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Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr.

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Rcichssxiegel

sind dann bei den nationalen Parteien erst aufgetaucht, als an die Stelle des
einzelnen Unternehmers in größerem Umfange die Aktiengesellschaft trat, die
nun schon zusammen mit der in ihrer Haftpflicht beschränkten Genossenschaft das
wirtschaftliche Leben beherrscht. Erst vor etwa sechs Jahren gingen die größten
Unternehmungen daran, die Arbeiter ihrer eigenen Werke zu organisieren.
Augsburg, das Grusonwerk, Siemers u. Hälfte machten mit gutem Erfolg den
Anfang. Doch blieb das seit dreißig und mehr Jahren genährte Mißtrauen
bestehen, und jeder organisierte Arbeiter oder Handwerker gilt in den oberen
Schichten einschließlich der Verwaltungsbeamten als Sozialdemokrat und damit
als vaterlandsloser Geselle. Die Wahlen von 1907 warfen da plötzlich ein
grelles Schlaglicht auf die wahre Gesinnung der deutschen Arbeiter. Als Fürst
Bülow nach dem furchtlosen Auftreten des Kolonialsekretärs Dernburg den
Reichstag heimschickte und die Parole lautete: gegen das Zentrum!, da verloren
die -- Sozialdemokraten eine ganze Reihe von Sitzen im Reichstage, und die
freien (sozialdemokratischen) Gewerkschaften, die noch im Jahre 1906 um
345100 Mitglieder zugenommen hatten, büßten im Jahre 1907 rund 33000
ein. Diese Erfahrung im Zusammenhang mit den Beobachtungen bei der
Truppe, mit der Tatsache, daß z. B. der Vorwärts nur unter Ausübung des
größten Zwanges die Zahl seiner Abonnenten vermehren kann, zwingen Politiker
und Parteien, ihre Stellung zur Arbeiterschaft einer gründlichen Revision zu
unterziehen und den Kampf gegen die Sozialdemokratie anders zu führen, als
wie es bisher geschehen.

Unter diesem Gesichtspunkt muß auch die Äußerung des Reichsboten bewertet
werden, selbst wenn sie nachträglich durch das Blatt erheblich eingeschränkt wird.
Sie läßt auf einen tiefen Bruch mit alten Anschauungen schließen und zeigt
erneut, daß tatsächlich in der Parole gegen den Ultramontanismus das einigende
Moment für das politische Leben der Gegenwart liegt. Wie groß die Gefahr
des Ultramontanismus wieder geworden ist, steht nach den Ereignissen von
1910 so klar vor aller Augen, daß es kaum noch eines Hinweises darauf
bedarf. Die Kritik, die Prinz Max von Sachsen an der Stellung der römischen
Kurie zur byzantinischen Kirche und zu den Umladen übte, lüftete noch einmal
den Schleier, der in den letzten Jahren über die letzten Absichten Roms künstlich
gewebt worden ist. Nach dem Wortlaut der ruthenischen Wochenschrift Djilo
(Lemberg, den 24. Dezember 1910) heißt es in dem viel erörterten Aufsatz des
prinzlichen Priesters "Gedanken über die Einigung der Kirchen": "Die römische
Kirche hat von jeher dazu geneigt, als Herrscherin aufzutreten; sie wollte der
griechischen Kirche ohne jede Rücksichtnahme eine Union aufdrängen, wie sie ihr
allein gut dünkte: ,Jch gebe die Gesetze, und wer die Union in der Form, die
ich vorschlage, nicht anerkennen will, der ist ein Gegner der Union' -- das ist
der Standpunkt der römischen Kirche. Die Union hat ihr im Grunde genommen
immer nur als eine Unterwerfung der unbotmäßigen griechischen Tochterkirche
gegolten. Der Westen braucht in keiner Beziehung nachzugeben und ist zu


Rcichssxiegel

sind dann bei den nationalen Parteien erst aufgetaucht, als an die Stelle des
einzelnen Unternehmers in größerem Umfange die Aktiengesellschaft trat, die
nun schon zusammen mit der in ihrer Haftpflicht beschränkten Genossenschaft das
wirtschaftliche Leben beherrscht. Erst vor etwa sechs Jahren gingen die größten
Unternehmungen daran, die Arbeiter ihrer eigenen Werke zu organisieren.
Augsburg, das Grusonwerk, Siemers u. Hälfte machten mit gutem Erfolg den
Anfang. Doch blieb das seit dreißig und mehr Jahren genährte Mißtrauen
bestehen, und jeder organisierte Arbeiter oder Handwerker gilt in den oberen
Schichten einschließlich der Verwaltungsbeamten als Sozialdemokrat und damit
als vaterlandsloser Geselle. Die Wahlen von 1907 warfen da plötzlich ein
grelles Schlaglicht auf die wahre Gesinnung der deutschen Arbeiter. Als Fürst
Bülow nach dem furchtlosen Auftreten des Kolonialsekretärs Dernburg den
Reichstag heimschickte und die Parole lautete: gegen das Zentrum!, da verloren
die — Sozialdemokraten eine ganze Reihe von Sitzen im Reichstage, und die
freien (sozialdemokratischen) Gewerkschaften, die noch im Jahre 1906 um
345100 Mitglieder zugenommen hatten, büßten im Jahre 1907 rund 33000
ein. Diese Erfahrung im Zusammenhang mit den Beobachtungen bei der
Truppe, mit der Tatsache, daß z. B. der Vorwärts nur unter Ausübung des
größten Zwanges die Zahl seiner Abonnenten vermehren kann, zwingen Politiker
und Parteien, ihre Stellung zur Arbeiterschaft einer gründlichen Revision zu
unterziehen und den Kampf gegen die Sozialdemokratie anders zu führen, als
wie es bisher geschehen.

Unter diesem Gesichtspunkt muß auch die Äußerung des Reichsboten bewertet
werden, selbst wenn sie nachträglich durch das Blatt erheblich eingeschränkt wird.
Sie läßt auf einen tiefen Bruch mit alten Anschauungen schließen und zeigt
erneut, daß tatsächlich in der Parole gegen den Ultramontanismus das einigende
Moment für das politische Leben der Gegenwart liegt. Wie groß die Gefahr
des Ultramontanismus wieder geworden ist, steht nach den Ereignissen von
1910 so klar vor aller Augen, daß es kaum noch eines Hinweises darauf
bedarf. Die Kritik, die Prinz Max von Sachsen an der Stellung der römischen
Kurie zur byzantinischen Kirche und zu den Umladen übte, lüftete noch einmal
den Schleier, der in den letzten Jahren über die letzten Absichten Roms künstlich
gewebt worden ist. Nach dem Wortlaut der ruthenischen Wochenschrift Djilo
(Lemberg, den 24. Dezember 1910) heißt es in dem viel erörterten Aufsatz des
prinzlichen Priesters „Gedanken über die Einigung der Kirchen": „Die römische
Kirche hat von jeher dazu geneigt, als Herrscherin aufzutreten; sie wollte der
griechischen Kirche ohne jede Rücksichtnahme eine Union aufdrängen, wie sie ihr
allein gut dünkte: ,Jch gebe die Gesetze, und wer die Union in der Form, die
ich vorschlage, nicht anerkennen will, der ist ein Gegner der Union' — das ist
der Standpunkt der römischen Kirche. Die Union hat ihr im Grunde genommen
immer nur als eine Unterwerfung der unbotmäßigen griechischen Tochterkirche
gegolten. Der Westen braucht in keiner Beziehung nachzugeben und ist zu


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 70, 1911, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341893_317612/112>, abgerufen am 24.07.2024.