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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Emile Verhaeren

Durch dieses ganze Buch aber zieht sich eine Reihe von Gedichten hin, die
"Frommer Abend" betitelt sind. Die Landschaft wird hier in Einklang gesetzt
mit der religiösen Stimmung, wird verklärt und mild umglänzt. Auch aus
diesem Zyklus (denn Proben können am besten Zeugnis ablegen) sei ein Gedicht
in eigener Übersetzung ") wiedergegeben:

Der große Mond hebt sich empor
Durch Winternacht mit vollem Strahle,
Gleich einer goldnen Opferschale,
Und drüber geht der Wolken Flor.
Und wie sie an dem Himmel treiben,
Der hell ist wie ein Kirchenchor,
Stehn sie gleich dunklen Schatten bor
Den lichterhellten Fensterscheiben.
Beseligt glänzt die Nacht hernieder
Und spiegelt in den schwarzen glatten
Morästen, wie in Spiegelplatten,
Der Wolken Weiße Masse wieder.

Die Gedichte der zwei ersten Bücher sind auch insofern sehr bemerkenswert,
als ihnen eine gewisse Unpersönlichkeit eigen ist; gewiß sind sie schon ganz
Verhaerens eigensten Künstlertum entströmt, aber es sind eben nur fremde
Bilder, welche er hier in Versen ausspricht, er selbst ist nur der Beschauer; sie
sind gesehen ü traverg un tempöiament. Dieses Temperament aber wurde
frei, schuf sich neue Form in der verhängnisvollen Zeit der Nervenkrisis, die
Verhaeren nun zu bestehen -- und zu überwinden hatte. Sie verstehen heißt
ihn selbst verstehen!

Es ist gut, gleich darauf hinzuweisen, daß die folgende Periode nichts
mit moderner, blasierter Weltschmerzelei gemein hat. Dazu zeigt sich uns der
Dichter von Beginn an als eine zu männliche Individualität. Äußerlich tat
sich diese Depression in einem nervösen Magenübel kund. Mag nun diese
faßbare Tatsache die Ursache der inneren Umwälzung bedeuten oder umgekehrt, --
jedenfalls hatte Verhaeren jetzt tief erregende, niederwuchtende Anfechtungen und
Kämpfe zu ertragen. Er begann nämlich, in das wirkliche, moderne, erregt
pulsierende Leben einzutreten; er erlebte die Großstadt (London) mit ihrem
verwirrenden Getöse, ihrem scheinbar planlosen Hasten, ihrem fremden Ansehen.
Die Nerven werden aufs äußerste angestrengt und gereizt. Das Auge und das
Ohr vernehmen zwecklose Dinge, die sie nicht fassen können. Da flüchtet der
Geängstigte, flüchtet in die Einsamkeit, verschließt die Tür, verhängt die Fenster,
starrt in die graue Leere und sühlt sich als Verlorener. . . . Schon in dem
Buche "^u Lorcl cle la Koute" erklangen drückende Töne, nun aber in der
Trilogie des Schmerzes schreit der Dichter alles Leid hinaus in die Welt:
"l^s Zoll-8", "I^es L>LbÄLle8", "I^es r^wmbeAnx I^0ir8". Zunächst bemächtigte



") Die eigenen Nachdichtungen entnehme ich meinem Buche "Französische Lyrik" (Leipzig,
Genien-Verlag).
Emile Verhaeren

Durch dieses ganze Buch aber zieht sich eine Reihe von Gedichten hin, die
„Frommer Abend" betitelt sind. Die Landschaft wird hier in Einklang gesetzt
mit der religiösen Stimmung, wird verklärt und mild umglänzt. Auch aus
diesem Zyklus (denn Proben können am besten Zeugnis ablegen) sei ein Gedicht
in eigener Übersetzung ") wiedergegeben:

Der große Mond hebt sich empor
Durch Winternacht mit vollem Strahle,
Gleich einer goldnen Opferschale,
Und drüber geht der Wolken Flor.
Und wie sie an dem Himmel treiben,
Der hell ist wie ein Kirchenchor,
Stehn sie gleich dunklen Schatten bor
Den lichterhellten Fensterscheiben.
Beseligt glänzt die Nacht hernieder
Und spiegelt in den schwarzen glatten
Morästen, wie in Spiegelplatten,
Der Wolken Weiße Masse wieder.

Die Gedichte der zwei ersten Bücher sind auch insofern sehr bemerkenswert,
als ihnen eine gewisse Unpersönlichkeit eigen ist; gewiß sind sie schon ganz
Verhaerens eigensten Künstlertum entströmt, aber es sind eben nur fremde
Bilder, welche er hier in Versen ausspricht, er selbst ist nur der Beschauer; sie
sind gesehen ü traverg un tempöiament. Dieses Temperament aber wurde
frei, schuf sich neue Form in der verhängnisvollen Zeit der Nervenkrisis, die
Verhaeren nun zu bestehen — und zu überwinden hatte. Sie verstehen heißt
ihn selbst verstehen!

Es ist gut, gleich darauf hinzuweisen, daß die folgende Periode nichts
mit moderner, blasierter Weltschmerzelei gemein hat. Dazu zeigt sich uns der
Dichter von Beginn an als eine zu männliche Individualität. Äußerlich tat
sich diese Depression in einem nervösen Magenübel kund. Mag nun diese
faßbare Tatsache die Ursache der inneren Umwälzung bedeuten oder umgekehrt, —
jedenfalls hatte Verhaeren jetzt tief erregende, niederwuchtende Anfechtungen und
Kämpfe zu ertragen. Er begann nämlich, in das wirkliche, moderne, erregt
pulsierende Leben einzutreten; er erlebte die Großstadt (London) mit ihrem
verwirrenden Getöse, ihrem scheinbar planlosen Hasten, ihrem fremden Ansehen.
Die Nerven werden aufs äußerste angestrengt und gereizt. Das Auge und das
Ohr vernehmen zwecklose Dinge, die sie nicht fassen können. Da flüchtet der
Geängstigte, flüchtet in die Einsamkeit, verschließt die Tür, verhängt die Fenster,
starrt in die graue Leere und sühlt sich als Verlorener. . . . Schon in dem
Buche „^u Lorcl cle la Koute" erklangen drückende Töne, nun aber in der
Trilogie des Schmerzes schreit der Dichter alles Leid hinaus in die Welt:
„l^s Zoll-8", „I^es L>LbÄLle8", „I^es r^wmbeAnx I^0ir8". Zunächst bemächtigte



") Die eigenen Nachdichtungen entnehme ich meinem Buche „Französische Lyrik" (Leipzig,
Genien-Verlag).
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[0332] Emile Verhaeren Durch dieses ganze Buch aber zieht sich eine Reihe von Gedichten hin, die „Frommer Abend" betitelt sind. Die Landschaft wird hier in Einklang gesetzt mit der religiösen Stimmung, wird verklärt und mild umglänzt. Auch aus diesem Zyklus (denn Proben können am besten Zeugnis ablegen) sei ein Gedicht in eigener Übersetzung ") wiedergegeben: Der große Mond hebt sich empor Durch Winternacht mit vollem Strahle, Gleich einer goldnen Opferschale, Und drüber geht der Wolken Flor. Und wie sie an dem Himmel treiben, Der hell ist wie ein Kirchenchor, Stehn sie gleich dunklen Schatten bor Den lichterhellten Fensterscheiben. Beseligt glänzt die Nacht hernieder Und spiegelt in den schwarzen glatten Morästen, wie in Spiegelplatten, Der Wolken Weiße Masse wieder. Die Gedichte der zwei ersten Bücher sind auch insofern sehr bemerkenswert, als ihnen eine gewisse Unpersönlichkeit eigen ist; gewiß sind sie schon ganz Verhaerens eigensten Künstlertum entströmt, aber es sind eben nur fremde Bilder, welche er hier in Versen ausspricht, er selbst ist nur der Beschauer; sie sind gesehen ü traverg un tempöiament. Dieses Temperament aber wurde frei, schuf sich neue Form in der verhängnisvollen Zeit der Nervenkrisis, die Verhaeren nun zu bestehen — und zu überwinden hatte. Sie verstehen heißt ihn selbst verstehen! Es ist gut, gleich darauf hinzuweisen, daß die folgende Periode nichts mit moderner, blasierter Weltschmerzelei gemein hat. Dazu zeigt sich uns der Dichter von Beginn an als eine zu männliche Individualität. Äußerlich tat sich diese Depression in einem nervösen Magenübel kund. Mag nun diese faßbare Tatsache die Ursache der inneren Umwälzung bedeuten oder umgekehrt, — jedenfalls hatte Verhaeren jetzt tief erregende, niederwuchtende Anfechtungen und Kämpfe zu ertragen. Er begann nämlich, in das wirkliche, moderne, erregt pulsierende Leben einzutreten; er erlebte die Großstadt (London) mit ihrem verwirrenden Getöse, ihrem scheinbar planlosen Hasten, ihrem fremden Ansehen. Die Nerven werden aufs äußerste angestrengt und gereizt. Das Auge und das Ohr vernehmen zwecklose Dinge, die sie nicht fassen können. Da flüchtet der Geängstigte, flüchtet in die Einsamkeit, verschließt die Tür, verhängt die Fenster, starrt in die graue Leere und sühlt sich als Verlorener. . . . Schon in dem Buche „^u Lorcl cle la Koute" erklangen drückende Töne, nun aber in der Trilogie des Schmerzes schreit der Dichter alles Leid hinaus in die Welt: „l^s Zoll-8", „I^es L>LbÄLle8", „I^es r^wmbeAnx I^0ir8". Zunächst bemächtigte ") Die eigenen Nachdichtungen entnehme ich meinem Buche „Französische Lyrik" (Leipzig, Genien-Verlag).

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/332>, abgerufen am 24.07.2024.