Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Gerhard licmptmaim

Kirche, sie ist modern in einem weiteren Sinne, insofern sie das Wissen unserer
Zeit einschließt und die Naturerkenntnis mit der Gotteserkenntnis zu einem großen
Tempel der Anbetung und Andacht vereinigt.

Dichterisch ist das Werk ein episches Kunstwerk, wie es nur in großen
Zwischenräumen entstehen kann, die vollkommenste Einheit von Selbstbekenntnissen
mit Schilderung deS einen problematischen Menschen Emanuel Quint, des Narren
in Christo. Die Breite und das Vielerlei des Romans ist völlig aufgehoben
zugunsten einer einzigen Kette von Geschehnissen und inneren Erlebnissen des
Vauernapostels. Also auch hier ein Gegensatz zum klassischen Roman die künst¬
lerische Beschränkung des Themas auf die Menschendarstellung und Seelen¬
ausdeutung. Die geheime Kraft, die von Quint ausgeht und ihn zu dem Glauben
zwingt, die verheißene Wiederkehr Christi zu sein, hat die Form dieses Romans
bestimmt. Das Zeitgemälde schließt sich in dem Gemälde dieser gläubigen Kinder¬
seele, die alle den Verheißungen einer neuen Generation Fleisch und Blut und
Gotteskindschaft und Menschenkindschaft werden läßt. Der Reif, der von Quirls
Geheimnis ausgeht, erfüllt die Täter und Städte seiner Heimat und zieht wie
ein unsichtbarer Magnet alle freien Kräfte an sich, reizt alle in einem vorhandenen
alten Glauben ruhenden zum Widerstand. Die Mühseligen und Veladenen fliegen
ihm zu wie die Motten dem Licht, und die Satter empören sich gegen solche
Gotteslästerung. Alle aber vereinigen sich, ihn zu steinigen und ihn einen falschen
Propheten zu nennen. Er ist das Schicksal des ausschließlich Religiösen, das mit Tugend
oder irgendwelchem Wunderlein nichts zu tun haben will, sondern im Wissen Gottes
beschlossen ist als die Bewußtheit aller jener Kräfte, die die Gottesnatur ausmachen.

In diesem Spiegel aller Spiegel gibt Hauptmann uns das Bild der Welt
an sich, erschließt er die Herzen der Gläubigen und der Ungläubigen und zwingt
uns, die Offenbarungen des Geistes in jeder Form des Irrtums und des Wissens
anzuerkennen. Emanuel Quint ist der Sohn eines Tischlers, im Dorfe von Jugend
aus verhöhnt, vom Vater als Bastard gebrandmarkt, der nie etwas anderes als
die Bibel gelesen hat, ist das reine Gefäß eines Glaubens, der nichts als Glauben
ist und doch in alle Wahrheiten des zwanzigsten Jahrhunderts eindringt. Er ist
die Einzigkeit des Menschen, der Gott in der Welt sieht und mit ihm gerungen
hat; er ist der Prophet, der die Lehre der alten Propheten überwindet mit
seinem: Ich aber sage euch! und der immer wiederkehren wird, solange es Menschen
gibt. Alle Leiden Christi werden seine Leiden, und alle Leiden führen ihn in die
Vereinsamung, machen ihn zum Märtyrer, dessen Wert für die Kultur, so
illusorisch sie scheint, das ewige Rätsel des Gotteslebens im Menschen bleibt.

Gerhart Hauptmann ist mit diesem Werk noch weiter als in den letzten
Jahren von dem Durchschnittsgeschmack der Zeit abgerückt und hat uns seine
Berufung dadurch nur um so deutlicher gemacht. Man wird von diesem Roman
reden, wenn die Gegenwart längst im Grabe modert, denn es ist das Postulat
des individuellen Menschen, seine Berufung, am Weltgeschehen teilzunehmen, die dieser
einfachen, ungebildeten Seele Quirls zur Verheißung wird. Wilhelm Micßner




Gerhard licmptmaim

Kirche, sie ist modern in einem weiteren Sinne, insofern sie das Wissen unserer
Zeit einschließt und die Naturerkenntnis mit der Gotteserkenntnis zu einem großen
Tempel der Anbetung und Andacht vereinigt.

Dichterisch ist das Werk ein episches Kunstwerk, wie es nur in großen
Zwischenräumen entstehen kann, die vollkommenste Einheit von Selbstbekenntnissen
mit Schilderung deS einen problematischen Menschen Emanuel Quint, des Narren
in Christo. Die Breite und das Vielerlei des Romans ist völlig aufgehoben
zugunsten einer einzigen Kette von Geschehnissen und inneren Erlebnissen des
Vauernapostels. Also auch hier ein Gegensatz zum klassischen Roman die künst¬
lerische Beschränkung des Themas auf die Menschendarstellung und Seelen¬
ausdeutung. Die geheime Kraft, die von Quint ausgeht und ihn zu dem Glauben
zwingt, die verheißene Wiederkehr Christi zu sein, hat die Form dieses Romans
bestimmt. Das Zeitgemälde schließt sich in dem Gemälde dieser gläubigen Kinder¬
seele, die alle den Verheißungen einer neuen Generation Fleisch und Blut und
Gotteskindschaft und Menschenkindschaft werden läßt. Der Reif, der von Quirls
Geheimnis ausgeht, erfüllt die Täter und Städte seiner Heimat und zieht wie
ein unsichtbarer Magnet alle freien Kräfte an sich, reizt alle in einem vorhandenen
alten Glauben ruhenden zum Widerstand. Die Mühseligen und Veladenen fliegen
ihm zu wie die Motten dem Licht, und die Satter empören sich gegen solche
Gotteslästerung. Alle aber vereinigen sich, ihn zu steinigen und ihn einen falschen
Propheten zu nennen. Er ist das Schicksal des ausschließlich Religiösen, das mit Tugend
oder irgendwelchem Wunderlein nichts zu tun haben will, sondern im Wissen Gottes
beschlossen ist als die Bewußtheit aller jener Kräfte, die die Gottesnatur ausmachen.

In diesem Spiegel aller Spiegel gibt Hauptmann uns das Bild der Welt
an sich, erschließt er die Herzen der Gläubigen und der Ungläubigen und zwingt
uns, die Offenbarungen des Geistes in jeder Form des Irrtums und des Wissens
anzuerkennen. Emanuel Quint ist der Sohn eines Tischlers, im Dorfe von Jugend
aus verhöhnt, vom Vater als Bastard gebrandmarkt, der nie etwas anderes als
die Bibel gelesen hat, ist das reine Gefäß eines Glaubens, der nichts als Glauben
ist und doch in alle Wahrheiten des zwanzigsten Jahrhunderts eindringt. Er ist
die Einzigkeit des Menschen, der Gott in der Welt sieht und mit ihm gerungen
hat; er ist der Prophet, der die Lehre der alten Propheten überwindet mit
seinem: Ich aber sage euch! und der immer wiederkehren wird, solange es Menschen
gibt. Alle Leiden Christi werden seine Leiden, und alle Leiden führen ihn in die
Vereinsamung, machen ihn zum Märtyrer, dessen Wert für die Kultur, so
illusorisch sie scheint, das ewige Rätsel des Gotteslebens im Menschen bleibt.

Gerhart Hauptmann ist mit diesem Werk noch weiter als in den letzten
Jahren von dem Durchschnittsgeschmack der Zeit abgerückt und hat uns seine
Berufung dadurch nur um so deutlicher gemacht. Man wird von diesem Roman
reden, wenn die Gegenwart längst im Grabe modert, denn es ist das Postulat
des individuellen Menschen, seine Berufung, am Weltgeschehen teilzunehmen, die dieser
einfachen, ungebildeten Seele Quirls zur Verheißung wird. Wilhelm Micßner




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0506" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/317457"/>
          <fw type="header" place="top"> Gerhard licmptmaim</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2370" prev="#ID_2369"> Kirche, sie ist modern in einem weiteren Sinne, insofern sie das Wissen unserer<lb/>
Zeit einschließt und die Naturerkenntnis mit der Gotteserkenntnis zu einem großen<lb/>
Tempel der Anbetung und Andacht vereinigt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2371"> Dichterisch ist das Werk ein episches Kunstwerk, wie es nur in großen<lb/>
Zwischenräumen entstehen kann, die vollkommenste Einheit von Selbstbekenntnissen<lb/>
mit Schilderung deS einen problematischen Menschen Emanuel Quint, des Narren<lb/>
in Christo. Die Breite und das Vielerlei des Romans ist völlig aufgehoben<lb/>
zugunsten einer einzigen Kette von Geschehnissen und inneren Erlebnissen des<lb/>
Vauernapostels. Also auch hier ein Gegensatz zum klassischen Roman die künst¬<lb/>
lerische Beschränkung des Themas auf die Menschendarstellung und Seelen¬<lb/>
ausdeutung. Die geheime Kraft, die von Quint ausgeht und ihn zu dem Glauben<lb/>
zwingt, die verheißene Wiederkehr Christi zu sein, hat die Form dieses Romans<lb/>
bestimmt. Das Zeitgemälde schließt sich in dem Gemälde dieser gläubigen Kinder¬<lb/>
seele, die alle den Verheißungen einer neuen Generation Fleisch und Blut und<lb/>
Gotteskindschaft und Menschenkindschaft werden läßt. Der Reif, der von Quirls<lb/>
Geheimnis ausgeht, erfüllt die Täter und Städte seiner Heimat und zieht wie<lb/>
ein unsichtbarer Magnet alle freien Kräfte an sich, reizt alle in einem vorhandenen<lb/>
alten Glauben ruhenden zum Widerstand. Die Mühseligen und Veladenen fliegen<lb/>
ihm zu wie die Motten dem Licht, und die Satter empören sich gegen solche<lb/>
Gotteslästerung. Alle aber vereinigen sich, ihn zu steinigen und ihn einen falschen<lb/>
Propheten zu nennen. Er ist das Schicksal des ausschließlich Religiösen, das mit Tugend<lb/>
oder irgendwelchem Wunderlein nichts zu tun haben will, sondern im Wissen Gottes<lb/>
beschlossen ist als die Bewußtheit aller jener Kräfte, die die Gottesnatur ausmachen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2372"> In diesem Spiegel aller Spiegel gibt Hauptmann uns das Bild der Welt<lb/>
an sich, erschließt er die Herzen der Gläubigen und der Ungläubigen und zwingt<lb/>
uns, die Offenbarungen des Geistes in jeder Form des Irrtums und des Wissens<lb/>
anzuerkennen. Emanuel Quint ist der Sohn eines Tischlers, im Dorfe von Jugend<lb/>
aus verhöhnt, vom Vater als Bastard gebrandmarkt, der nie etwas anderes als<lb/>
die Bibel gelesen hat, ist das reine Gefäß eines Glaubens, der nichts als Glauben<lb/>
ist und doch in alle Wahrheiten des zwanzigsten Jahrhunderts eindringt. Er ist<lb/>
die Einzigkeit des Menschen, der Gott in der Welt sieht und mit ihm gerungen<lb/>
hat; er ist der Prophet, der die Lehre der alten Propheten überwindet mit<lb/>
seinem: Ich aber sage euch! und der immer wiederkehren wird, solange es Menschen<lb/>
gibt. Alle Leiden Christi werden seine Leiden, und alle Leiden führen ihn in die<lb/>
Vereinsamung, machen ihn zum Märtyrer, dessen Wert für die Kultur, so<lb/>
illusorisch sie scheint, das ewige Rätsel des Gotteslebens im Menschen bleibt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2373"> Gerhart Hauptmann ist mit diesem Werk noch weiter als in den letzten<lb/>
Jahren von dem Durchschnittsgeschmack der Zeit abgerückt und hat uns seine<lb/>
Berufung dadurch nur um so deutlicher gemacht. Man wird von diesem Roman<lb/>
reden, wenn die Gegenwart längst im Grabe modert, denn es ist das Postulat<lb/>
des individuellen Menschen, seine Berufung, am Weltgeschehen teilzunehmen, die dieser<lb/>
einfachen, ungebildeten Seele Quirls zur Verheißung wird.  Wilhelm Micßner</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0506] Gerhard licmptmaim Kirche, sie ist modern in einem weiteren Sinne, insofern sie das Wissen unserer Zeit einschließt und die Naturerkenntnis mit der Gotteserkenntnis zu einem großen Tempel der Anbetung und Andacht vereinigt. Dichterisch ist das Werk ein episches Kunstwerk, wie es nur in großen Zwischenräumen entstehen kann, die vollkommenste Einheit von Selbstbekenntnissen mit Schilderung deS einen problematischen Menschen Emanuel Quint, des Narren in Christo. Die Breite und das Vielerlei des Romans ist völlig aufgehoben zugunsten einer einzigen Kette von Geschehnissen und inneren Erlebnissen des Vauernapostels. Also auch hier ein Gegensatz zum klassischen Roman die künst¬ lerische Beschränkung des Themas auf die Menschendarstellung und Seelen¬ ausdeutung. Die geheime Kraft, die von Quint ausgeht und ihn zu dem Glauben zwingt, die verheißene Wiederkehr Christi zu sein, hat die Form dieses Romans bestimmt. Das Zeitgemälde schließt sich in dem Gemälde dieser gläubigen Kinder¬ seele, die alle den Verheißungen einer neuen Generation Fleisch und Blut und Gotteskindschaft und Menschenkindschaft werden läßt. Der Reif, der von Quirls Geheimnis ausgeht, erfüllt die Täter und Städte seiner Heimat und zieht wie ein unsichtbarer Magnet alle freien Kräfte an sich, reizt alle in einem vorhandenen alten Glauben ruhenden zum Widerstand. Die Mühseligen und Veladenen fliegen ihm zu wie die Motten dem Licht, und die Satter empören sich gegen solche Gotteslästerung. Alle aber vereinigen sich, ihn zu steinigen und ihn einen falschen Propheten zu nennen. Er ist das Schicksal des ausschließlich Religiösen, das mit Tugend oder irgendwelchem Wunderlein nichts zu tun haben will, sondern im Wissen Gottes beschlossen ist als die Bewußtheit aller jener Kräfte, die die Gottesnatur ausmachen. In diesem Spiegel aller Spiegel gibt Hauptmann uns das Bild der Welt an sich, erschließt er die Herzen der Gläubigen und der Ungläubigen und zwingt uns, die Offenbarungen des Geistes in jeder Form des Irrtums und des Wissens anzuerkennen. Emanuel Quint ist der Sohn eines Tischlers, im Dorfe von Jugend aus verhöhnt, vom Vater als Bastard gebrandmarkt, der nie etwas anderes als die Bibel gelesen hat, ist das reine Gefäß eines Glaubens, der nichts als Glauben ist und doch in alle Wahrheiten des zwanzigsten Jahrhunderts eindringt. Er ist die Einzigkeit des Menschen, der Gott in der Welt sieht und mit ihm gerungen hat; er ist der Prophet, der die Lehre der alten Propheten überwindet mit seinem: Ich aber sage euch! und der immer wiederkehren wird, solange es Menschen gibt. Alle Leiden Christi werden seine Leiden, und alle Leiden führen ihn in die Vereinsamung, machen ihn zum Märtyrer, dessen Wert für die Kultur, so illusorisch sie scheint, das ewige Rätsel des Gotteslebens im Menschen bleibt. Gerhart Hauptmann ist mit diesem Werk noch weiter als in den letzten Jahren von dem Durchschnittsgeschmack der Zeit abgerückt und hat uns seine Berufung dadurch nur um so deutlicher gemacht. Man wird von diesem Roman reden, wenn die Gegenwart längst im Grabe modert, denn es ist das Postulat des individuellen Menschen, seine Berufung, am Weltgeschehen teilzunehmen, die dieser einfachen, ungebildeten Seele Quirls zur Verheißung wird. Wilhelm Micßner

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/506
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/506>, abgerufen am 22.07.2024.