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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Deutsche Bildnerkunst i" den letzten zwanzig Jahren

rüttelte. Er setzte eine Entwicklung, die an Inzucht und greisenhafter Schwäche
einzugehen drohte, mit frischen und unverbrauchter Kräften fort und sprang in
eine Lücke, die der starrköpfige Naturalismus nicht ausfüllen wollte und nicht
ausfüllen konnte. Brahm selber hatte resigniert und drehte sich fortwährend im
wenig gleichbleibenden Kreise. Reinhardt brachte in eine allgemeine Thcater-
depression Leben, Freude und Farbe und ließ das träge gewordene Blut wieder
rascher pulsieren. Er besaß genug künstlerische Unerschrockenheit und, wenn man
so will, auch genug Pietätlosigkeit, um geheiligte Traditionen umzustoßen und
auf das entsetzte Kopfschütteln der Philister zu pfeifen. Er kam vom Theater
und nicht aus den Hörsälen der Literatnrprofessoren. Er war Praktiker und
hielt sich nicht lange bei blassen Theorien auf.

Seine erste Parole hieß: Mehr Farbe. Die Kargheit und Freudlosigkeit
der Naturalistenbühne, die hart an Nüchternheit grenzte, sollte mit koloristischen
Wirkungen durchtränkt werden. Wichtiger als das nachzeichnen der einfachen
Linie war ihm die malerische Belebung der Nuance, die rhythmische Durchbildung
der Einzelheit. Das starre Naturalistendogma war sür das neugeschaffene
romantische Drama der Maeterlinck, Hofmannsthal und Beer-Hofmann und für
die artistischen Stilprobleme der Wilde, Wedekind, Shaw, Eulenberg und
Schmidtbonn nicht zu gebrauchen. An Stelle der rein äußerlich gefaßten "Lebens¬
wahrheit" trat eine poetische Wahrheit in höherem Sinne, der es weniger auf
das Photographieren der Wirklichkeit als auf innere Glaubhaftigkeit und Ver¬
lebendigung ankam.

So waren denn Reinhardts erste Taten recht eigentlich ein Sieg des
Malerischen über das Lineare. Wo die Meininger seinerzeit aufgehört hatten,
da setzte er wieder ein, nur mit dem Unterschiede, daß er, als Kind einer
neuen Zeit, ungleich stärker als seine Vorgänger die Nuance betonte. Die
dichterischen Stilversuche, deren Dolmetsch er wurde, waren an und für sich
stärker in der Analyse als in strenger und systematischer Architektonik, mehr auf
dünne, verfließende Stimmungen als auf handfeste und geradlinige Dramatik
gestellt. Sie brauchten für ihre nicht immer einwandfreien Zwecke dringend die
Unterstützung durch suggestive Bühnenbilder. Das rein Koloristische gewann
damit ganz von selbst eine neue Bedeutung für die dekorative Umrahmung der
Szene.

Das Koloristische in der Bühnenatmosphäre und das Durchsetze" des
dekorativen Elements ist denn anch bis ans den heutigen Tag Reinhardts
stärkste Leistung geblieben. Das verblüffend erfinderische Talent und der erlesene
Geschmack dieses Regisseurs haben gerade auf diesem Felde Wirkungen erzielt, die
man schon heute ohne Wertreibung grundlegend nennen darf -- trotz der Auswüchse,
die ein rastloser Ehrgeiz schließlich zeitigen mußte. Mit Entzücken hängt das
Auge immer wieder an den Reinhardtschen Bühnenbildern, die die zauberhaften
Stimmen des deutschen Waldes genau so lebendig machen wie das mittel¬
alterliche Venedig, die mythische Hirtenlandschaft aus Shakespeares "Winter-


Deutsche Bildnerkunst i» den letzten zwanzig Jahren

rüttelte. Er setzte eine Entwicklung, die an Inzucht und greisenhafter Schwäche
einzugehen drohte, mit frischen und unverbrauchter Kräften fort und sprang in
eine Lücke, die der starrköpfige Naturalismus nicht ausfüllen wollte und nicht
ausfüllen konnte. Brahm selber hatte resigniert und drehte sich fortwährend im
wenig gleichbleibenden Kreise. Reinhardt brachte in eine allgemeine Thcater-
depression Leben, Freude und Farbe und ließ das träge gewordene Blut wieder
rascher pulsieren. Er besaß genug künstlerische Unerschrockenheit und, wenn man
so will, auch genug Pietätlosigkeit, um geheiligte Traditionen umzustoßen und
auf das entsetzte Kopfschütteln der Philister zu pfeifen. Er kam vom Theater
und nicht aus den Hörsälen der Literatnrprofessoren. Er war Praktiker und
hielt sich nicht lange bei blassen Theorien auf.

Seine erste Parole hieß: Mehr Farbe. Die Kargheit und Freudlosigkeit
der Naturalistenbühne, die hart an Nüchternheit grenzte, sollte mit koloristischen
Wirkungen durchtränkt werden. Wichtiger als das nachzeichnen der einfachen
Linie war ihm die malerische Belebung der Nuance, die rhythmische Durchbildung
der Einzelheit. Das starre Naturalistendogma war sür das neugeschaffene
romantische Drama der Maeterlinck, Hofmannsthal und Beer-Hofmann und für
die artistischen Stilprobleme der Wilde, Wedekind, Shaw, Eulenberg und
Schmidtbonn nicht zu gebrauchen. An Stelle der rein äußerlich gefaßten „Lebens¬
wahrheit" trat eine poetische Wahrheit in höherem Sinne, der es weniger auf
das Photographieren der Wirklichkeit als auf innere Glaubhaftigkeit und Ver¬
lebendigung ankam.

So waren denn Reinhardts erste Taten recht eigentlich ein Sieg des
Malerischen über das Lineare. Wo die Meininger seinerzeit aufgehört hatten,
da setzte er wieder ein, nur mit dem Unterschiede, daß er, als Kind einer
neuen Zeit, ungleich stärker als seine Vorgänger die Nuance betonte. Die
dichterischen Stilversuche, deren Dolmetsch er wurde, waren an und für sich
stärker in der Analyse als in strenger und systematischer Architektonik, mehr auf
dünne, verfließende Stimmungen als auf handfeste und geradlinige Dramatik
gestellt. Sie brauchten für ihre nicht immer einwandfreien Zwecke dringend die
Unterstützung durch suggestive Bühnenbilder. Das rein Koloristische gewann
damit ganz von selbst eine neue Bedeutung für die dekorative Umrahmung der
Szene.

Das Koloristische in der Bühnenatmosphäre und das Durchsetze» des
dekorativen Elements ist denn anch bis ans den heutigen Tag Reinhardts
stärkste Leistung geblieben. Das verblüffend erfinderische Talent und der erlesene
Geschmack dieses Regisseurs haben gerade auf diesem Felde Wirkungen erzielt, die
man schon heute ohne Wertreibung grundlegend nennen darf — trotz der Auswüchse,
die ein rastloser Ehrgeiz schließlich zeitigen mußte. Mit Entzücken hängt das
Auge immer wieder an den Reinhardtschen Bühnenbildern, die die zauberhaften
Stimmen des deutschen Waldes genau so lebendig machen wie das mittel¬
alterliche Venedig, die mythische Hirtenlandschaft aus Shakespeares „Winter-


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[0131] Deutsche Bildnerkunst i» den letzten zwanzig Jahren rüttelte. Er setzte eine Entwicklung, die an Inzucht und greisenhafter Schwäche einzugehen drohte, mit frischen und unverbrauchter Kräften fort und sprang in eine Lücke, die der starrköpfige Naturalismus nicht ausfüllen wollte und nicht ausfüllen konnte. Brahm selber hatte resigniert und drehte sich fortwährend im wenig gleichbleibenden Kreise. Reinhardt brachte in eine allgemeine Thcater- depression Leben, Freude und Farbe und ließ das träge gewordene Blut wieder rascher pulsieren. Er besaß genug künstlerische Unerschrockenheit und, wenn man so will, auch genug Pietätlosigkeit, um geheiligte Traditionen umzustoßen und auf das entsetzte Kopfschütteln der Philister zu pfeifen. Er kam vom Theater und nicht aus den Hörsälen der Literatnrprofessoren. Er war Praktiker und hielt sich nicht lange bei blassen Theorien auf. Seine erste Parole hieß: Mehr Farbe. Die Kargheit und Freudlosigkeit der Naturalistenbühne, die hart an Nüchternheit grenzte, sollte mit koloristischen Wirkungen durchtränkt werden. Wichtiger als das nachzeichnen der einfachen Linie war ihm die malerische Belebung der Nuance, die rhythmische Durchbildung der Einzelheit. Das starre Naturalistendogma war sür das neugeschaffene romantische Drama der Maeterlinck, Hofmannsthal und Beer-Hofmann und für die artistischen Stilprobleme der Wilde, Wedekind, Shaw, Eulenberg und Schmidtbonn nicht zu gebrauchen. An Stelle der rein äußerlich gefaßten „Lebens¬ wahrheit" trat eine poetische Wahrheit in höherem Sinne, der es weniger auf das Photographieren der Wirklichkeit als auf innere Glaubhaftigkeit und Ver¬ lebendigung ankam. So waren denn Reinhardts erste Taten recht eigentlich ein Sieg des Malerischen über das Lineare. Wo die Meininger seinerzeit aufgehört hatten, da setzte er wieder ein, nur mit dem Unterschiede, daß er, als Kind einer neuen Zeit, ungleich stärker als seine Vorgänger die Nuance betonte. Die dichterischen Stilversuche, deren Dolmetsch er wurde, waren an und für sich stärker in der Analyse als in strenger und systematischer Architektonik, mehr auf dünne, verfließende Stimmungen als auf handfeste und geradlinige Dramatik gestellt. Sie brauchten für ihre nicht immer einwandfreien Zwecke dringend die Unterstützung durch suggestive Bühnenbilder. Das rein Koloristische gewann damit ganz von selbst eine neue Bedeutung für die dekorative Umrahmung der Szene. Das Koloristische in der Bühnenatmosphäre und das Durchsetze» des dekorativen Elements ist denn anch bis ans den heutigen Tag Reinhardts stärkste Leistung geblieben. Das verblüffend erfinderische Talent und der erlesene Geschmack dieses Regisseurs haben gerade auf diesem Felde Wirkungen erzielt, die man schon heute ohne Wertreibung grundlegend nennen darf — trotz der Auswüchse, die ein rastloser Ehrgeiz schließlich zeitigen mußte. Mit Entzücken hängt das Auge immer wieder an den Reinhardtschen Bühnenbildern, die die zauberhaften Stimmen des deutschen Waldes genau so lebendig machen wie das mittel¬ alterliche Venedig, die mythische Hirtenlandschaft aus Shakespeares „Winter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/131>, abgerufen am 24.07.2024.