Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.Die Rute in der Kunst und im Leben anzuregen; und er gebraucht dabei einen dichterischen Kunstgriff, er verschafft sich in Der Grund, weshalb die Kunst sich so gern mit der Rute -- und dem, was Der eben erwähnte enge Zusammenhang des Geistigen mit dem Körperlichen Unsere sogenannten höheren Stände täten gut, wenn sie sich Belehrung aus Die Rute in der Kunst und im Leben anzuregen; und er gebraucht dabei einen dichterischen Kunstgriff, er verschafft sich in Der Grund, weshalb die Kunst sich so gern mit der Rute — und dem, was Der eben erwähnte enge Zusammenhang des Geistigen mit dem Körperlichen Unsere sogenannten höheren Stände täten gut, wenn sie sich Belehrung aus <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0555" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/317506"/> <fw type="header" place="top"> Die Rute in der Kunst und im Leben</fw><lb/> <p xml:id="ID_2680" prev="#ID_2679"> anzuregen; und er gebraucht dabei einen dichterischen Kunstgriff, er verschafft sich in<lb/> der „sinkenden Frühlingssonne" einen Zuschauer. Auch er übertreibt aber keineswegs<lb/> die Beschäftigung der Sinne. Und auch er vergnügt den Geist zugleich durch das<lb/> Befriedigende der Idee, daß der gestrafte Knabe bei aller Peinlichkeit seiner<lb/> Empfindungen sogleich von der Gerechtigkeit — Notwendigkeit — der erduldeten<lb/> Strafe überzeugt ist.</p><lb/> <p xml:id="ID_2681"> Der Grund, weshalb die Kunst sich so gern mit der Rute — und dem, was<lb/> mit ihr zusammenhängt — abgibt, ist nach dem Gesagten der, daß die Kunst hier<lb/> einen Stoff findet, welcher Gelegenheit zur Darstellung des Schönen bietet, sowohl<lb/> des körperlich Schönen als auch des geistig Schönen (des Schönen der Idee).<lb/> Beides vereinigt sich hier besonders leicht, weil das eine — zeitlich — eng mit<lb/> dem anderen, unvermittelt in Zusammenhang gebracht werden kann.</p><lb/> <p xml:id="ID_2682"> Der eben erwähnte enge Zusammenhang des Geistigen mit dem Körperlichen<lb/> ist keineswegs nur von künstlerischer Bedeutung, sondern — und an erster Stelle —,<lb/> da ja die Kunst nur aus dem Leben sich nährt, auch von tatsächlicher Wichtigkeit,<lb/> wenn man an die Beurteilung des praktischen Wertes körperlicher Strafen heran¬<lb/> geht. Letztere sind, was Sicherheit und Unmittelbarkeit der Wirkung anbetrifft,<lb/> von anderen Strafmitteln gar nicht zu erreichen. Die Unterordnung des jugend¬<lb/> lichen Wollens unter einen höheren Willen wird hier sinnenfällig und unvermeidlich<lb/> zur Erkenntnis gebracht, in einer einfachen, jedem verständlichen Weise. Da aber<lb/> alles Leben und auch das des Menschen von der Geburt an sich vom Einfachen<lb/> her entwickelt, so ist es klar, daß auch die Erziehung zunächst mit einfachen Mitteln<lb/> arbeiten muß. Das gilt selbstverständlich auch für die anzuwendenden Strafen<lb/> (Zwangsmittel) und nicht weniger für Zeiten der Kultur als ursprüngliche Zeit¬<lb/> alter; denn auch in der Gegenwart noch steigt der einzelne Mensch, wenn er heran¬<lb/> wächst, ungefähr die gleichen Entwickelungsstufen vom Einfachen zum Zusammen¬<lb/> gesetzten (Vollendeten) erst allmählich empor, wie sie die Menschheit als Ganzes von<lb/> Urzuständen zur Kultur hinaufgestiegen ist. Ebenso selbstverständlich ist es, daß in<lb/> den wesentlichsten Erziehungsgrundsätzen keine Standesunterschiede zu machen sind;<lb/> die Kinder wohlhabender Eltern sind im großen und ganzen ebenso veranlagt wie<lb/> die armer Eltern, es sind eben auch Kinder. Darum hat der englische Dichter<lb/> Byron nicht unrecht, wenn er, freilich etwas übertreibend, sagt:</p><lb/> <lg xml:id="POEMID_33" type="poem"> <l/> </lg><lb/> <p xml:id="ID_2683" next="#ID_2684"> Unsere sogenannten höheren Stände täten gut, wenn sie sich Belehrung aus<lb/> den Verhältnissen des kleineren Mittelstandes holen wollten. Dort gibt es noch<lb/> Mütter, die bei Knaben und Mädchen wirklich darauf achten, daß sie tun, was sie<lb/> sollen, und nicht nur, was die Kinder wollen. Freilich kommt es bei der einfach<lb/> denkenden Bürgers« oder Bauersfrau vor, daß sie die Rute mitsprechen läßt, und<lb/> zwar ebenso beim Jungen wie beim Töchterchen, wobei ihr die längeren Hosen<lb/> und Röcke der Zwölf- und Dreizehnjährigen keine besondere Achtung einflößen. Uno<lb/> das ist sicher zum Nutzen der Kinder, — durchschnittlich genommen. Und es ist zum<lb/> Schaden der Kinder anderer Kreise, daß dort eine übertriebene Rücksichtnahme und</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0555]
Die Rute in der Kunst und im Leben
anzuregen; und er gebraucht dabei einen dichterischen Kunstgriff, er verschafft sich in
der „sinkenden Frühlingssonne" einen Zuschauer. Auch er übertreibt aber keineswegs
die Beschäftigung der Sinne. Und auch er vergnügt den Geist zugleich durch das
Befriedigende der Idee, daß der gestrafte Knabe bei aller Peinlichkeit seiner
Empfindungen sogleich von der Gerechtigkeit — Notwendigkeit — der erduldeten
Strafe überzeugt ist.
Der Grund, weshalb die Kunst sich so gern mit der Rute — und dem, was
mit ihr zusammenhängt — abgibt, ist nach dem Gesagten der, daß die Kunst hier
einen Stoff findet, welcher Gelegenheit zur Darstellung des Schönen bietet, sowohl
des körperlich Schönen als auch des geistig Schönen (des Schönen der Idee).
Beides vereinigt sich hier besonders leicht, weil das eine — zeitlich — eng mit
dem anderen, unvermittelt in Zusammenhang gebracht werden kann.
Der eben erwähnte enge Zusammenhang des Geistigen mit dem Körperlichen
ist keineswegs nur von künstlerischer Bedeutung, sondern — und an erster Stelle —,
da ja die Kunst nur aus dem Leben sich nährt, auch von tatsächlicher Wichtigkeit,
wenn man an die Beurteilung des praktischen Wertes körperlicher Strafen heran¬
geht. Letztere sind, was Sicherheit und Unmittelbarkeit der Wirkung anbetrifft,
von anderen Strafmitteln gar nicht zu erreichen. Die Unterordnung des jugend¬
lichen Wollens unter einen höheren Willen wird hier sinnenfällig und unvermeidlich
zur Erkenntnis gebracht, in einer einfachen, jedem verständlichen Weise. Da aber
alles Leben und auch das des Menschen von der Geburt an sich vom Einfachen
her entwickelt, so ist es klar, daß auch die Erziehung zunächst mit einfachen Mitteln
arbeiten muß. Das gilt selbstverständlich auch für die anzuwendenden Strafen
(Zwangsmittel) und nicht weniger für Zeiten der Kultur als ursprüngliche Zeit¬
alter; denn auch in der Gegenwart noch steigt der einzelne Mensch, wenn er heran¬
wächst, ungefähr die gleichen Entwickelungsstufen vom Einfachen zum Zusammen¬
gesetzten (Vollendeten) erst allmählich empor, wie sie die Menschheit als Ganzes von
Urzuständen zur Kultur hinaufgestiegen ist. Ebenso selbstverständlich ist es, daß in
den wesentlichsten Erziehungsgrundsätzen keine Standesunterschiede zu machen sind;
die Kinder wohlhabender Eltern sind im großen und ganzen ebenso veranlagt wie
die armer Eltern, es sind eben auch Kinder. Darum hat der englische Dichter
Byron nicht unrecht, wenn er, freilich etwas übertreibend, sagt:
Unsere sogenannten höheren Stände täten gut, wenn sie sich Belehrung aus
den Verhältnissen des kleineren Mittelstandes holen wollten. Dort gibt es noch
Mütter, die bei Knaben und Mädchen wirklich darauf achten, daß sie tun, was sie
sollen, und nicht nur, was die Kinder wollen. Freilich kommt es bei der einfach
denkenden Bürgers« oder Bauersfrau vor, daß sie die Rute mitsprechen läßt, und
zwar ebenso beim Jungen wie beim Töchterchen, wobei ihr die längeren Hosen
und Röcke der Zwölf- und Dreizehnjährigen keine besondere Achtung einflößen. Uno
das ist sicher zum Nutzen der Kinder, — durchschnittlich genommen. Und es ist zum
Schaden der Kinder anderer Kreise, daß dort eine übertriebene Rücksichtnahme und
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