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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Zwischen Alt- und Neu-Wie"

Weichherzigkeit sich mit Brutalität allzu gut vertrüge, den völlig interesselos
animalisch Vergnügten. In diesen Familien "Biz" und "Grammerstädter" sieht
er das eigentliche Bleigewicht an den Sohlen seiner Vaterstadt und vielleicht
seines Vaterlandes, im Kampf gegen diese Gemütlichkeit erreicht er seine eigent¬
liche künstlerische Vollendung. Hier nämlich kämpft der bescheidene Feuilletonist
als echter satirischer Dichter; das bloße Berichterstatter unterbleibt, das störende
Moralisieren wird zum mindesten eingeschränkt; die Leute handeln und reden
selber, so daß man unmittelbar an ihrem Leben teilnimmt, unmittelbar von
ihrer Lächerlichkeit, doch auch von ihrer Gefährlichkeit überzeugt wird. In der
Schenke, im Cas6, seltener, weil sie dort seltener sind, zu Haus, beim Trinken,
Spielen, Politisieren, Beten, im Theater, in der freien Natur, in ihren ehelichen
Verhältnissen, ihren pädagogischen Künsten -- allüberall beobachtet schlüge die
Leute des heilig gehaltenen Dogmas: "Wir können's eh nit ändern!", des
goldenen Lehrsatzes: "Sie wer'n's schon machen!", der glücklichen Lebensregel:
"Nur ka Traurigkeit g'Spur'n lassen" und des alle Schwierigkeiten überwindenden
Entschlusses: "Unterhalten in'r uns lieber!"

In einer längeren Skizzenreihe beschreibt er das Werden und Vergehen
einer Freundschaft mit solch einem typischen Philister. ("Acht Wochen mit einem
echten .Spießer'.") Im Wirtshaus erfolgt die Annäherung. Der Mann hat
viel getrunken und wird red- und rührselig. Sein schönes, altes, vormärzliches
Wien ist hin. "Mich g'freut's nimmer in Wien. . . . Gemütlichkeit ist die
Hauptsach' auf der Welt! Über Gemütlichkeit geht gar nix! Wo finden sie heut¬
zutage Gemütlichkeit? . . ." In mancher Abendsitzung erzählt der Unglückliche
nun vom schönen Damals und klagt das Heute an. Ja damals ist der
Stammgast nicht erst gefragt worden, "was ihm g'fatti is," sondern hat gleich
sein "Sach ort'neues kriegt". "Montag ein sein's Bäuscherl mit Knötel,
Dienstag backene Kalbsfuß. Mittwoch Schunkenfleckerln -- delikat! so was gibt's
jetzt gar nimmer; Donnerstag Leberwurst mit Kraut, schon super! Freitag
mein miller's Karpfenstückl, wenigstens ein halb Pfund, Samstag ein Jung¬
schweinernes, Sö, das war ein Bissen! und Sonntag ich und meine Alte unser
Backhendl mit Zellersalat. Das war wie Amen im Gebet . . ." Aber heute
weiß so ein Kellner gar nicht mehr Bescheid. Dafür sind die Lokale eleganter
geworden, und langweilige Zeitungen liegen aus. "Was brauch' ich in ein'
Wirtshaus ein' Zeitung!? Wenn nur 's Bier und der Wein gut is! Ich
les' 's ganze Jahr kein' Zeitung. Steht ja eh nix drin als Lügen! ... Die
Meinige halt sich's Extrablattl wegen die Bild'in, und weil mein Ferdl die
Rebus so gern hat. Zum G'schichtenlesen hab'n nur kein' Zeit. . . . Über¬
haupt: das viele sentier'n, das viele Bücherlesen -- ich halt ax davon! . . .
Mit die ganzen Fixen-Faxen in die neuchen Volksschulen, hab'n in'r was
davon? Is 's Fleisch billiger word'n? ..." Schließlich wird der neue Wirtshaus¬
freund zu einem "Löffel Suppe" eingeladen, um dann im Hause des "Gemüt¬
lichen" derart empfangen zu werden: "Also richtig! . . . Mir hab'n dich nicht


Zwischen Alt- und Neu-Wie»

Weichherzigkeit sich mit Brutalität allzu gut vertrüge, den völlig interesselos
animalisch Vergnügten. In diesen Familien „Biz" und „Grammerstädter" sieht
er das eigentliche Bleigewicht an den Sohlen seiner Vaterstadt und vielleicht
seines Vaterlandes, im Kampf gegen diese Gemütlichkeit erreicht er seine eigent¬
liche künstlerische Vollendung. Hier nämlich kämpft der bescheidene Feuilletonist
als echter satirischer Dichter; das bloße Berichterstatter unterbleibt, das störende
Moralisieren wird zum mindesten eingeschränkt; die Leute handeln und reden
selber, so daß man unmittelbar an ihrem Leben teilnimmt, unmittelbar von
ihrer Lächerlichkeit, doch auch von ihrer Gefährlichkeit überzeugt wird. In der
Schenke, im Cas6, seltener, weil sie dort seltener sind, zu Haus, beim Trinken,
Spielen, Politisieren, Beten, im Theater, in der freien Natur, in ihren ehelichen
Verhältnissen, ihren pädagogischen Künsten — allüberall beobachtet schlüge die
Leute des heilig gehaltenen Dogmas: „Wir können's eh nit ändern!", des
goldenen Lehrsatzes: „Sie wer'n's schon machen!", der glücklichen Lebensregel:
„Nur ka Traurigkeit g'Spur'n lassen" und des alle Schwierigkeiten überwindenden
Entschlusses: „Unterhalten in'r uns lieber!"

In einer längeren Skizzenreihe beschreibt er das Werden und Vergehen
einer Freundschaft mit solch einem typischen Philister. („Acht Wochen mit einem
echten .Spießer'.") Im Wirtshaus erfolgt die Annäherung. Der Mann hat
viel getrunken und wird red- und rührselig. Sein schönes, altes, vormärzliches
Wien ist hin. „Mich g'freut's nimmer in Wien. . . . Gemütlichkeit ist die
Hauptsach' auf der Welt! Über Gemütlichkeit geht gar nix! Wo finden sie heut¬
zutage Gemütlichkeit? . . ." In mancher Abendsitzung erzählt der Unglückliche
nun vom schönen Damals und klagt das Heute an. Ja damals ist der
Stammgast nicht erst gefragt worden, „was ihm g'fatti is," sondern hat gleich
sein „Sach ort'neues kriegt". „Montag ein sein's Bäuscherl mit Knötel,
Dienstag backene Kalbsfuß. Mittwoch Schunkenfleckerln — delikat! so was gibt's
jetzt gar nimmer; Donnerstag Leberwurst mit Kraut, schon super! Freitag
mein miller's Karpfenstückl, wenigstens ein halb Pfund, Samstag ein Jung¬
schweinernes, Sö, das war ein Bissen! und Sonntag ich und meine Alte unser
Backhendl mit Zellersalat. Das war wie Amen im Gebet . . ." Aber heute
weiß so ein Kellner gar nicht mehr Bescheid. Dafür sind die Lokale eleganter
geworden, und langweilige Zeitungen liegen aus. „Was brauch' ich in ein'
Wirtshaus ein' Zeitung!? Wenn nur 's Bier und der Wein gut is! Ich
les' 's ganze Jahr kein' Zeitung. Steht ja eh nix drin als Lügen! ... Die
Meinige halt sich's Extrablattl wegen die Bild'in, und weil mein Ferdl die
Rebus so gern hat. Zum G'schichtenlesen hab'n nur kein' Zeit. . . . Über¬
haupt: das viele sentier'n, das viele Bücherlesen — ich halt ax davon! . . .
Mit die ganzen Fixen-Faxen in die neuchen Volksschulen, hab'n in'r was
davon? Is 's Fleisch billiger word'n? ..." Schließlich wird der neue Wirtshaus¬
freund zu einem „Löffel Suppe" eingeladen, um dann im Hause des „Gemüt¬
lichen" derart empfangen zu werden: „Also richtig! . . . Mir hab'n dich nicht


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[0233] Zwischen Alt- und Neu-Wie» Weichherzigkeit sich mit Brutalität allzu gut vertrüge, den völlig interesselos animalisch Vergnügten. In diesen Familien „Biz" und „Grammerstädter" sieht er das eigentliche Bleigewicht an den Sohlen seiner Vaterstadt und vielleicht seines Vaterlandes, im Kampf gegen diese Gemütlichkeit erreicht er seine eigent¬ liche künstlerische Vollendung. Hier nämlich kämpft der bescheidene Feuilletonist als echter satirischer Dichter; das bloße Berichterstatter unterbleibt, das störende Moralisieren wird zum mindesten eingeschränkt; die Leute handeln und reden selber, so daß man unmittelbar an ihrem Leben teilnimmt, unmittelbar von ihrer Lächerlichkeit, doch auch von ihrer Gefährlichkeit überzeugt wird. In der Schenke, im Cas6, seltener, weil sie dort seltener sind, zu Haus, beim Trinken, Spielen, Politisieren, Beten, im Theater, in der freien Natur, in ihren ehelichen Verhältnissen, ihren pädagogischen Künsten — allüberall beobachtet schlüge die Leute des heilig gehaltenen Dogmas: „Wir können's eh nit ändern!", des goldenen Lehrsatzes: „Sie wer'n's schon machen!", der glücklichen Lebensregel: „Nur ka Traurigkeit g'Spur'n lassen" und des alle Schwierigkeiten überwindenden Entschlusses: „Unterhalten in'r uns lieber!" In einer längeren Skizzenreihe beschreibt er das Werden und Vergehen einer Freundschaft mit solch einem typischen Philister. („Acht Wochen mit einem echten .Spießer'.") Im Wirtshaus erfolgt die Annäherung. Der Mann hat viel getrunken und wird red- und rührselig. Sein schönes, altes, vormärzliches Wien ist hin. „Mich g'freut's nimmer in Wien. . . . Gemütlichkeit ist die Hauptsach' auf der Welt! Über Gemütlichkeit geht gar nix! Wo finden sie heut¬ zutage Gemütlichkeit? . . ." In mancher Abendsitzung erzählt der Unglückliche nun vom schönen Damals und klagt das Heute an. Ja damals ist der Stammgast nicht erst gefragt worden, „was ihm g'fatti is," sondern hat gleich sein „Sach ort'neues kriegt". „Montag ein sein's Bäuscherl mit Knötel, Dienstag backene Kalbsfuß. Mittwoch Schunkenfleckerln — delikat! so was gibt's jetzt gar nimmer; Donnerstag Leberwurst mit Kraut, schon super! Freitag mein miller's Karpfenstückl, wenigstens ein halb Pfund, Samstag ein Jung¬ schweinernes, Sö, das war ein Bissen! und Sonntag ich und meine Alte unser Backhendl mit Zellersalat. Das war wie Amen im Gebet . . ." Aber heute weiß so ein Kellner gar nicht mehr Bescheid. Dafür sind die Lokale eleganter geworden, und langweilige Zeitungen liegen aus. „Was brauch' ich in ein' Wirtshaus ein' Zeitung!? Wenn nur 's Bier und der Wein gut is! Ich les' 's ganze Jahr kein' Zeitung. Steht ja eh nix drin als Lügen! ... Die Meinige halt sich's Extrablattl wegen die Bild'in, und weil mein Ferdl die Rebus so gern hat. Zum G'schichtenlesen hab'n nur kein' Zeit. . . . Über¬ haupt: das viele sentier'n, das viele Bücherlesen — ich halt ax davon! . . . Mit die ganzen Fixen-Faxen in die neuchen Volksschulen, hab'n in'r was davon? Is 's Fleisch billiger word'n? ..." Schließlich wird der neue Wirtshaus¬ freund zu einem „Löffel Suppe" eingeladen, um dann im Hause des „Gemüt¬ lichen" derart empfangen zu werden: „Also richtig! . . . Mir hab'n dich nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/233>, abgerufen am 29.12.2024.