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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Georg Simmel

Seiten hin wird das Erlebnis, das auf eine einfache gedankliche oder begriff¬
liche Form gebracht ist, gewendet und geworfen. Alle logischen Beziehungs¬
möglichkeiten, die darin schlummern, werden mit durchdringender Schärfe und
Konsequenz herausgeholt, historische Zusammenhänge, Ausblicke in Vergangen¬
heit und Gegenwart, Perspektiven in die Zukunft eingestreut. Wie die Figuren
eines Dramas, so erwachsen hier die Begriffe und Thesen. Glaubt man nach
den mannigfachsten Lichtern, die so Simmel auf den Gegenstand geworfen, es
sei nun alles Notwendige und Mögliche gesagt, so überrascht er im nächsten
Augenblick durch eine neue gedankliche Nuance, die sein Verstand entdeckt. So
steht Simmel gleichsam wie ein Jongleur mit Gedanken auf dem Katheder!
Zur Erläuterung möchte ich anführen, wie er z. B. Fichtes Philosophie doziert.
Er arbeitet zunächst den Begriff der Aktivität als den wesentlichsten in Fichtes
System heraus, kümmert sich nicht im geringsten darum, wie Fichte diesen
Begriff entstehen läßt, welche Bedeutung und welchen Inhalt ihm Fichte gibt,
sondern hat nur das eine Ziel, den Begriff des aktiven Ichs in all den
schillernden Farben zu malen, in denen er seinem Geiste erscheint. Oder er
spricht über moderne Ethik. Da werden zwei bedeutende Probleme, Individualismus
und Sozialismus, vorweggenommen und mit Nichtachtung aller der tatsächlichen
Formen, die beide Begriffe in unseren Tagen angenommen haben, in ihren
bleibenden, apriorischen, gewissermaßen logisch notwendigen Beziehungen variiert.
Ähnlich liegt es ihm auch bei seiner Darstellung von Kants Lehre fern, die
historischen Zusammenhänge, die Entwicklung, das Biographische herauszuarbeiten.
Der Individualismus wird als wesentlichster Inhalt in Kants Philosophie
behauptet, abgeleitet und verteidigt.

Man sieht, es ist im Grunde dieses Philosophieren Simmels, das eine
merkwürdige Verknüpfung ästhetischer und logischer Fähigkeiten bedeutet, nichts
anderes als dieselbe Tätigkeit, wie sie der Kritiker ausübt. Und man möchte
Simmel darum einen in die Philosophie verirrten Kritiker nennen. Wie ja
andererseits die Vielseitigkeit seiner großen Interessensphären sich daraus erklärt.
Ihn beschäftigen nur die Dinge insoweit, als sie seinem Geist Anlaß zu logischen
Operationen gewähren, und das können natürlich alle Dinge des Lebens und
des Geistes aus Vergangenheit und Gegenwart gewähren. So könnte man
sagen, Simmel kann deswegen über so viele Dinge schreiben, weil es so viele
Dinge gibt. Und endlich scheint nur seine Art des Philosophierens äußerst
bemerkenswert für die Rasse Simmeis. Die beiden vornehmlichen Seiten des
jüdischen Volkes, die ästhetische Empfänglichkeit und die logische Schärfe, haben
sich in ihm in einer besonders eigenartigen, beide Teile in seltenem Gleichmaß
enthaltenden Mischung bewahrt und erneuert.

Es geht uns mit der Simmelschen Philosophie wie mit einem Narkotikum:
sie hat einen Ernüchterungszustand im Gefolge! In diesen Stunden der Besinnung
über die Eindrücke, denen nur hingegeben, und über den eigentlichen, wesent¬
lichem Inhalt dieser Eindrücke empfinden wir den bitteren Nachgeschmack der


Georg Simmel

Seiten hin wird das Erlebnis, das auf eine einfache gedankliche oder begriff¬
liche Form gebracht ist, gewendet und geworfen. Alle logischen Beziehungs¬
möglichkeiten, die darin schlummern, werden mit durchdringender Schärfe und
Konsequenz herausgeholt, historische Zusammenhänge, Ausblicke in Vergangen¬
heit und Gegenwart, Perspektiven in die Zukunft eingestreut. Wie die Figuren
eines Dramas, so erwachsen hier die Begriffe und Thesen. Glaubt man nach
den mannigfachsten Lichtern, die so Simmel auf den Gegenstand geworfen, es
sei nun alles Notwendige und Mögliche gesagt, so überrascht er im nächsten
Augenblick durch eine neue gedankliche Nuance, die sein Verstand entdeckt. So
steht Simmel gleichsam wie ein Jongleur mit Gedanken auf dem Katheder!
Zur Erläuterung möchte ich anführen, wie er z. B. Fichtes Philosophie doziert.
Er arbeitet zunächst den Begriff der Aktivität als den wesentlichsten in Fichtes
System heraus, kümmert sich nicht im geringsten darum, wie Fichte diesen
Begriff entstehen läßt, welche Bedeutung und welchen Inhalt ihm Fichte gibt,
sondern hat nur das eine Ziel, den Begriff des aktiven Ichs in all den
schillernden Farben zu malen, in denen er seinem Geiste erscheint. Oder er
spricht über moderne Ethik. Da werden zwei bedeutende Probleme, Individualismus
und Sozialismus, vorweggenommen und mit Nichtachtung aller der tatsächlichen
Formen, die beide Begriffe in unseren Tagen angenommen haben, in ihren
bleibenden, apriorischen, gewissermaßen logisch notwendigen Beziehungen variiert.
Ähnlich liegt es ihm auch bei seiner Darstellung von Kants Lehre fern, die
historischen Zusammenhänge, die Entwicklung, das Biographische herauszuarbeiten.
Der Individualismus wird als wesentlichster Inhalt in Kants Philosophie
behauptet, abgeleitet und verteidigt.

Man sieht, es ist im Grunde dieses Philosophieren Simmels, das eine
merkwürdige Verknüpfung ästhetischer und logischer Fähigkeiten bedeutet, nichts
anderes als dieselbe Tätigkeit, wie sie der Kritiker ausübt. Und man möchte
Simmel darum einen in die Philosophie verirrten Kritiker nennen. Wie ja
andererseits die Vielseitigkeit seiner großen Interessensphären sich daraus erklärt.
Ihn beschäftigen nur die Dinge insoweit, als sie seinem Geist Anlaß zu logischen
Operationen gewähren, und das können natürlich alle Dinge des Lebens und
des Geistes aus Vergangenheit und Gegenwart gewähren. So könnte man
sagen, Simmel kann deswegen über so viele Dinge schreiben, weil es so viele
Dinge gibt. Und endlich scheint nur seine Art des Philosophierens äußerst
bemerkenswert für die Rasse Simmeis. Die beiden vornehmlichen Seiten des
jüdischen Volkes, die ästhetische Empfänglichkeit und die logische Schärfe, haben
sich in ihm in einer besonders eigenartigen, beide Teile in seltenem Gleichmaß
enthaltenden Mischung bewahrt und erneuert.

Es geht uns mit der Simmelschen Philosophie wie mit einem Narkotikum:
sie hat einen Ernüchterungszustand im Gefolge! In diesen Stunden der Besinnung
über die Eindrücke, denen nur hingegeben, und über den eigentlichen, wesent¬
lichem Inhalt dieser Eindrücke empfinden wir den bitteren Nachgeschmack der


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[0203] Georg Simmel Seiten hin wird das Erlebnis, das auf eine einfache gedankliche oder begriff¬ liche Form gebracht ist, gewendet und geworfen. Alle logischen Beziehungs¬ möglichkeiten, die darin schlummern, werden mit durchdringender Schärfe und Konsequenz herausgeholt, historische Zusammenhänge, Ausblicke in Vergangen¬ heit und Gegenwart, Perspektiven in die Zukunft eingestreut. Wie die Figuren eines Dramas, so erwachsen hier die Begriffe und Thesen. Glaubt man nach den mannigfachsten Lichtern, die so Simmel auf den Gegenstand geworfen, es sei nun alles Notwendige und Mögliche gesagt, so überrascht er im nächsten Augenblick durch eine neue gedankliche Nuance, die sein Verstand entdeckt. So steht Simmel gleichsam wie ein Jongleur mit Gedanken auf dem Katheder! Zur Erläuterung möchte ich anführen, wie er z. B. Fichtes Philosophie doziert. Er arbeitet zunächst den Begriff der Aktivität als den wesentlichsten in Fichtes System heraus, kümmert sich nicht im geringsten darum, wie Fichte diesen Begriff entstehen läßt, welche Bedeutung und welchen Inhalt ihm Fichte gibt, sondern hat nur das eine Ziel, den Begriff des aktiven Ichs in all den schillernden Farben zu malen, in denen er seinem Geiste erscheint. Oder er spricht über moderne Ethik. Da werden zwei bedeutende Probleme, Individualismus und Sozialismus, vorweggenommen und mit Nichtachtung aller der tatsächlichen Formen, die beide Begriffe in unseren Tagen angenommen haben, in ihren bleibenden, apriorischen, gewissermaßen logisch notwendigen Beziehungen variiert. Ähnlich liegt es ihm auch bei seiner Darstellung von Kants Lehre fern, die historischen Zusammenhänge, die Entwicklung, das Biographische herauszuarbeiten. Der Individualismus wird als wesentlichster Inhalt in Kants Philosophie behauptet, abgeleitet und verteidigt. Man sieht, es ist im Grunde dieses Philosophieren Simmels, das eine merkwürdige Verknüpfung ästhetischer und logischer Fähigkeiten bedeutet, nichts anderes als dieselbe Tätigkeit, wie sie der Kritiker ausübt. Und man möchte Simmel darum einen in die Philosophie verirrten Kritiker nennen. Wie ja andererseits die Vielseitigkeit seiner großen Interessensphären sich daraus erklärt. Ihn beschäftigen nur die Dinge insoweit, als sie seinem Geist Anlaß zu logischen Operationen gewähren, und das können natürlich alle Dinge des Lebens und des Geistes aus Vergangenheit und Gegenwart gewähren. So könnte man sagen, Simmel kann deswegen über so viele Dinge schreiben, weil es so viele Dinge gibt. Und endlich scheint nur seine Art des Philosophierens äußerst bemerkenswert für die Rasse Simmeis. Die beiden vornehmlichen Seiten des jüdischen Volkes, die ästhetische Empfänglichkeit und die logische Schärfe, haben sich in ihm in einer besonders eigenartigen, beide Teile in seltenem Gleichmaß enthaltenden Mischung bewahrt und erneuert. Es geht uns mit der Simmelschen Philosophie wie mit einem Narkotikum: sie hat einen Ernüchterungszustand im Gefolge! In diesen Stunden der Besinnung über die Eindrücke, denen nur hingegeben, und über den eigentlichen, wesent¬ lichem Inhalt dieser Eindrücke empfinden wir den bitteren Nachgeschmack der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/203>, abgerufen am 24.07.2024.