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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Georg Simmel

starken Erlebniskraft, die so dem Vortrage innewohnt. Sein Stil hat nichts
an sich von der Leichtigkeit, Behendigkeit, Kürze der heute Schreibenden. Alter¬
tümlich, in unendlichen, geschachtelten Perioden, gespickt mit Fremdwörtern,
reich an Verrenkungen und seltsamen Wendungen schleichen sich seine Sätze dahin.
Und doch ruht -- ähnlich wie über Hegels Stil -- ein gewisser ästhetischer
Reiz auf ihnen.

Aus alledem geht hervor, daß es einmal an der Zeit ist, mit dein Phänomen
Simmel sich auseinanderzusetzen, den Grund, das Wesen und die Berechtigung
der Wirksamkeit dieses fast allmächtigen Geistes zu prüfen.

Simmel nimmt eine völlig isolierte Stellung ein unter den Philosophen
unserer Zeit. Obschon von feinster Empfindlichkeit für seelische Dinge, hält er
sich fern von der experimentellen Methode der modernen Psychologen, die ihm
zu grob und handwerksmäßig ist. Obschon von stärkster Empfänglichkeit für die
Anschauungen der großen Philosophen der Vergangenheit, meidet er die strenge
Sachlichkeit der heutigen Historiker der Philosophie, die um das Aufdecken der
Systeme früherer Zeiten und ihrer Zusammenhänge sich bemühen. Obschon ein
Dialektiker ersten Ranges, befriedigt ihn nicht die moderne Logik, da sie sein
metaphysisches und ethisches Bedürfnis ungestillt läßt. Und doch greifen Simmels
Arbeiten in all diese Gebiete hinein. Seine Vorlesungen und Schriften quellen
über von psychologischen Einsichten und logischen Erkenntnissen. Kant hat er
eine größere Studie, Schopenhauer und Nietzsche ein umfangreiches Werk
gewidmet. Über Ethik liest er ein tiefdringendes Kolleg und verbreitet sich in
mehreren Skizzen über Probleme des sittlichen Lebens. Vor allein einzigartig aber
steht er da mit seiner "Philosophie des Geldes". Dies Buch bedeutet nicht weniger
als den ersten Versuch eines deutschen Philosophen, den Problemen unseres
wirtschaftlichen Lebens auf ihre letzten Gründe zu kommen. Wenn man Simmel
überhaupt einreihen will, so muß man es unter die Bcgriffsdichter zu Beginn
des neunzehnten Jahrhunderts tun. Ich denke an Schelling und Schopenhauer,
so sehr freilich ein fundamentaler Unterschied ihn auch von diesen trennt.

Simmels ganzes Schaffen geht aus vom Erlebnis. Mit einer Art künst¬
lerischer Reizbarkeit geht er an die Dinge heran und fordert von ihnen ein
Erlebnis. Es gilt ihm gleich, ob es sich dabei um das System eines Philo¬
sophen, um eine Streitfrage der Gegenwart, um einen künstlerischen Gegenstand,
um einen Begriff handelt. Und ebenso ist dabei die Absicht Voraussetzung,
ohne jegliche Rücksicht auf das, was andere über sein Objekt gedacht haben,
seinen eigenen, unbeeinflußten Eindruck zu erwarten. Ja, nicht selten leitet ihn
das bis zur Sucht sich steigernde Bestreben, zu recht ungewöhnlichen, über¬
raschenden Auffassungen zu kommen. Hat nun der Eindruck, das Erlebnis sich
eingestellt, dann steht es als unveränderliches, unumstößliches Faktum fest.
Unbekümmert, ob richtig oder falsch, wird es von ihm mit aller Zähigkeit fest¬
gehalten. Es beginnt jetzt die Arbeit des Denkers! Und hier zeigt sich nun
mit aller Eindringlichkeit Simmels grandiose Fähigkeit der Analyse. Nach allen


Georg Simmel

starken Erlebniskraft, die so dem Vortrage innewohnt. Sein Stil hat nichts
an sich von der Leichtigkeit, Behendigkeit, Kürze der heute Schreibenden. Alter¬
tümlich, in unendlichen, geschachtelten Perioden, gespickt mit Fremdwörtern,
reich an Verrenkungen und seltsamen Wendungen schleichen sich seine Sätze dahin.
Und doch ruht — ähnlich wie über Hegels Stil — ein gewisser ästhetischer
Reiz auf ihnen.

Aus alledem geht hervor, daß es einmal an der Zeit ist, mit dein Phänomen
Simmel sich auseinanderzusetzen, den Grund, das Wesen und die Berechtigung
der Wirksamkeit dieses fast allmächtigen Geistes zu prüfen.

Simmel nimmt eine völlig isolierte Stellung ein unter den Philosophen
unserer Zeit. Obschon von feinster Empfindlichkeit für seelische Dinge, hält er
sich fern von der experimentellen Methode der modernen Psychologen, die ihm
zu grob und handwerksmäßig ist. Obschon von stärkster Empfänglichkeit für die
Anschauungen der großen Philosophen der Vergangenheit, meidet er die strenge
Sachlichkeit der heutigen Historiker der Philosophie, die um das Aufdecken der
Systeme früherer Zeiten und ihrer Zusammenhänge sich bemühen. Obschon ein
Dialektiker ersten Ranges, befriedigt ihn nicht die moderne Logik, da sie sein
metaphysisches und ethisches Bedürfnis ungestillt läßt. Und doch greifen Simmels
Arbeiten in all diese Gebiete hinein. Seine Vorlesungen und Schriften quellen
über von psychologischen Einsichten und logischen Erkenntnissen. Kant hat er
eine größere Studie, Schopenhauer und Nietzsche ein umfangreiches Werk
gewidmet. Über Ethik liest er ein tiefdringendes Kolleg und verbreitet sich in
mehreren Skizzen über Probleme des sittlichen Lebens. Vor allein einzigartig aber
steht er da mit seiner „Philosophie des Geldes". Dies Buch bedeutet nicht weniger
als den ersten Versuch eines deutschen Philosophen, den Problemen unseres
wirtschaftlichen Lebens auf ihre letzten Gründe zu kommen. Wenn man Simmel
überhaupt einreihen will, so muß man es unter die Bcgriffsdichter zu Beginn
des neunzehnten Jahrhunderts tun. Ich denke an Schelling und Schopenhauer,
so sehr freilich ein fundamentaler Unterschied ihn auch von diesen trennt.

Simmels ganzes Schaffen geht aus vom Erlebnis. Mit einer Art künst¬
lerischer Reizbarkeit geht er an die Dinge heran und fordert von ihnen ein
Erlebnis. Es gilt ihm gleich, ob es sich dabei um das System eines Philo¬
sophen, um eine Streitfrage der Gegenwart, um einen künstlerischen Gegenstand,
um einen Begriff handelt. Und ebenso ist dabei die Absicht Voraussetzung,
ohne jegliche Rücksicht auf das, was andere über sein Objekt gedacht haben,
seinen eigenen, unbeeinflußten Eindruck zu erwarten. Ja, nicht selten leitet ihn
das bis zur Sucht sich steigernde Bestreben, zu recht ungewöhnlichen, über¬
raschenden Auffassungen zu kommen. Hat nun der Eindruck, das Erlebnis sich
eingestellt, dann steht es als unveränderliches, unumstößliches Faktum fest.
Unbekümmert, ob richtig oder falsch, wird es von ihm mit aller Zähigkeit fest¬
gehalten. Es beginnt jetzt die Arbeit des Denkers! Und hier zeigt sich nun
mit aller Eindringlichkeit Simmels grandiose Fähigkeit der Analyse. Nach allen


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[0202] Georg Simmel starken Erlebniskraft, die so dem Vortrage innewohnt. Sein Stil hat nichts an sich von der Leichtigkeit, Behendigkeit, Kürze der heute Schreibenden. Alter¬ tümlich, in unendlichen, geschachtelten Perioden, gespickt mit Fremdwörtern, reich an Verrenkungen und seltsamen Wendungen schleichen sich seine Sätze dahin. Und doch ruht — ähnlich wie über Hegels Stil — ein gewisser ästhetischer Reiz auf ihnen. Aus alledem geht hervor, daß es einmal an der Zeit ist, mit dein Phänomen Simmel sich auseinanderzusetzen, den Grund, das Wesen und die Berechtigung der Wirksamkeit dieses fast allmächtigen Geistes zu prüfen. Simmel nimmt eine völlig isolierte Stellung ein unter den Philosophen unserer Zeit. Obschon von feinster Empfindlichkeit für seelische Dinge, hält er sich fern von der experimentellen Methode der modernen Psychologen, die ihm zu grob und handwerksmäßig ist. Obschon von stärkster Empfänglichkeit für die Anschauungen der großen Philosophen der Vergangenheit, meidet er die strenge Sachlichkeit der heutigen Historiker der Philosophie, die um das Aufdecken der Systeme früherer Zeiten und ihrer Zusammenhänge sich bemühen. Obschon ein Dialektiker ersten Ranges, befriedigt ihn nicht die moderne Logik, da sie sein metaphysisches und ethisches Bedürfnis ungestillt läßt. Und doch greifen Simmels Arbeiten in all diese Gebiete hinein. Seine Vorlesungen und Schriften quellen über von psychologischen Einsichten und logischen Erkenntnissen. Kant hat er eine größere Studie, Schopenhauer und Nietzsche ein umfangreiches Werk gewidmet. Über Ethik liest er ein tiefdringendes Kolleg und verbreitet sich in mehreren Skizzen über Probleme des sittlichen Lebens. Vor allein einzigartig aber steht er da mit seiner „Philosophie des Geldes". Dies Buch bedeutet nicht weniger als den ersten Versuch eines deutschen Philosophen, den Problemen unseres wirtschaftlichen Lebens auf ihre letzten Gründe zu kommen. Wenn man Simmel überhaupt einreihen will, so muß man es unter die Bcgriffsdichter zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts tun. Ich denke an Schelling und Schopenhauer, so sehr freilich ein fundamentaler Unterschied ihn auch von diesen trennt. Simmels ganzes Schaffen geht aus vom Erlebnis. Mit einer Art künst¬ lerischer Reizbarkeit geht er an die Dinge heran und fordert von ihnen ein Erlebnis. Es gilt ihm gleich, ob es sich dabei um das System eines Philo¬ sophen, um eine Streitfrage der Gegenwart, um einen künstlerischen Gegenstand, um einen Begriff handelt. Und ebenso ist dabei die Absicht Voraussetzung, ohne jegliche Rücksicht auf das, was andere über sein Objekt gedacht haben, seinen eigenen, unbeeinflußten Eindruck zu erwarten. Ja, nicht selten leitet ihn das bis zur Sucht sich steigernde Bestreben, zu recht ungewöhnlichen, über¬ raschenden Auffassungen zu kommen. Hat nun der Eindruck, das Erlebnis sich eingestellt, dann steht es als unveränderliches, unumstößliches Faktum fest. Unbekümmert, ob richtig oder falsch, wird es von ihm mit aller Zähigkeit fest¬ gehalten. Es beginnt jetzt die Arbeit des Denkers! Und hier zeigt sich nun mit aller Eindringlichkeit Simmels grandiose Fähigkeit der Analyse. Nach allen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/202>, abgerufen am 28.12.2024.