Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.Reichsspiegel in diesem System die Erste Kammer ein Bollwerk sein muß, das unter allen Diese Rücksichtnahme auf alles und jedes, was in den Mantel der "kul¬ Reichsspiegel in diesem System die Erste Kammer ein Bollwerk sein muß, das unter allen Diese Rücksichtnahme auf alles und jedes, was in den Mantel der „kul¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0267" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/317880"/> <fw type="header" place="top"> Reichsspiegel</fw><lb/> <p xml:id="ID_1297" prev="#ID_1296"> in diesem System die Erste Kammer ein Bollwerk sein muß, das unter allen<lb/> Umständen eine jedem Zweifel entrückte deutsche Politik in den Reichslanden<lb/> gewährleistet". Das klingt ja ganz vertrauenerweckend, schrumpft aber erheblich<lb/> zusammen, wenn man hört, wie der Herr Reichskanzler den Partikularismus als<lb/> ein das Reichsganze stärkendes Element hinstellt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1298" next="#ID_1299"> Diese Rücksichtnahme auf alles und jedes, was in den Mantel der „kul¬<lb/> turellen Stammeseigenart" gehüllt zu uns kommt, erscheint geradezu als<lb/> eine Krankheit der Zeit, die nicht energisch genug bekämpft werden kann. Denn<lb/> letzten Endes handelt es sich nicht darum, ob einem Bruderstämme mehr oder<lb/> weniger Freiheiten eingeräumt werden sollen, sondern darum, ob wir dem Ideal,<lb/> eine lebensfähige große deutsche Nation zu bilden, weiter nachhängen wollen oder<lb/> nicht. Bei der Eigenart seiner Zusammensetzung und bei der Jugend des deutschen<lb/> Staatenbundes bedeutet die Durchbrechung des Prinzips an einer Stelle den<lb/> Beginn der Rückbildung zu den traurigen Zuständen, die seinerzeit ihr Spiegelbild<lb/> im Wiener Konzert fanden. Unter der Flagge der Kultur brechen ins Reich nicht<lb/> nur die Franzosen ein. Dänen und Polen, und bald wohl auch Masuren und<lb/> Litauer würden ihre Eigenart in staatlichen Sonderorganisationen zur Geltung<lb/> bringen wollen. Gerade im Hinblick hierauf erscheint es doch recht bedenklich,<lb/> einer Schonung das Wort zu reden. Daß wir nicht zu schwarz malen, beweist<lb/> die Unruhe, die nicht nur in den Reichslanden, sondern auch in der Ost- und<lb/> Nordmark die Deutschen ergriffen hat. — Die Dänen in Schleswig-Holstein haben<lb/> in den Herren Pastoren Naumann und Rade, sowie in Herrn Professor Hans<lb/> Delbrück Bundesgenossen gewonnen, die dem Deutschtum in der Nordmark<lb/> arge Verlegenheit bereiten. In Flugblättern wird ein Material veröffentlicht, das<lb/> darüber aufklären soll, welche Sünden von deutschen Chauvinisten in der Nord¬<lb/> mark begangen werden. Die Blätter nehmen für sich die „strengste Objektivität"<lb/> in Anspruch. In Wirklichkeit sind es durchaus einseitig zusammengestellte Anklagen,<lb/> bei denen nicht einmal der Versuch der Nachprüfung gemacht werden kann. Denn<lb/> die wichtigste Quelle haben die Herausgeber sich verstopft durch ihre feindliche<lb/> Stellungnahme gegen die Lokalbehörden. In dem Auftreten der deutschen Pro¬<lb/> fessoren, das diktiert ist von dem redlichen Wunsche, das Ansehen Deutsch¬<lb/> lands im Auslande rein zu erhalten, tritt die gleiche Arglosigkeit<lb/> zutage, der wir in Delbrücks Auffassung von der Polenfrage begegnen.<lb/> Wie bekannt, will dieser Historiker im polnischen Problem keine Gefahr<lb/> für den Besitzstand Preußens erkennen, solange die Polen mit der preußischen<lb/> Herrschaft zufrieden sind. Delbrück rechnet also mit der Möglichkeit, die Polen<lb/> jemals zufrieden zu stellen, ohne die Teilungen rückgängig machen zu müssen.<lb/> Darum ist er für eine Politik der Milde und Duldung gegenüber den Polen trotz<lb/> aller trüben Erfahrungen, die der preußische Staat seit 1815 bis auf den heutigen<lb/> Tag damit gemacht hat. Herr Delbrück ist geneigt, alle Schuld an den nationalen<lb/> Gegensätzen in den Grenzmarken der Ungeschicklichkeit unserer Beamten zur Last<lb/> zu legen. Er hat sich darum auch niemals mit der Begründung des Enteignungs¬<lb/> gesetzes abgefunden, wie andere Politiker es getan haben, die an sich Gegner des<lb/> Gesetzes waren. Nun sieht es fast so aus, als sollten die Anschauungen Delbrücks<lb/> in Berlin zur Herrschaft gelangen. Anders wäre es schwer zu verstehen, warum<lb/> das unter großen Opfern geschaffene staatliche Ansiedlungswerk im Osten</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0267]
Reichsspiegel
in diesem System die Erste Kammer ein Bollwerk sein muß, das unter allen
Umständen eine jedem Zweifel entrückte deutsche Politik in den Reichslanden
gewährleistet". Das klingt ja ganz vertrauenerweckend, schrumpft aber erheblich
zusammen, wenn man hört, wie der Herr Reichskanzler den Partikularismus als
ein das Reichsganze stärkendes Element hinstellt.
Diese Rücksichtnahme auf alles und jedes, was in den Mantel der „kul¬
turellen Stammeseigenart" gehüllt zu uns kommt, erscheint geradezu als
eine Krankheit der Zeit, die nicht energisch genug bekämpft werden kann. Denn
letzten Endes handelt es sich nicht darum, ob einem Bruderstämme mehr oder
weniger Freiheiten eingeräumt werden sollen, sondern darum, ob wir dem Ideal,
eine lebensfähige große deutsche Nation zu bilden, weiter nachhängen wollen oder
nicht. Bei der Eigenart seiner Zusammensetzung und bei der Jugend des deutschen
Staatenbundes bedeutet die Durchbrechung des Prinzips an einer Stelle den
Beginn der Rückbildung zu den traurigen Zuständen, die seinerzeit ihr Spiegelbild
im Wiener Konzert fanden. Unter der Flagge der Kultur brechen ins Reich nicht
nur die Franzosen ein. Dänen und Polen, und bald wohl auch Masuren und
Litauer würden ihre Eigenart in staatlichen Sonderorganisationen zur Geltung
bringen wollen. Gerade im Hinblick hierauf erscheint es doch recht bedenklich,
einer Schonung das Wort zu reden. Daß wir nicht zu schwarz malen, beweist
die Unruhe, die nicht nur in den Reichslanden, sondern auch in der Ost- und
Nordmark die Deutschen ergriffen hat. — Die Dänen in Schleswig-Holstein haben
in den Herren Pastoren Naumann und Rade, sowie in Herrn Professor Hans
Delbrück Bundesgenossen gewonnen, die dem Deutschtum in der Nordmark
arge Verlegenheit bereiten. In Flugblättern wird ein Material veröffentlicht, das
darüber aufklären soll, welche Sünden von deutschen Chauvinisten in der Nord¬
mark begangen werden. Die Blätter nehmen für sich die „strengste Objektivität"
in Anspruch. In Wirklichkeit sind es durchaus einseitig zusammengestellte Anklagen,
bei denen nicht einmal der Versuch der Nachprüfung gemacht werden kann. Denn
die wichtigste Quelle haben die Herausgeber sich verstopft durch ihre feindliche
Stellungnahme gegen die Lokalbehörden. In dem Auftreten der deutschen Pro¬
fessoren, das diktiert ist von dem redlichen Wunsche, das Ansehen Deutsch¬
lands im Auslande rein zu erhalten, tritt die gleiche Arglosigkeit
zutage, der wir in Delbrücks Auffassung von der Polenfrage begegnen.
Wie bekannt, will dieser Historiker im polnischen Problem keine Gefahr
für den Besitzstand Preußens erkennen, solange die Polen mit der preußischen
Herrschaft zufrieden sind. Delbrück rechnet also mit der Möglichkeit, die Polen
jemals zufrieden zu stellen, ohne die Teilungen rückgängig machen zu müssen.
Darum ist er für eine Politik der Milde und Duldung gegenüber den Polen trotz
aller trüben Erfahrungen, die der preußische Staat seit 1815 bis auf den heutigen
Tag damit gemacht hat. Herr Delbrück ist geneigt, alle Schuld an den nationalen
Gegensätzen in den Grenzmarken der Ungeschicklichkeit unserer Beamten zur Last
zu legen. Er hat sich darum auch niemals mit der Begründung des Enteignungs¬
gesetzes abgefunden, wie andere Politiker es getan haben, die an sich Gegner des
Gesetzes waren. Nun sieht es fast so aus, als sollten die Anschauungen Delbrücks
in Berlin zur Herrschaft gelangen. Anders wäre es schwer zu verstehen, warum
das unter großen Opfern geschaffene staatliche Ansiedlungswerk im Osten
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