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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Kritische Aufsätze

Stelle der Eidesleistung die bei ihnen üblichen Beteuerungsformeln abzugeben.
Was diesen aber recht ist, muß den Dissidenten-Christen einerseits wie den
Atheisten andererseits billig sein.

In England, den Vereinigten Staaten von Nordamerika, Norwegen und dem
Teil der schweizerischen Kantone, welche noch einen religiösen Eid haben, ist es
jedem, welcher erklärt, an keinen persönlichen Gott mehr zu glauben, gestattet,
die Eidesleistung durch eine bürgerliche Versicherung zu ersetzen, welche straf¬
rechtlich dem Eide gleich steht. Ob der Eidespflichtige wirklich irreligiös ist,
darüber werden keine Ermittelungen angestellt. Es ist nicht bekannt geworden --
und das wäre doch das einzige Argument gegen diese Praxis --, daß die Eides¬
verweigerung von Gläubigen, aber zum Meineide Gewillten dazu benutzt worden
sei, um eine falsche Versicherung abzugeben, die nur strafrechtliche, aber nicht
überirdische Folgen nach sich zöge. Es sind wegen Eidesdelikten verurteilt im
Jahre 1902 im Deutschen Reiche 1292 Personen, in England 34 Personen.
Die englisch-norwegische Praxis wäre also das mindeste, was der Entwurf der
Strafprozeßordnung uns bringen müßte. (Auffällig ist übrigens, daß die
Änderungsvorschläge des Berliner Anwaltsvereins zum Entwurf der Strafproze߬
ordnung, welche diesen sonst wahrlich nicht geschont haben, an Eidesnorm und
Eidesformel ohne Kritik vorübergehen.)

Einen noch besseren Ausweg aber zeigt uns die Praxis Frankreichs und
Italiens. Hier ist aus der Eidesformel der Name Gottes verschwunden, und
es lautet z. B. der Zeugeneid in Frankreich: ,,^e jure, ac cZire la vöritö se
nen qus Is perils". Ob in dem Worte juror nicht bereits ein religiöses
Moment liegt, darüber besteht in der französischen und italienischen Wissenschaft
eine Streitfrage. Die französische Praxis aber löst diese aufs glücklichste, indem
sie je nach der Persönlichkeit des Schwurpflichtigen diesem gestattet, das jurer
als eine religiöse oder auch als eine bloß bürgerliche Versicherung aufzufassen.
Der Justizminister Mancini hat im italienischen Senate erklärt, der Eid sei für
die Gläubigen eine religiöse Handlung und schließe den Gedanken an Gott in
sich, aber für die, die uicht an Gott glauben, habe er keine religiöse Bedeutung.
Unser deutsches Wort "schwören" hat denselben glücklichen Doppelsinn wie jurer,
und es würde deshalb eine Eidesformel etwa des Wortlautes: "Ich schwöre,
die reine Wahrheit zu sagen, und nichts als diese" von Religiösen als eine
religiöse Versicherung, von Irreligiösen als eine bürgerliche Versicherung auf¬
gefaßt werden können. Dem Takte des Richters wäre es dann überlassen, je
nach der Person des Eidespflichtigen, welche er vor sich hat, diese bloß ans
die kriminellen Folgen des Meineids oder auch auf die religiöse Bedeutung des
Eides hinzuweisen.

Daß auch Frankreich und Italien mit der Doppeldeutigkeit ihrer Eidesformel
keine schlechten Erfahrungen gemacht haben, dafür spricht wiederum die Kriminal¬
statistik. Es wurden wegen Eidesdelikten verurteilt im Jahre 1902 im Deutschen
Reiche 1292 Personen, in Frankreich 72 und in Italien etwa 700. Es wäre


Kritische Aufsätze

Stelle der Eidesleistung die bei ihnen üblichen Beteuerungsformeln abzugeben.
Was diesen aber recht ist, muß den Dissidenten-Christen einerseits wie den
Atheisten andererseits billig sein.

In England, den Vereinigten Staaten von Nordamerika, Norwegen und dem
Teil der schweizerischen Kantone, welche noch einen religiösen Eid haben, ist es
jedem, welcher erklärt, an keinen persönlichen Gott mehr zu glauben, gestattet,
die Eidesleistung durch eine bürgerliche Versicherung zu ersetzen, welche straf¬
rechtlich dem Eide gleich steht. Ob der Eidespflichtige wirklich irreligiös ist,
darüber werden keine Ermittelungen angestellt. Es ist nicht bekannt geworden —
und das wäre doch das einzige Argument gegen diese Praxis —, daß die Eides¬
verweigerung von Gläubigen, aber zum Meineide Gewillten dazu benutzt worden
sei, um eine falsche Versicherung abzugeben, die nur strafrechtliche, aber nicht
überirdische Folgen nach sich zöge. Es sind wegen Eidesdelikten verurteilt im
Jahre 1902 im Deutschen Reiche 1292 Personen, in England 34 Personen.
Die englisch-norwegische Praxis wäre also das mindeste, was der Entwurf der
Strafprozeßordnung uns bringen müßte. (Auffällig ist übrigens, daß die
Änderungsvorschläge des Berliner Anwaltsvereins zum Entwurf der Strafproze߬
ordnung, welche diesen sonst wahrlich nicht geschont haben, an Eidesnorm und
Eidesformel ohne Kritik vorübergehen.)

Einen noch besseren Ausweg aber zeigt uns die Praxis Frankreichs und
Italiens. Hier ist aus der Eidesformel der Name Gottes verschwunden, und
es lautet z. B. der Zeugeneid in Frankreich: ,,^e jure, ac cZire la vöritö se
nen qus Is perils". Ob in dem Worte juror nicht bereits ein religiöses
Moment liegt, darüber besteht in der französischen und italienischen Wissenschaft
eine Streitfrage. Die französische Praxis aber löst diese aufs glücklichste, indem
sie je nach der Persönlichkeit des Schwurpflichtigen diesem gestattet, das jurer
als eine religiöse oder auch als eine bloß bürgerliche Versicherung aufzufassen.
Der Justizminister Mancini hat im italienischen Senate erklärt, der Eid sei für
die Gläubigen eine religiöse Handlung und schließe den Gedanken an Gott in
sich, aber für die, die uicht an Gott glauben, habe er keine religiöse Bedeutung.
Unser deutsches Wort „schwören" hat denselben glücklichen Doppelsinn wie jurer,
und es würde deshalb eine Eidesformel etwa des Wortlautes: „Ich schwöre,
die reine Wahrheit zu sagen, und nichts als diese" von Religiösen als eine
religiöse Versicherung, von Irreligiösen als eine bürgerliche Versicherung auf¬
gefaßt werden können. Dem Takte des Richters wäre es dann überlassen, je
nach der Person des Eidespflichtigen, welche er vor sich hat, diese bloß ans
die kriminellen Folgen des Meineids oder auch auf die religiöse Bedeutung des
Eides hinzuweisen.

Daß auch Frankreich und Italien mit der Doppeldeutigkeit ihrer Eidesformel
keine schlechten Erfahrungen gemacht haben, dafür spricht wiederum die Kriminal¬
statistik. Es wurden wegen Eidesdelikten verurteilt im Jahre 1902 im Deutschen
Reiche 1292 Personen, in Frankreich 72 und in Italien etwa 700. Es wäre


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[0484] Kritische Aufsätze Stelle der Eidesleistung die bei ihnen üblichen Beteuerungsformeln abzugeben. Was diesen aber recht ist, muß den Dissidenten-Christen einerseits wie den Atheisten andererseits billig sein. In England, den Vereinigten Staaten von Nordamerika, Norwegen und dem Teil der schweizerischen Kantone, welche noch einen religiösen Eid haben, ist es jedem, welcher erklärt, an keinen persönlichen Gott mehr zu glauben, gestattet, die Eidesleistung durch eine bürgerliche Versicherung zu ersetzen, welche straf¬ rechtlich dem Eide gleich steht. Ob der Eidespflichtige wirklich irreligiös ist, darüber werden keine Ermittelungen angestellt. Es ist nicht bekannt geworden — und das wäre doch das einzige Argument gegen diese Praxis —, daß die Eides¬ verweigerung von Gläubigen, aber zum Meineide Gewillten dazu benutzt worden sei, um eine falsche Versicherung abzugeben, die nur strafrechtliche, aber nicht überirdische Folgen nach sich zöge. Es sind wegen Eidesdelikten verurteilt im Jahre 1902 im Deutschen Reiche 1292 Personen, in England 34 Personen. Die englisch-norwegische Praxis wäre also das mindeste, was der Entwurf der Strafprozeßordnung uns bringen müßte. (Auffällig ist übrigens, daß die Änderungsvorschläge des Berliner Anwaltsvereins zum Entwurf der Strafproze߬ ordnung, welche diesen sonst wahrlich nicht geschont haben, an Eidesnorm und Eidesformel ohne Kritik vorübergehen.) Einen noch besseren Ausweg aber zeigt uns die Praxis Frankreichs und Italiens. Hier ist aus der Eidesformel der Name Gottes verschwunden, und es lautet z. B. der Zeugeneid in Frankreich: ,,^e jure, ac cZire la vöritö se nen qus Is perils". Ob in dem Worte juror nicht bereits ein religiöses Moment liegt, darüber besteht in der französischen und italienischen Wissenschaft eine Streitfrage. Die französische Praxis aber löst diese aufs glücklichste, indem sie je nach der Persönlichkeit des Schwurpflichtigen diesem gestattet, das jurer als eine religiöse oder auch als eine bloß bürgerliche Versicherung aufzufassen. Der Justizminister Mancini hat im italienischen Senate erklärt, der Eid sei für die Gläubigen eine religiöse Handlung und schließe den Gedanken an Gott in sich, aber für die, die uicht an Gott glauben, habe er keine religiöse Bedeutung. Unser deutsches Wort „schwören" hat denselben glücklichen Doppelsinn wie jurer, und es würde deshalb eine Eidesformel etwa des Wortlautes: „Ich schwöre, die reine Wahrheit zu sagen, und nichts als diese" von Religiösen als eine religiöse Versicherung, von Irreligiösen als eine bürgerliche Versicherung auf¬ gefaßt werden können. Dem Takte des Richters wäre es dann überlassen, je nach der Person des Eidespflichtigen, welche er vor sich hat, diese bloß ans die kriminellen Folgen des Meineids oder auch auf die religiöse Bedeutung des Eides hinzuweisen. Daß auch Frankreich und Italien mit der Doppeldeutigkeit ihrer Eidesformel keine schlechten Erfahrungen gemacht haben, dafür spricht wiederum die Kriminal¬ statistik. Es wurden wegen Eidesdelikten verurteilt im Jahre 1902 im Deutschen Reiche 1292 Personen, in Frankreich 72 und in Italien etwa 700. Es wäre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/484>, abgerufen am 22.07.2024.