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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Vskar Jäger

die Leitung dieser altehrwürdigen Schule zu übertrage", lehnte die Regierung
es ab, ihn zu bestätigen, weil das freimütige Hervortreten seiner selbständigen
politischen Denkart höheren Orts Anstoß erregt hatte. Schwer hat ihn die
Kränkung getroffen; aber sie wurde bald wieder gut gemacht. Wiese selbst
erschien in Mörs, um ihn in seiner Amtsführung näher kennen zu lernen und
ihm dann zu eröffnen, daß er zum Direktor des Königl. Friedrich-Wilhelm-
Gymnasiums in Köln ausersehen sei. Dieses Amt hat er dann 1865 über¬
nommen und mehr als ein Menschenalter hindurch verwaltet. Als kölnischer
Mann, als Lehrer und Erzieher rheinischer Jugend, als geistiges Haupt des
höheren Lehrerstandes der Rheinprovinz: so wird er den meisten der jetzt Lebenden
vor Augen bleiben.

Ungemein stark muß bis ins hohe Alter die Wirkung gewesen sein, die
im amtlichen Zusammenleben von seiner Persönlichkeit ausging und Mitarbeiter
wie Lernende in den Bann seiner Gedanken zog. Wie er den Beruf des Lehrers
und weiter des Direktors ansah und ausübte, hat er in jener köstlichen Aphorismen-
Sammlung "Aus der Praxis" dargelegt, die er im Jahre 1883 veröffentlichte
und im voraus sein "pädagogisches Testament" nannte. Unmittelbarer Zweck
der kleinen Schrift war der Kampf gegen die theoretische Pädagogik, die damals
unter der Firma Herbart-Ziller-Stör einen Hochstand erreicht hatte, und die
heute wieder in etwas veränderter Gestalt und unter neuen Männern sich breit
macht. Jäger war durchdrungen von der Einsicht, daß Pädagogik an sich nicht
eine Wissenschaft ist, sondern eine Kunst, die immer ihre stärksten Wurzeln im
Unbewußten hat. Was davon in Regeln gefaßt und so überliefert werden kann,
gehört dem Handwerk an und braucht nicht gering geschätzt zu werden; "Lehr¬
kunst und Lehrhandwerk", so hat Jäger selbst eine seiner späteren Schriften
genannt und schon im Titel angedeutet, wie der rechte Lehrer beide Seiten der
großen Aufgabe erkennen und pflegen soll. Aber das Geheimnis des Erfolges
liegt in einem starken persönlichen Können; und solches kann für eine höhere
Schule nur bei dein frei sich entwickeln, der in den Stoff seines Unterrichtes
mit selbständigem Suchen eingedrungen ist. k?em eene, verba ssquentur!
Deshalb sollen die angehenden Lehrer nicht sogenannte wissenschaftliche Pädagogik
studieren, sondern Philologie nud Geschichte, Mathematik und Naturwissenschaft.
Je tiefer sie sich da hineinwagen, je mehr sie lernen, mit eigner Hand ihren
Weg einzuschlagen, desto besser werden sie nachher Wege zu finden wissen, auf
denen sie ihre Schüler einführen können. Und das ist dann -- nicht die richtige,
denn die gibt es nicht, doch eine gute Methode, mannigfaltig und, wie alles
Lebendige, wechselnd, weil immer neu aus dein Stoffe sich entwickelnd, völlig
verschieden von der, die an den Stoff herangebracht wird, nachdem sie der
Theoretiker am Schreibtisch aus psychologischen Begriffen zurechtgemacht hat.

In der Pädagogik wie in jeder Kunst haben theoretische Erörterungen
dann einen Wert, wenn sie auf die Praxis folgen; vor allem da, wo einer
der Könnender selber sich dessen bewußt wird, was er, dem Naturtriebe nach-


Vskar Jäger

die Leitung dieser altehrwürdigen Schule zu übertrage», lehnte die Regierung
es ab, ihn zu bestätigen, weil das freimütige Hervortreten seiner selbständigen
politischen Denkart höheren Orts Anstoß erregt hatte. Schwer hat ihn die
Kränkung getroffen; aber sie wurde bald wieder gut gemacht. Wiese selbst
erschien in Mörs, um ihn in seiner Amtsführung näher kennen zu lernen und
ihm dann zu eröffnen, daß er zum Direktor des Königl. Friedrich-Wilhelm-
Gymnasiums in Köln ausersehen sei. Dieses Amt hat er dann 1865 über¬
nommen und mehr als ein Menschenalter hindurch verwaltet. Als kölnischer
Mann, als Lehrer und Erzieher rheinischer Jugend, als geistiges Haupt des
höheren Lehrerstandes der Rheinprovinz: so wird er den meisten der jetzt Lebenden
vor Augen bleiben.

Ungemein stark muß bis ins hohe Alter die Wirkung gewesen sein, die
im amtlichen Zusammenleben von seiner Persönlichkeit ausging und Mitarbeiter
wie Lernende in den Bann seiner Gedanken zog. Wie er den Beruf des Lehrers
und weiter des Direktors ansah und ausübte, hat er in jener köstlichen Aphorismen-
Sammlung „Aus der Praxis" dargelegt, die er im Jahre 1883 veröffentlichte
und im voraus sein „pädagogisches Testament" nannte. Unmittelbarer Zweck
der kleinen Schrift war der Kampf gegen die theoretische Pädagogik, die damals
unter der Firma Herbart-Ziller-Stör einen Hochstand erreicht hatte, und die
heute wieder in etwas veränderter Gestalt und unter neuen Männern sich breit
macht. Jäger war durchdrungen von der Einsicht, daß Pädagogik an sich nicht
eine Wissenschaft ist, sondern eine Kunst, die immer ihre stärksten Wurzeln im
Unbewußten hat. Was davon in Regeln gefaßt und so überliefert werden kann,
gehört dem Handwerk an und braucht nicht gering geschätzt zu werden; „Lehr¬
kunst und Lehrhandwerk", so hat Jäger selbst eine seiner späteren Schriften
genannt und schon im Titel angedeutet, wie der rechte Lehrer beide Seiten der
großen Aufgabe erkennen und pflegen soll. Aber das Geheimnis des Erfolges
liegt in einem starken persönlichen Können; und solches kann für eine höhere
Schule nur bei dein frei sich entwickeln, der in den Stoff seines Unterrichtes
mit selbständigem Suchen eingedrungen ist. k?em eene, verba ssquentur!
Deshalb sollen die angehenden Lehrer nicht sogenannte wissenschaftliche Pädagogik
studieren, sondern Philologie nud Geschichte, Mathematik und Naturwissenschaft.
Je tiefer sie sich da hineinwagen, je mehr sie lernen, mit eigner Hand ihren
Weg einzuschlagen, desto besser werden sie nachher Wege zu finden wissen, auf
denen sie ihre Schüler einführen können. Und das ist dann — nicht die richtige,
denn die gibt es nicht, doch eine gute Methode, mannigfaltig und, wie alles
Lebendige, wechselnd, weil immer neu aus dein Stoffe sich entwickelnd, völlig
verschieden von der, die an den Stoff herangebracht wird, nachdem sie der
Theoretiker am Schreibtisch aus psychologischen Begriffen zurechtgemacht hat.

In der Pädagogik wie in jeder Kunst haben theoretische Erörterungen
dann einen Wert, wenn sie auf die Praxis folgen; vor allem da, wo einer
der Könnender selber sich dessen bewußt wird, was er, dem Naturtriebe nach-


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[0070] Vskar Jäger die Leitung dieser altehrwürdigen Schule zu übertrage», lehnte die Regierung es ab, ihn zu bestätigen, weil das freimütige Hervortreten seiner selbständigen politischen Denkart höheren Orts Anstoß erregt hatte. Schwer hat ihn die Kränkung getroffen; aber sie wurde bald wieder gut gemacht. Wiese selbst erschien in Mörs, um ihn in seiner Amtsführung näher kennen zu lernen und ihm dann zu eröffnen, daß er zum Direktor des Königl. Friedrich-Wilhelm- Gymnasiums in Köln ausersehen sei. Dieses Amt hat er dann 1865 über¬ nommen und mehr als ein Menschenalter hindurch verwaltet. Als kölnischer Mann, als Lehrer und Erzieher rheinischer Jugend, als geistiges Haupt des höheren Lehrerstandes der Rheinprovinz: so wird er den meisten der jetzt Lebenden vor Augen bleiben. Ungemein stark muß bis ins hohe Alter die Wirkung gewesen sein, die im amtlichen Zusammenleben von seiner Persönlichkeit ausging und Mitarbeiter wie Lernende in den Bann seiner Gedanken zog. Wie er den Beruf des Lehrers und weiter des Direktors ansah und ausübte, hat er in jener köstlichen Aphorismen- Sammlung „Aus der Praxis" dargelegt, die er im Jahre 1883 veröffentlichte und im voraus sein „pädagogisches Testament" nannte. Unmittelbarer Zweck der kleinen Schrift war der Kampf gegen die theoretische Pädagogik, die damals unter der Firma Herbart-Ziller-Stör einen Hochstand erreicht hatte, und die heute wieder in etwas veränderter Gestalt und unter neuen Männern sich breit macht. Jäger war durchdrungen von der Einsicht, daß Pädagogik an sich nicht eine Wissenschaft ist, sondern eine Kunst, die immer ihre stärksten Wurzeln im Unbewußten hat. Was davon in Regeln gefaßt und so überliefert werden kann, gehört dem Handwerk an und braucht nicht gering geschätzt zu werden; „Lehr¬ kunst und Lehrhandwerk", so hat Jäger selbst eine seiner späteren Schriften genannt und schon im Titel angedeutet, wie der rechte Lehrer beide Seiten der großen Aufgabe erkennen und pflegen soll. Aber das Geheimnis des Erfolges liegt in einem starken persönlichen Können; und solches kann für eine höhere Schule nur bei dein frei sich entwickeln, der in den Stoff seines Unterrichtes mit selbständigem Suchen eingedrungen ist. k?em eene, verba ssquentur! Deshalb sollen die angehenden Lehrer nicht sogenannte wissenschaftliche Pädagogik studieren, sondern Philologie nud Geschichte, Mathematik und Naturwissenschaft. Je tiefer sie sich da hineinwagen, je mehr sie lernen, mit eigner Hand ihren Weg einzuschlagen, desto besser werden sie nachher Wege zu finden wissen, auf denen sie ihre Schüler einführen können. Und das ist dann — nicht die richtige, denn die gibt es nicht, doch eine gute Methode, mannigfaltig und, wie alles Lebendige, wechselnd, weil immer neu aus dein Stoffe sich entwickelnd, völlig verschieden von der, die an den Stoff herangebracht wird, nachdem sie der Theoretiker am Schreibtisch aus psychologischen Begriffen zurechtgemacht hat. In der Pädagogik wie in jeder Kunst haben theoretische Erörterungen dann einen Wert, wenn sie auf die Praxis folgen; vor allem da, wo einer der Könnender selber sich dessen bewußt wird, was er, dem Naturtriebe nach-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/70>, abgerufen am 22.07.2024.