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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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mit einer solchen doppeldeutigen Eidesformel hinlänglich dein von dem Vor¬
entwurf betonten zweifellos beachtlicher Gesichtspunkte Rechnung getragen, daß
bei einem großen Teil der Bevölkerung durch das Hineintragen des religiösen
Moments in den Eid eine höhere Sorgfalt und Wahrheitsliebe erzielt würde.
Wir brauchen deshalb auch nicht so weit gehen wie Professor Stoß in seinem
hervorragenden Gutachten zur Materie des Meineids"), der auf das Beispiel
Zürichs verweist, welches seit zweihundert Jahren, und einiger anderer
schweizerischer Kantone, welche seit kurzem jeglichen Eid im Prozesse abgeschafft
haben, und deren Rechtspflege sich dabei so gut befinde, daß sie zum Eide nicht
zurückzukehren wünschen.

Würde aber ein Eid nach französisch-italienischem Vorbilde in Deutschland
eingeführt, so könnte man dessen Anwendung wohl bei allen Vernehmungen
verlangen, welche vor einer zur Abnahme von Eiden zuständigen Behörde statt¬
finden. Denn die Pflicht des Staates zur Wahrheitsermittelung ist, wie oben
ausgeführt, in einem Vorverfahren genau so groß wie in der Hauptverhandlung,
und der Gesichtspunkt, daß die unnötige Anrufung Gottes möglichst vermieden
werde, fiele bei dieser Neufassung des Eides weg. Es bedürfte alsdann im
Vorentwurf nicht zweier getrennter Strafnormen, einmal für den Meineid und
zweitens für die falsche uueidliche Aussage, sondern alle erheblichen Aussagen
würden dann eben eidlich (im neuen Sinne dieses Wortes) abgegeben.

Freilich bin ich nicht optimistisch genug, zu glauben, daß dieser mein
Vorschlag im Bundesrat oder Reichstag durchgehe. Es gilt noch immer das
Wort unseres großen Leipziger Rechtslehrers Binding: "Wer den Festtag
deutscher Rechtspflege noch erleben könnte, an welchem eine erleuchtete mutige
Reichsregierung das erlösende Wort spräche: ,Der Eid in allen seinen Anwendungen
ist aus dem deutschen Rechtsleben verbannt! Wir nötigen den Frommen nicht
mehr zum Schwur, der ihn im Gewissen bedrückt. Wir dulden nicht mehr,
daß der Atheist ihn entheiligt. Wir kommen ohne ihn aus und ersetzen ihn
durch die feierlichste weltliche Wahrheitsversicherung, die wir uns auszudenken
vermöchten. Aber der heilige Mittelpunkt unseres religiösen Lebens soll in die
so unheiligen Rechtsstreitigkeiten des täglichen Lebens nicht mehr hundert- und
tausendfältig hineingezerrt werden. Auch halten wir die Zeit der Selbst¬
verfluchung von Rechts wegen für vergangen'. Dieser Tag wird kommen! Aber
wer von uns wird ihn noch schauen?"





Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts. Besonderer
Teil 3. Band. S. 273 ff. (Berlin 1906. Otto Liebniann,)
Grenzboten IV 19to"i<>

mit einer solchen doppeldeutigen Eidesformel hinlänglich dein von dem Vor¬
entwurf betonten zweifellos beachtlicher Gesichtspunkte Rechnung getragen, daß
bei einem großen Teil der Bevölkerung durch das Hineintragen des religiösen
Moments in den Eid eine höhere Sorgfalt und Wahrheitsliebe erzielt würde.
Wir brauchen deshalb auch nicht so weit gehen wie Professor Stoß in seinem
hervorragenden Gutachten zur Materie des Meineids"), der auf das Beispiel
Zürichs verweist, welches seit zweihundert Jahren, und einiger anderer
schweizerischer Kantone, welche seit kurzem jeglichen Eid im Prozesse abgeschafft
haben, und deren Rechtspflege sich dabei so gut befinde, daß sie zum Eide nicht
zurückzukehren wünschen.

Würde aber ein Eid nach französisch-italienischem Vorbilde in Deutschland
eingeführt, so könnte man dessen Anwendung wohl bei allen Vernehmungen
verlangen, welche vor einer zur Abnahme von Eiden zuständigen Behörde statt¬
finden. Denn die Pflicht des Staates zur Wahrheitsermittelung ist, wie oben
ausgeführt, in einem Vorverfahren genau so groß wie in der Hauptverhandlung,
und der Gesichtspunkt, daß die unnötige Anrufung Gottes möglichst vermieden
werde, fiele bei dieser Neufassung des Eides weg. Es bedürfte alsdann im
Vorentwurf nicht zweier getrennter Strafnormen, einmal für den Meineid und
zweitens für die falsche uueidliche Aussage, sondern alle erheblichen Aussagen
würden dann eben eidlich (im neuen Sinne dieses Wortes) abgegeben.

Freilich bin ich nicht optimistisch genug, zu glauben, daß dieser mein
Vorschlag im Bundesrat oder Reichstag durchgehe. Es gilt noch immer das
Wort unseres großen Leipziger Rechtslehrers Binding: „Wer den Festtag
deutscher Rechtspflege noch erleben könnte, an welchem eine erleuchtete mutige
Reichsregierung das erlösende Wort spräche: ,Der Eid in allen seinen Anwendungen
ist aus dem deutschen Rechtsleben verbannt! Wir nötigen den Frommen nicht
mehr zum Schwur, der ihn im Gewissen bedrückt. Wir dulden nicht mehr,
daß der Atheist ihn entheiligt. Wir kommen ohne ihn aus und ersetzen ihn
durch die feierlichste weltliche Wahrheitsversicherung, die wir uns auszudenken
vermöchten. Aber der heilige Mittelpunkt unseres religiösen Lebens soll in die
so unheiligen Rechtsstreitigkeiten des täglichen Lebens nicht mehr hundert- und
tausendfältig hineingezerrt werden. Auch halten wir die Zeit der Selbst¬
verfluchung von Rechts wegen für vergangen'. Dieser Tag wird kommen! Aber
wer von uns wird ihn noch schauen?"





Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts. Besonderer
Teil 3. Band. S. 273 ff. (Berlin 1906. Otto Liebniann,)
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[0485] mit einer solchen doppeldeutigen Eidesformel hinlänglich dein von dem Vor¬ entwurf betonten zweifellos beachtlicher Gesichtspunkte Rechnung getragen, daß bei einem großen Teil der Bevölkerung durch das Hineintragen des religiösen Moments in den Eid eine höhere Sorgfalt und Wahrheitsliebe erzielt würde. Wir brauchen deshalb auch nicht so weit gehen wie Professor Stoß in seinem hervorragenden Gutachten zur Materie des Meineids"), der auf das Beispiel Zürichs verweist, welches seit zweihundert Jahren, und einiger anderer schweizerischer Kantone, welche seit kurzem jeglichen Eid im Prozesse abgeschafft haben, und deren Rechtspflege sich dabei so gut befinde, daß sie zum Eide nicht zurückzukehren wünschen. Würde aber ein Eid nach französisch-italienischem Vorbilde in Deutschland eingeführt, so könnte man dessen Anwendung wohl bei allen Vernehmungen verlangen, welche vor einer zur Abnahme von Eiden zuständigen Behörde statt¬ finden. Denn die Pflicht des Staates zur Wahrheitsermittelung ist, wie oben ausgeführt, in einem Vorverfahren genau so groß wie in der Hauptverhandlung, und der Gesichtspunkt, daß die unnötige Anrufung Gottes möglichst vermieden werde, fiele bei dieser Neufassung des Eides weg. Es bedürfte alsdann im Vorentwurf nicht zweier getrennter Strafnormen, einmal für den Meineid und zweitens für die falsche uueidliche Aussage, sondern alle erheblichen Aussagen würden dann eben eidlich (im neuen Sinne dieses Wortes) abgegeben. Freilich bin ich nicht optimistisch genug, zu glauben, daß dieser mein Vorschlag im Bundesrat oder Reichstag durchgehe. Es gilt noch immer das Wort unseres großen Leipziger Rechtslehrers Binding: „Wer den Festtag deutscher Rechtspflege noch erleben könnte, an welchem eine erleuchtete mutige Reichsregierung das erlösende Wort spräche: ,Der Eid in allen seinen Anwendungen ist aus dem deutschen Rechtsleben verbannt! Wir nötigen den Frommen nicht mehr zum Schwur, der ihn im Gewissen bedrückt. Wir dulden nicht mehr, daß der Atheist ihn entheiligt. Wir kommen ohne ihn aus und ersetzen ihn durch die feierlichste weltliche Wahrheitsversicherung, die wir uns auszudenken vermöchten. Aber der heilige Mittelpunkt unseres religiösen Lebens soll in die so unheiligen Rechtsstreitigkeiten des täglichen Lebens nicht mehr hundert- und tausendfältig hineingezerrt werden. Auch halten wir die Zeit der Selbst¬ verfluchung von Rechts wegen für vergangen'. Dieser Tag wird kommen! Aber wer von uns wird ihn noch schauen?" Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts. Besonderer Teil 3. Band. S. 273 ff. (Berlin 1906. Otto Liebniann,) Grenzboten IV 19to«i<>

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/485>, abgerufen am 22.07.2024.