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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Homosexualität und neuer Strafgesotzentwurf

Person und seinen Körper grundsätzlich zugestanden werden müsse. Außerdem
sei die Bezeichnung "widernatürliche Unzucht" zu dehnbar und unbestimmt.
Freilich habe das Reichsgericht verfügt, daß nur Beischlaf und "beischlafähnliche
Handlungen" darunter verstanden werden sollen. Aber auch damit bliebe eine
verschiedene Deutungs- und Auslegemöglichkeit.

"Dieser so vielen zum Verhängnis gewordene § 175" soll nun in dem
neuen Z 250 schöner und lebenskräftiger auferstehen, durch den auch "das schöne
Geschlecht" getroffen wird. Daß es bisher straffrei ausging, wird auf Unkenntnis
der früheren Gesetzgeber beruhen, denen die lesbische Liebe noch nicht ins
Bewußtsein übergegangen war. "Was sich der Autor des .verbesserten' Para¬
graphen eigentlich dabei gedacht hat, falls er sich überhaupt etwas gedacht hat",
wer möchte das ergründen. Sicherlich hat er damit nicht bloß den homosexuell
veranlagten Frauen, sondern auch den Strafrichtern, den Sachverständigen und
den Mitgliedern des Reichsgerichts das Leben bedenklich erschwert. "Was werden
sie jetzt zulernen müssen", weil man mit den bisherigen Schulbegriffeu nicht
mehr auskommt. Der Verfasser weist darauf hin, daß wir mit dem erweiterten
Paragraphen dem Denunzianten- und Erpressertum ein neues, ergiebiges Feld
überweisen, daß wir einer bisher unerhörten Schnüffelei in Sofa- und Bett¬
geheimnisse damit Vorschub leisten, daß wir Ehen vergiften, verleumderischen,
schwer widerlegbaren Anschuldigungen Tür und Tor öffnen, öffentliches Ärgernis
erregen, und nachdem wir dem Rufe unserer Männerwelt genugsam Schaden
zugefügt, nun auch den unserer Frauen zu untergraben törichterweise im Begriff
stehen.

Und welche Gründe führt man ins Feld für die vermeintliche Notwendigkeit
dieser vom wissenschaftlichen und Humanitären Standpunkt aus verwerflichen
Strafbestimmungen? Man staunt über deren "beängstigende Magerkeit und
Dürftigkeit". In erster Reihe steht da immer die öffentliche Meinung oder in
gehobener Tonart die "Volksanschauung". Aber diese öffentliche Meinungsstimme
kümmert sich in Wahrheit wenig um die Sache, steht ihr vielmehr mit bedauer¬
licher Gleichgültigkeit gegenüber. Viel zu kleine Kreise sind zu einem brauchbaren
Urteil "befähigt und berechtigt. Die übrigen --I" An zweiter Stelle wird
die von den Homosexuellen angeblich drohende Gefahr der Verführung der
gleichgeschlechtlichen Jugend in den Vordergrund geschoben. Diese Gefahr ist
erfahrungsgemäß weit geringer, als man glaubt oder zu glauben vorgibt, wie
das ja auch sehr begreiflich ist, weil eben kaum jemand homosexuell wird und
werden kann, der nicht schon seiner innersten Organisation nach dazu bestimmt
ist. Will man gegen die die Jugend bedrohenden Verführungskünste noch ein
übriges tuu, so könnte man ein Schutzalter sür beide Geschlechter gesetzlich fest¬
setzen, was freilich sonderbar anmuten würde.

"Also weg mit Z 175, jedenfalls verschone man uns mit der gefährlichen
Neubildung des ß 250."




Homosexualität und neuer Strafgesotzentwurf

Person und seinen Körper grundsätzlich zugestanden werden müsse. Außerdem
sei die Bezeichnung „widernatürliche Unzucht" zu dehnbar und unbestimmt.
Freilich habe das Reichsgericht verfügt, daß nur Beischlaf und „beischlafähnliche
Handlungen" darunter verstanden werden sollen. Aber auch damit bliebe eine
verschiedene Deutungs- und Auslegemöglichkeit.

„Dieser so vielen zum Verhängnis gewordene § 175" soll nun in dem
neuen Z 250 schöner und lebenskräftiger auferstehen, durch den auch „das schöne
Geschlecht" getroffen wird. Daß es bisher straffrei ausging, wird auf Unkenntnis
der früheren Gesetzgeber beruhen, denen die lesbische Liebe noch nicht ins
Bewußtsein übergegangen war. „Was sich der Autor des .verbesserten' Para¬
graphen eigentlich dabei gedacht hat, falls er sich überhaupt etwas gedacht hat",
wer möchte das ergründen. Sicherlich hat er damit nicht bloß den homosexuell
veranlagten Frauen, sondern auch den Strafrichtern, den Sachverständigen und
den Mitgliedern des Reichsgerichts das Leben bedenklich erschwert. „Was werden
sie jetzt zulernen müssen", weil man mit den bisherigen Schulbegriffeu nicht
mehr auskommt. Der Verfasser weist darauf hin, daß wir mit dem erweiterten
Paragraphen dem Denunzianten- und Erpressertum ein neues, ergiebiges Feld
überweisen, daß wir einer bisher unerhörten Schnüffelei in Sofa- und Bett¬
geheimnisse damit Vorschub leisten, daß wir Ehen vergiften, verleumderischen,
schwer widerlegbaren Anschuldigungen Tür und Tor öffnen, öffentliches Ärgernis
erregen, und nachdem wir dem Rufe unserer Männerwelt genugsam Schaden
zugefügt, nun auch den unserer Frauen zu untergraben törichterweise im Begriff
stehen.

Und welche Gründe führt man ins Feld für die vermeintliche Notwendigkeit
dieser vom wissenschaftlichen und Humanitären Standpunkt aus verwerflichen
Strafbestimmungen? Man staunt über deren „beängstigende Magerkeit und
Dürftigkeit". In erster Reihe steht da immer die öffentliche Meinung oder in
gehobener Tonart die „Volksanschauung". Aber diese öffentliche Meinungsstimme
kümmert sich in Wahrheit wenig um die Sache, steht ihr vielmehr mit bedauer¬
licher Gleichgültigkeit gegenüber. Viel zu kleine Kreise sind zu einem brauchbaren
Urteil „befähigt und berechtigt. Die übrigen —I" An zweiter Stelle wird
die von den Homosexuellen angeblich drohende Gefahr der Verführung der
gleichgeschlechtlichen Jugend in den Vordergrund geschoben. Diese Gefahr ist
erfahrungsgemäß weit geringer, als man glaubt oder zu glauben vorgibt, wie
das ja auch sehr begreiflich ist, weil eben kaum jemand homosexuell wird und
werden kann, der nicht schon seiner innersten Organisation nach dazu bestimmt
ist. Will man gegen die die Jugend bedrohenden Verführungskünste noch ein
übriges tuu, so könnte man ein Schutzalter sür beide Geschlechter gesetzlich fest¬
setzen, was freilich sonderbar anmuten würde.

„Also weg mit Z 175, jedenfalls verschone man uns mit der gefährlichen
Neubildung des ß 250."




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[0242] Homosexualität und neuer Strafgesotzentwurf Person und seinen Körper grundsätzlich zugestanden werden müsse. Außerdem sei die Bezeichnung „widernatürliche Unzucht" zu dehnbar und unbestimmt. Freilich habe das Reichsgericht verfügt, daß nur Beischlaf und „beischlafähnliche Handlungen" darunter verstanden werden sollen. Aber auch damit bliebe eine verschiedene Deutungs- und Auslegemöglichkeit. „Dieser so vielen zum Verhängnis gewordene § 175" soll nun in dem neuen Z 250 schöner und lebenskräftiger auferstehen, durch den auch „das schöne Geschlecht" getroffen wird. Daß es bisher straffrei ausging, wird auf Unkenntnis der früheren Gesetzgeber beruhen, denen die lesbische Liebe noch nicht ins Bewußtsein übergegangen war. „Was sich der Autor des .verbesserten' Para¬ graphen eigentlich dabei gedacht hat, falls er sich überhaupt etwas gedacht hat", wer möchte das ergründen. Sicherlich hat er damit nicht bloß den homosexuell veranlagten Frauen, sondern auch den Strafrichtern, den Sachverständigen und den Mitgliedern des Reichsgerichts das Leben bedenklich erschwert. „Was werden sie jetzt zulernen müssen", weil man mit den bisherigen Schulbegriffeu nicht mehr auskommt. Der Verfasser weist darauf hin, daß wir mit dem erweiterten Paragraphen dem Denunzianten- und Erpressertum ein neues, ergiebiges Feld überweisen, daß wir einer bisher unerhörten Schnüffelei in Sofa- und Bett¬ geheimnisse damit Vorschub leisten, daß wir Ehen vergiften, verleumderischen, schwer widerlegbaren Anschuldigungen Tür und Tor öffnen, öffentliches Ärgernis erregen, und nachdem wir dem Rufe unserer Männerwelt genugsam Schaden zugefügt, nun auch den unserer Frauen zu untergraben törichterweise im Begriff stehen. Und welche Gründe führt man ins Feld für die vermeintliche Notwendigkeit dieser vom wissenschaftlichen und Humanitären Standpunkt aus verwerflichen Strafbestimmungen? Man staunt über deren „beängstigende Magerkeit und Dürftigkeit". In erster Reihe steht da immer die öffentliche Meinung oder in gehobener Tonart die „Volksanschauung". Aber diese öffentliche Meinungsstimme kümmert sich in Wahrheit wenig um die Sache, steht ihr vielmehr mit bedauer¬ licher Gleichgültigkeit gegenüber. Viel zu kleine Kreise sind zu einem brauchbaren Urteil „befähigt und berechtigt. Die übrigen —I" An zweiter Stelle wird die von den Homosexuellen angeblich drohende Gefahr der Verführung der gleichgeschlechtlichen Jugend in den Vordergrund geschoben. Diese Gefahr ist erfahrungsgemäß weit geringer, als man glaubt oder zu glauben vorgibt, wie das ja auch sehr begreiflich ist, weil eben kaum jemand homosexuell wird und werden kann, der nicht schon seiner innersten Organisation nach dazu bestimmt ist. Will man gegen die die Jugend bedrohenden Verführungskünste noch ein übriges tuu, so könnte man ein Schutzalter sür beide Geschlechter gesetzlich fest¬ setzen, was freilich sonderbar anmuten würde. „Also weg mit Z 175, jedenfalls verschone man uns mit der gefährlichen Neubildung des ß 250."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/242>, abgerufen am 29.12.2024.