begründen sein, daß die moderne Bühne sie nicht anerkennen will. „I^e Lloitrs" ist das Gegenstück zu „I^Sö ^vins8". Es zeigt, daß allein das Geständnis von der Missetat zu erlösen vermag. Die Form ist wundervoll. Prosa, die sich an den wichtigen, pathetischen Stellen zum Vers und in höchster Erregung zum freien Rhythmus erhebt. Dieses Drama reißt mit sich fort durch seine glühende Rhetorik, und darin scheint mir seine tiefinnere Wirkung zu beruhen; es zeigt, daß seelische Evolutionen mehr ergreifen als alles Toben und Waffenrasseln auf der Bühne. „I^es ^ubes" ist die dramatische Illustration zu den „Villes l'entAeuIaireZ" und stellt den sozialen Kampf in den Mittelpunkt. Ich halte es mit „PKilipp II", in welchem uns ein geschichtlich wahrer Don Carlos, im Gegensatz zu Schiller, gezeigt wird, für die verhältnismäßig schwächeren Leistungen. Dagegen ist „decima ac Sparte" meisterlich in Konzeption und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/338>, abgerufen am 28.12.2024.