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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Im Flecken

"Jawohl, jawohl," beeilte der Bezirksaufseher sich zu sagen, "Verzeihen
Sie -- wie heißen Sie doch? Ich habe es mir nicht gemerkt."

"Boris Stepanowitsch."

"Boris Stepanowitsch, verzeihen Sie, daß ich nicht selbst daran dachte. Sie
werden der Ruhe bedürfen. Ich danke für Ihre Auskünfte. Ich hoffe, Sie
nehmen es nicht übel, wenn ich Sie vielleicht nochmals um Ihre Meinung
angehen sollte."

"Ich stehe stets zu Diensten."

Der Bezirksaufseher schüttelte ihm die Hand. Schejin preßte dieselbe mit
seinen beiden. Wolski hatte sich über das Protokoll gebeugt. Okolitsch ging.

Da rückte Wolski seinen Stuhl zu denen der älteren Herren, sah um sich
nach den beiden Türen und sprach leise, fast flüsternd:

"Sie haben gut darauf geachtet, wie dieser Okolitsch sich benahm, und wie
er sich Mühe gab, den Verdacht vom Flecken abzulenken?"

Schejin horchte auf, ohne zu begreifen, welche Absicht der Aufseher hatte.

"Nun?" fragte der Bezirksaufseher.

"Er kommt mir verdächtig vor."

Der Bezirksaufseher lehnte sich zurück, hob die Augen zur Zimmerdecke
und überlegte.

"In welcher Hinsicht verdächtig?" fragte Schejin ahnungslos.

"Bemerken Sie, Andrej Fomitsch, er ist Ihr nächster Nachbar, kann Ihnen
sozusagen in die Fenster sehen und kennt also ganz genau Ihre Zimmer, Ihre
Hausordnung und Gewohnheiten."

"Wahrscheinlich, wie ich ziemlich bekannt bin mit dein, was bei ihm geschieht."

"Also. Nehmen Sie dazu, daß er ein schlauer, unternehmender Mensch ist
und arm. Als Hilfslehrer bekommt er sehr wenig."

"Ja, was soll das aber? Was wollen Sie sagen? In welcher Hinsicht
halten Sie ihn für verdächtig?"

"Nein, nein, Sie sind da auf dem Holzwege," sprach der Bezirksaufseher
nachdenklich.

"Mir drängte sich der Verdacht gleich bei seinen ersten Worten auf,"
beharrte Wolski.

"Aber welcher Verdacht?" fragte Schejin etwas erregt. "Woran denken Sie?
Doch nicht gar, daß Boris Stepanowitsch -"

Er endigte nicht. Die Backen bedeckten sich mit Rote.

"Ich denke es noch nicht. Ich habe fürs erste nur unwillkürlichen Verdacht.
Aber eine Haussuchung auf frischer Tat wäre vielleicht am Platze."

"Unsinn, Unsinn!" sprach der Bezirksaufseher.

"Er war hier, als die Nachbarn schreien hörten. Sie kamen erst dazu, als
die Helfershelfer bereits fort und in Sicherheit waren, und er blieb, um die
Nachforschungen in die Ferne zu lenken. Seine Behauptungen, die Fabel vom
Hunde -- alles das ist mir sehr, sehr verdächtig."

Jetzt hatte Schejin voll begriffen. Zornig fuhr er vom Stuhle auf.

"Boris Stepanowitsch!" rief er. "Okolitsch! Der ehrlichste, bravste Mensch,
den ich kenne! Okolitsch, dem ich Millionen anvertrauen möchte, wenn ich sie hätte!


Im Flecken

„Jawohl, jawohl," beeilte der Bezirksaufseher sich zu sagen, „Verzeihen
Sie — wie heißen Sie doch? Ich habe es mir nicht gemerkt."

„Boris Stepanowitsch."

„Boris Stepanowitsch, verzeihen Sie, daß ich nicht selbst daran dachte. Sie
werden der Ruhe bedürfen. Ich danke für Ihre Auskünfte. Ich hoffe, Sie
nehmen es nicht übel, wenn ich Sie vielleicht nochmals um Ihre Meinung
angehen sollte."

„Ich stehe stets zu Diensten."

Der Bezirksaufseher schüttelte ihm die Hand. Schejin preßte dieselbe mit
seinen beiden. Wolski hatte sich über das Protokoll gebeugt. Okolitsch ging.

Da rückte Wolski seinen Stuhl zu denen der älteren Herren, sah um sich
nach den beiden Türen und sprach leise, fast flüsternd:

„Sie haben gut darauf geachtet, wie dieser Okolitsch sich benahm, und wie
er sich Mühe gab, den Verdacht vom Flecken abzulenken?"

Schejin horchte auf, ohne zu begreifen, welche Absicht der Aufseher hatte.

„Nun?" fragte der Bezirksaufseher.

„Er kommt mir verdächtig vor."

Der Bezirksaufseher lehnte sich zurück, hob die Augen zur Zimmerdecke
und überlegte.

„In welcher Hinsicht verdächtig?" fragte Schejin ahnungslos.

„Bemerken Sie, Andrej Fomitsch, er ist Ihr nächster Nachbar, kann Ihnen
sozusagen in die Fenster sehen und kennt also ganz genau Ihre Zimmer, Ihre
Hausordnung und Gewohnheiten."

„Wahrscheinlich, wie ich ziemlich bekannt bin mit dein, was bei ihm geschieht."

„Also. Nehmen Sie dazu, daß er ein schlauer, unternehmender Mensch ist
und arm. Als Hilfslehrer bekommt er sehr wenig."

„Ja, was soll das aber? Was wollen Sie sagen? In welcher Hinsicht
halten Sie ihn für verdächtig?"

„Nein, nein, Sie sind da auf dem Holzwege," sprach der Bezirksaufseher
nachdenklich.

„Mir drängte sich der Verdacht gleich bei seinen ersten Worten auf,"
beharrte Wolski.

„Aber welcher Verdacht?" fragte Schejin etwas erregt. „Woran denken Sie?
Doch nicht gar, daß Boris Stepanowitsch -"

Er endigte nicht. Die Backen bedeckten sich mit Rote.

„Ich denke es noch nicht. Ich habe fürs erste nur unwillkürlichen Verdacht.
Aber eine Haussuchung auf frischer Tat wäre vielleicht am Platze."

„Unsinn, Unsinn!" sprach der Bezirksaufseher.

„Er war hier, als die Nachbarn schreien hörten. Sie kamen erst dazu, als
die Helfershelfer bereits fort und in Sicherheit waren, und er blieb, um die
Nachforschungen in die Ferne zu lenken. Seine Behauptungen, die Fabel vom
Hunde — alles das ist mir sehr, sehr verdächtig."

Jetzt hatte Schejin voll begriffen. Zornig fuhr er vom Stuhle auf.

„Boris Stepanowitsch!" rief er. „Okolitsch! Der ehrlichste, bravste Mensch,
den ich kenne! Okolitsch, dem ich Millionen anvertrauen möchte, wenn ich sie hätte!


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[0492] Im Flecken „Jawohl, jawohl," beeilte der Bezirksaufseher sich zu sagen, „Verzeihen Sie — wie heißen Sie doch? Ich habe es mir nicht gemerkt." „Boris Stepanowitsch." „Boris Stepanowitsch, verzeihen Sie, daß ich nicht selbst daran dachte. Sie werden der Ruhe bedürfen. Ich danke für Ihre Auskünfte. Ich hoffe, Sie nehmen es nicht übel, wenn ich Sie vielleicht nochmals um Ihre Meinung angehen sollte." „Ich stehe stets zu Diensten." Der Bezirksaufseher schüttelte ihm die Hand. Schejin preßte dieselbe mit seinen beiden. Wolski hatte sich über das Protokoll gebeugt. Okolitsch ging. Da rückte Wolski seinen Stuhl zu denen der älteren Herren, sah um sich nach den beiden Türen und sprach leise, fast flüsternd: „Sie haben gut darauf geachtet, wie dieser Okolitsch sich benahm, und wie er sich Mühe gab, den Verdacht vom Flecken abzulenken?" Schejin horchte auf, ohne zu begreifen, welche Absicht der Aufseher hatte. „Nun?" fragte der Bezirksaufseher. „Er kommt mir verdächtig vor." Der Bezirksaufseher lehnte sich zurück, hob die Augen zur Zimmerdecke und überlegte. „In welcher Hinsicht verdächtig?" fragte Schejin ahnungslos. „Bemerken Sie, Andrej Fomitsch, er ist Ihr nächster Nachbar, kann Ihnen sozusagen in die Fenster sehen und kennt also ganz genau Ihre Zimmer, Ihre Hausordnung und Gewohnheiten." „Wahrscheinlich, wie ich ziemlich bekannt bin mit dein, was bei ihm geschieht." „Also. Nehmen Sie dazu, daß er ein schlauer, unternehmender Mensch ist und arm. Als Hilfslehrer bekommt er sehr wenig." „Ja, was soll das aber? Was wollen Sie sagen? In welcher Hinsicht halten Sie ihn für verdächtig?" „Nein, nein, Sie sind da auf dem Holzwege," sprach der Bezirksaufseher nachdenklich. „Mir drängte sich der Verdacht gleich bei seinen ersten Worten auf," beharrte Wolski. „Aber welcher Verdacht?" fragte Schejin etwas erregt. „Woran denken Sie? Doch nicht gar, daß Boris Stepanowitsch -" Er endigte nicht. Die Backen bedeckten sich mit Rote. „Ich denke es noch nicht. Ich habe fürs erste nur unwillkürlichen Verdacht. Aber eine Haussuchung auf frischer Tat wäre vielleicht am Platze." „Unsinn, Unsinn!" sprach der Bezirksaufseher. „Er war hier, als die Nachbarn schreien hörten. Sie kamen erst dazu, als die Helfershelfer bereits fort und in Sicherheit waren, und er blieb, um die Nachforschungen in die Ferne zu lenken. Seine Behauptungen, die Fabel vom Hunde — alles das ist mir sehr, sehr verdächtig." Jetzt hatte Schejin voll begriffen. Zornig fuhr er vom Stuhle auf. „Boris Stepanowitsch!" rief er. „Okolitsch! Der ehrlichste, bravste Mensch, den ich kenne! Okolitsch, dem ich Millionen anvertrauen möchte, wenn ich sie hätte!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/492>, abgerufen am 22.07.2024.