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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren

Märchen", die schwüle Sommernacht der "Salome", die Kaschemmen-Atmosphäre
des "Nachtasyls" oder die Heide "Lears".

Hand in Hand mit der Neigung zum Koloristischen geht ein weiteres
Kennzeichen der Reinhardtschen Begabung: die vollendete Beherrschung und
Belebung der Massen. Wie er den Beruf des Bühnenmalers durch künstlerischen
Ernst und dnrch feinsinniges nachfühlen geadelt, wie er das scheinbar Unbelebte
zauberhaft belebt, wie er jeder Kulisse, jedem Versatzstück den Stempel seiner
immer von Geschmack und Kultur gesättigten Persönlichkeit aufgedrückt hat, so
ist er auf der anderen Seite der Reformator des Statistentums, des Chors im
weitesten Sinne geworden. Volksszenen, die seine Feldherrnhand spüren lassen,
sind, was Mannigfaltigkeit, Buntheit und Abgetöntheit anlangt, das Erstaun¬
lichste, was die Theatertechnik bisher hervorgebracht hat. Hier arbeitet er --
man kann beinahe sagen -- mit musikalischen Wirkungen; immer mit dem
Dirigentenstab in der Hand, bildet er eine vielköpfige Masse zu einem einzigen
Ganzen um. Er spielt auf den Gliedern dieses Organismus wie auf einem
wundervoll ausdrucksfähigen Instrument. Er läßt die Töne anschwellen und
leiser werden, zum markerschütternden Schrei sich steigern und zur dumpfen
Klage herabsinken. Jeder kleinen Choristin, die sich bisher nach dem alten
Rezept darauf beschränkte, mechanisch bald den rechten und bald den linken
Arm hochzuheben, stellt er eine persönliche und eigene Aufgabe. Er hält die
Massen wie an geheimen Drähten in der Hand -- ein Wink genügt, und sie
sind ihm und seinem souveränen Willen bedingungslos Untertan.

Das dritte wesentliche Merkmal der Reinhardtschen Regiekunst sehen wir
in der oben angedeuteten Fähigkeit, neue Stilarten feinhörig zu erfühlen und
bühnengemäß zum Ausdruck zu bringen. Die oft recht wunderliche Schar der
jüngstdeutschen Dramatiker wußte ganz genau, was sie tat, wenn sie in Max
Reinhardt ihren stärksten und treuesten Eideshelfer bejubelte. Keiner kam mit
größerer Bereitwilligkeit als er ihren mehr oder weniger problematischen Ideen
entgegen. Keiner war so empfänglich für alle scheinbar neuen Zeitströmungen,
hinter denen die Intellektuellen so etwas wie zukunftsträchtige Werte witterten.
Das hatte seine starken Vorzüge, aber, wie wir unten sehen werden, auch seine
unverkennbaren Nachteile. Vor allem aber: es gab der Bühne eine bisher
unerhört gewesene Expansionskraft. Es verhalf den unter traumhaften Visionen
hervorschimmernden Lyrismen der Maeterlinckschen Kunst zur vollendeten
Gestaltung, und es setzte so neue und so verblüffende literarische Werte
wie Frank Wedekind und Bernard Shaw sür die deutsche Bühne durch.
In erster Linie hundelt wir den Posten Frank Wedekind auf der Kreditseite
der Reinhardtschen Experimente. Mag man an sich über diese vielleicht
fesselndste Zeiterscheinung denken, wie man will: Reinhardt schuf dadurch,
daß er den "Erdgeist", "So ist das Leben" und später "Frühlingserwachen"
spielte, einen gänzlich neuen Stil in der Darstellung. Er fand den Ausdruck
für eine gespenstisch - groteske, marionettenhaft stilisierte, zwischen Tragik und


Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren

Märchen", die schwüle Sommernacht der „Salome", die Kaschemmen-Atmosphäre
des „Nachtasyls" oder die Heide „Lears".

Hand in Hand mit der Neigung zum Koloristischen geht ein weiteres
Kennzeichen der Reinhardtschen Begabung: die vollendete Beherrschung und
Belebung der Massen. Wie er den Beruf des Bühnenmalers durch künstlerischen
Ernst und dnrch feinsinniges nachfühlen geadelt, wie er das scheinbar Unbelebte
zauberhaft belebt, wie er jeder Kulisse, jedem Versatzstück den Stempel seiner
immer von Geschmack und Kultur gesättigten Persönlichkeit aufgedrückt hat, so
ist er auf der anderen Seite der Reformator des Statistentums, des Chors im
weitesten Sinne geworden. Volksszenen, die seine Feldherrnhand spüren lassen,
sind, was Mannigfaltigkeit, Buntheit und Abgetöntheit anlangt, das Erstaun¬
lichste, was die Theatertechnik bisher hervorgebracht hat. Hier arbeitet er —
man kann beinahe sagen — mit musikalischen Wirkungen; immer mit dem
Dirigentenstab in der Hand, bildet er eine vielköpfige Masse zu einem einzigen
Ganzen um. Er spielt auf den Gliedern dieses Organismus wie auf einem
wundervoll ausdrucksfähigen Instrument. Er läßt die Töne anschwellen und
leiser werden, zum markerschütternden Schrei sich steigern und zur dumpfen
Klage herabsinken. Jeder kleinen Choristin, die sich bisher nach dem alten
Rezept darauf beschränkte, mechanisch bald den rechten und bald den linken
Arm hochzuheben, stellt er eine persönliche und eigene Aufgabe. Er hält die
Massen wie an geheimen Drähten in der Hand — ein Wink genügt, und sie
sind ihm und seinem souveränen Willen bedingungslos Untertan.

Das dritte wesentliche Merkmal der Reinhardtschen Regiekunst sehen wir
in der oben angedeuteten Fähigkeit, neue Stilarten feinhörig zu erfühlen und
bühnengemäß zum Ausdruck zu bringen. Die oft recht wunderliche Schar der
jüngstdeutschen Dramatiker wußte ganz genau, was sie tat, wenn sie in Max
Reinhardt ihren stärksten und treuesten Eideshelfer bejubelte. Keiner kam mit
größerer Bereitwilligkeit als er ihren mehr oder weniger problematischen Ideen
entgegen. Keiner war so empfänglich für alle scheinbar neuen Zeitströmungen,
hinter denen die Intellektuellen so etwas wie zukunftsträchtige Werte witterten.
Das hatte seine starken Vorzüge, aber, wie wir unten sehen werden, auch seine
unverkennbaren Nachteile. Vor allem aber: es gab der Bühne eine bisher
unerhört gewesene Expansionskraft. Es verhalf den unter traumhaften Visionen
hervorschimmernden Lyrismen der Maeterlinckschen Kunst zur vollendeten
Gestaltung, und es setzte so neue und so verblüffende literarische Werte
wie Frank Wedekind und Bernard Shaw sür die deutsche Bühne durch.
In erster Linie hundelt wir den Posten Frank Wedekind auf der Kreditseite
der Reinhardtschen Experimente. Mag man an sich über diese vielleicht
fesselndste Zeiterscheinung denken, wie man will: Reinhardt schuf dadurch,
daß er den „Erdgeist", „So ist das Leben" und später „Frühlingserwachen"
spielte, einen gänzlich neuen Stil in der Darstellung. Er fand den Ausdruck
für eine gespenstisch - groteske, marionettenhaft stilisierte, zwischen Tragik und


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[0132] Deutsche Bühnenkunst in den letzten zwanzig Jahren Märchen", die schwüle Sommernacht der „Salome", die Kaschemmen-Atmosphäre des „Nachtasyls" oder die Heide „Lears". Hand in Hand mit der Neigung zum Koloristischen geht ein weiteres Kennzeichen der Reinhardtschen Begabung: die vollendete Beherrschung und Belebung der Massen. Wie er den Beruf des Bühnenmalers durch künstlerischen Ernst und dnrch feinsinniges nachfühlen geadelt, wie er das scheinbar Unbelebte zauberhaft belebt, wie er jeder Kulisse, jedem Versatzstück den Stempel seiner immer von Geschmack und Kultur gesättigten Persönlichkeit aufgedrückt hat, so ist er auf der anderen Seite der Reformator des Statistentums, des Chors im weitesten Sinne geworden. Volksszenen, die seine Feldherrnhand spüren lassen, sind, was Mannigfaltigkeit, Buntheit und Abgetöntheit anlangt, das Erstaun¬ lichste, was die Theatertechnik bisher hervorgebracht hat. Hier arbeitet er — man kann beinahe sagen — mit musikalischen Wirkungen; immer mit dem Dirigentenstab in der Hand, bildet er eine vielköpfige Masse zu einem einzigen Ganzen um. Er spielt auf den Gliedern dieses Organismus wie auf einem wundervoll ausdrucksfähigen Instrument. Er läßt die Töne anschwellen und leiser werden, zum markerschütternden Schrei sich steigern und zur dumpfen Klage herabsinken. Jeder kleinen Choristin, die sich bisher nach dem alten Rezept darauf beschränkte, mechanisch bald den rechten und bald den linken Arm hochzuheben, stellt er eine persönliche und eigene Aufgabe. Er hält die Massen wie an geheimen Drähten in der Hand — ein Wink genügt, und sie sind ihm und seinem souveränen Willen bedingungslos Untertan. Das dritte wesentliche Merkmal der Reinhardtschen Regiekunst sehen wir in der oben angedeuteten Fähigkeit, neue Stilarten feinhörig zu erfühlen und bühnengemäß zum Ausdruck zu bringen. Die oft recht wunderliche Schar der jüngstdeutschen Dramatiker wußte ganz genau, was sie tat, wenn sie in Max Reinhardt ihren stärksten und treuesten Eideshelfer bejubelte. Keiner kam mit größerer Bereitwilligkeit als er ihren mehr oder weniger problematischen Ideen entgegen. Keiner war so empfänglich für alle scheinbar neuen Zeitströmungen, hinter denen die Intellektuellen so etwas wie zukunftsträchtige Werte witterten. Das hatte seine starken Vorzüge, aber, wie wir unten sehen werden, auch seine unverkennbaren Nachteile. Vor allem aber: es gab der Bühne eine bisher unerhört gewesene Expansionskraft. Es verhalf den unter traumhaften Visionen hervorschimmernden Lyrismen der Maeterlinckschen Kunst zur vollendeten Gestaltung, und es setzte so neue und so verblüffende literarische Werte wie Frank Wedekind und Bernard Shaw sür die deutsche Bühne durch. In erster Linie hundelt wir den Posten Frank Wedekind auf der Kreditseite der Reinhardtschen Experimente. Mag man an sich über diese vielleicht fesselndste Zeiterscheinung denken, wie man will: Reinhardt schuf dadurch, daß er den „Erdgeist", „So ist das Leben" und später „Frühlingserwachen" spielte, einen gänzlich neuen Stil in der Darstellung. Er fand den Ausdruck für eine gespenstisch - groteske, marionettenhaft stilisierte, zwischen Tragik und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/132>, abgerufen am 29.12.2024.