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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Die Lomcnius-Gesellschaft

Laien geleiteten Gesellschaften geschah. Die Comenius-Gesellschaft aber erstrebte
keineswegs bloß die Bildung im üblichen Sinne dieses Wortes, und vor allem nicht
bloß die des Volkes, sofern man darunter die minder bemittelten Klassen versteht.
Was wir fördern wollten, war die Erziehung im Sinne des Comenius, d. h.
die Selbsterziehung, und diese Selbsterziehung hielten wir keineswegs bloß für
die Armen, sondern auch für die Reichen, d. h. für alle Klassen der
Nation sür nützlich. Ja, wir waren der Ansicht, daß eine bloße Vermittlung
des Bildungsstoffes an die niederen Stände leicht den Charakter einer Wohl¬
tätigkeitsveranstaltung annimmt, die die Unterlage jeder wahren Selbsterziehung,
nämlich die Selbstachtung und die Selbsthilfe, eher beeinträchtigt als fördert.

Die Aufgabe, die damit gestellt war, war in dieser Formulierung nicht
allein mehr oder weniger neu, sie war auch wichtiger und schwieriger als die Ver¬
mittlung wertvollen Bildungsstoffes an solche, die dessen bedurften. Während
es sich bei der letzteren Aufgabe im wesentlichen um Mehrung der Einsicht und
des Wissens handelt, zielt die Selbsterziehung auf die Willensseite des Menschen
ab, und es handelt sich mithin um die wichtigste Seite der menschlichen Natur,
nämlich um den Charakter und um die Gesinnung.

Mit dieser Zielsetzung war aber zugleich eine weitere Aufgabe gegeben:
es war aussichtslos, diesem Ziele wirksam näher zu kommen, wenn man nicht
gleichzeitig die Gewinnung einer in sich festgegründeten Weltanschauung ins
Auge saßte, wie sie schon Comenius als Voraussetzung der Selbsterziehung
gefordert und vertreten hatte. Was heute von allen Seiten widerhallt, das
wurde zu Ende der achtziger Jahre, als unsere Entschlüsse reisten, fast nur
tauben Ohren gepredigt, nämlich die Tatsache, daß zahllosen Zeitgenossen gerade
dasjenige sehlte, was wertvoller ist als die freilich ebenfalls nötige Wissens¬
bildung, nämlich der Besitz einer Lebensanschauung, die, getragen von religiösem
und sittlichem Empfinden, nicht bloß den Verstand beschäftigt, sondern den
Charakter bestimmt und, indem sie die Selbstachtung und das Gefühl der
Menschenwürde steigert, zugleich die beste und vielleicht die einzige sichere Unter¬
lage der Selbsterziehung ist. Eine solche Weltanschauung ist aber nur dann
von Kraft und von Wert, wenn der einzelne sie sich aus freier Überzeugung
gebildet und erworben hat. Wie die eine Säule der Selbsterziehung die Selbst¬
achtung ist, so ist die andere die der Freiheit; wo die eine oder die andere
fehlt, da wird der Mensch leicht zum Knecht, und zwar zum Knecht der fremden
wie der eignen Leidenschaften, oder mit andern Worten zum Sklaven, vor dem
man zittern muß, sobald er die Kette bricht.

Es fehlte schon in den achtziger Jahren keineswegs an Stimmen einsichtiger
und einflußreicher Männer, die die gleichen Gedanken vertraten und die namentlich
für die höheren und niederen Schulen eine wirksame Reform forderten. Diese
Männer hatten sehr richtig erkannt, daß der heutige Schulbetrieb in erster
Linie auf die Ausbildung der intellektuellen Fähigkeiten und des Denkvermögens
gerichtet ist, und daß dieser Betrieb sein vornehmstes Ziel in der Wissensübertragung


Grenzboten IV 1910 71
Die Lomcnius-Gesellschaft

Laien geleiteten Gesellschaften geschah. Die Comenius-Gesellschaft aber erstrebte
keineswegs bloß die Bildung im üblichen Sinne dieses Wortes, und vor allem nicht
bloß die des Volkes, sofern man darunter die minder bemittelten Klassen versteht.
Was wir fördern wollten, war die Erziehung im Sinne des Comenius, d. h.
die Selbsterziehung, und diese Selbsterziehung hielten wir keineswegs bloß für
die Armen, sondern auch für die Reichen, d. h. für alle Klassen der
Nation sür nützlich. Ja, wir waren der Ansicht, daß eine bloße Vermittlung
des Bildungsstoffes an die niederen Stände leicht den Charakter einer Wohl¬
tätigkeitsveranstaltung annimmt, die die Unterlage jeder wahren Selbsterziehung,
nämlich die Selbstachtung und die Selbsthilfe, eher beeinträchtigt als fördert.

Die Aufgabe, die damit gestellt war, war in dieser Formulierung nicht
allein mehr oder weniger neu, sie war auch wichtiger und schwieriger als die Ver¬
mittlung wertvollen Bildungsstoffes an solche, die dessen bedurften. Während
es sich bei der letzteren Aufgabe im wesentlichen um Mehrung der Einsicht und
des Wissens handelt, zielt die Selbsterziehung auf die Willensseite des Menschen
ab, und es handelt sich mithin um die wichtigste Seite der menschlichen Natur,
nämlich um den Charakter und um die Gesinnung.

Mit dieser Zielsetzung war aber zugleich eine weitere Aufgabe gegeben:
es war aussichtslos, diesem Ziele wirksam näher zu kommen, wenn man nicht
gleichzeitig die Gewinnung einer in sich festgegründeten Weltanschauung ins
Auge saßte, wie sie schon Comenius als Voraussetzung der Selbsterziehung
gefordert und vertreten hatte. Was heute von allen Seiten widerhallt, das
wurde zu Ende der achtziger Jahre, als unsere Entschlüsse reisten, fast nur
tauben Ohren gepredigt, nämlich die Tatsache, daß zahllosen Zeitgenossen gerade
dasjenige sehlte, was wertvoller ist als die freilich ebenfalls nötige Wissens¬
bildung, nämlich der Besitz einer Lebensanschauung, die, getragen von religiösem
und sittlichem Empfinden, nicht bloß den Verstand beschäftigt, sondern den
Charakter bestimmt und, indem sie die Selbstachtung und das Gefühl der
Menschenwürde steigert, zugleich die beste und vielleicht die einzige sichere Unter¬
lage der Selbsterziehung ist. Eine solche Weltanschauung ist aber nur dann
von Kraft und von Wert, wenn der einzelne sie sich aus freier Überzeugung
gebildet und erworben hat. Wie die eine Säule der Selbsterziehung die Selbst¬
achtung ist, so ist die andere die der Freiheit; wo die eine oder die andere
fehlt, da wird der Mensch leicht zum Knecht, und zwar zum Knecht der fremden
wie der eignen Leidenschaften, oder mit andern Worten zum Sklaven, vor dem
man zittern muß, sobald er die Kette bricht.

Es fehlte schon in den achtziger Jahren keineswegs an Stimmen einsichtiger
und einflußreicher Männer, die die gleichen Gedanken vertraten und die namentlich
für die höheren und niederen Schulen eine wirksame Reform forderten. Diese
Männer hatten sehr richtig erkannt, daß der heutige Schulbetrieb in erster
Linie auf die Ausbildung der intellektuellen Fähigkeiten und des Denkvermögens
gerichtet ist, und daß dieser Betrieb sein vornehmstes Ziel in der Wissensübertragung


Grenzboten IV 1910 71
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[0573] Die Lomcnius-Gesellschaft Laien geleiteten Gesellschaften geschah. Die Comenius-Gesellschaft aber erstrebte keineswegs bloß die Bildung im üblichen Sinne dieses Wortes, und vor allem nicht bloß die des Volkes, sofern man darunter die minder bemittelten Klassen versteht. Was wir fördern wollten, war die Erziehung im Sinne des Comenius, d. h. die Selbsterziehung, und diese Selbsterziehung hielten wir keineswegs bloß für die Armen, sondern auch für die Reichen, d. h. für alle Klassen der Nation sür nützlich. Ja, wir waren der Ansicht, daß eine bloße Vermittlung des Bildungsstoffes an die niederen Stände leicht den Charakter einer Wohl¬ tätigkeitsveranstaltung annimmt, die die Unterlage jeder wahren Selbsterziehung, nämlich die Selbstachtung und die Selbsthilfe, eher beeinträchtigt als fördert. Die Aufgabe, die damit gestellt war, war in dieser Formulierung nicht allein mehr oder weniger neu, sie war auch wichtiger und schwieriger als die Ver¬ mittlung wertvollen Bildungsstoffes an solche, die dessen bedurften. Während es sich bei der letzteren Aufgabe im wesentlichen um Mehrung der Einsicht und des Wissens handelt, zielt die Selbsterziehung auf die Willensseite des Menschen ab, und es handelt sich mithin um die wichtigste Seite der menschlichen Natur, nämlich um den Charakter und um die Gesinnung. Mit dieser Zielsetzung war aber zugleich eine weitere Aufgabe gegeben: es war aussichtslos, diesem Ziele wirksam näher zu kommen, wenn man nicht gleichzeitig die Gewinnung einer in sich festgegründeten Weltanschauung ins Auge saßte, wie sie schon Comenius als Voraussetzung der Selbsterziehung gefordert und vertreten hatte. Was heute von allen Seiten widerhallt, das wurde zu Ende der achtziger Jahre, als unsere Entschlüsse reisten, fast nur tauben Ohren gepredigt, nämlich die Tatsache, daß zahllosen Zeitgenossen gerade dasjenige sehlte, was wertvoller ist als die freilich ebenfalls nötige Wissens¬ bildung, nämlich der Besitz einer Lebensanschauung, die, getragen von religiösem und sittlichem Empfinden, nicht bloß den Verstand beschäftigt, sondern den Charakter bestimmt und, indem sie die Selbstachtung und das Gefühl der Menschenwürde steigert, zugleich die beste und vielleicht die einzige sichere Unter¬ lage der Selbsterziehung ist. Eine solche Weltanschauung ist aber nur dann von Kraft und von Wert, wenn der einzelne sie sich aus freier Überzeugung gebildet und erworben hat. Wie die eine Säule der Selbsterziehung die Selbst¬ achtung ist, so ist die andere die der Freiheit; wo die eine oder die andere fehlt, da wird der Mensch leicht zum Knecht, und zwar zum Knecht der fremden wie der eignen Leidenschaften, oder mit andern Worten zum Sklaven, vor dem man zittern muß, sobald er die Kette bricht. Es fehlte schon in den achtziger Jahren keineswegs an Stimmen einsichtiger und einflußreicher Männer, die die gleichen Gedanken vertraten und die namentlich für die höheren und niederen Schulen eine wirksame Reform forderten. Diese Männer hatten sehr richtig erkannt, daß der heutige Schulbetrieb in erster Linie auf die Ausbildung der intellektuellen Fähigkeiten und des Denkvermögens gerichtet ist, und daß dieser Betrieb sein vornehmstes Ziel in der Wissensübertragung Grenzboten IV 1910 71

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/573>, abgerufen am 22.07.2024.