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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Im Flecken

"Weg, alles weg! Armes Kind! Bettler sind wir. Nichts kann ich dir
hinterlassen."

"Haben sie das Geld aus der Kommode gestohlen?" fragte an der Tür der
Sohn des Soldaten den Vater, und dieser erwiderte:

"Nein, auf der Kommode stand die Schatulle auf dem Wachstuch. Siehst
du, das haben sie mit heruntergezogen."

"War die Schatulle ein großes Stück?"

"Ein flaches poliertes Kästchen. Es nahm noch nicht die Hälfte der Kom¬
mode ein."

Frau Okolitsch kam mit ihrer Laterne. Sie bekreuzte sich.

"Gott ist barmherzig," sagte sie, "daß er Sie hat leben lassen, aber Ihre
Magd -- sie liegt im Vorhause --"

"Tot!" schrie Olga auf und wollte hinaus.

Okolitsch vertrat ihr den Weg und hielt sie sanft am Arme auf.

"Olga Andrejewna, wir wollen hoffen, daß sie lebt. Aber ersparen Sie sich
fürs erste den Anblick. Gehen Sie, kleiden Sie sich an, und helfen Sie dann
Ihrem Vater in die Kleider. Nach der Magd werde ich sehen. Was geschehen
kann, soll geschehen. Verlassen Sie sich darauf."

Sie blickte ihn an, neigte zustimmend den Kopf und ging errötend in ihre
Kammer. Okolitsch winkte der Mutter, bei dem Hauptmann zu bleiben, und begab
sich mit den Nachbarn und Bol hinaus.

Im Vorhause lag die Magd ausgestreckt quer vor der Küchentür. Eine Seite
ihres Gesichts war mit Blut bedeckt. Okolitsch beugte sich zu ihr nieder.

"Junger Herr, wir dürfen sie nicht anrühren, bis die Polizei kommt," sagte
der Soldat.

"Und unterdessen stirbt sie vielleicht, wenn noch Leben in ihr ist!" rief
Okolitsch unmutig. "Dummes Zeug! Faßt an."

Der Hund hatte sie beschnuppert und begann ihr das blutige Gesicht zu lecken.
Da schlug sie die Augen auf.

Sie wurde in ihr Kämmerchen neben der Küche getragen. Okolitsch fand ein
Handtuch und wusch ihr das Blut ab. Sie kam zur Besinnung. Sie hatte einen
schweren Schlag vor die Stirn bekommen. Die eine Schläfe war stark angeschwollen,
und aus der gesprungenen Haut sickerte etwas Blut. Sonst war sie unbeschädigt.
Sie konnte sich aufsetzn? und selbst das in kaltes Wasser getauchte Handtuch an
die kranke Stelle halten.

Als Okolitsch in das Kabinett zurückkehrte und diese beruhigende Nachricht
mitteilte, waren der Vater und die Tochter bereits in Ordnung, und der erstere
hatte seine Ruhe einigermaßen wiedergewonnen. Er war tief traurig, wollte aber
doch die Magd sehen. AIs die ganze Gesellschaft ins Vorhaus trat, lenkte Bol
die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Er schnüffelte auf der Diele und Haus¬
schwelle umher und wedelte.

"Bol, was hast du, mein Hund?"

Das Tier sprang zu Okolitsch, sah zu ihm auf, wedelte und knurrte.

"Was will er nur sagen?" fragte die Mutter.

"Vor, Bol, suche!" sprach Okolitsch ermunternd.


Im Flecken

„Weg, alles weg! Armes Kind! Bettler sind wir. Nichts kann ich dir
hinterlassen."

„Haben sie das Geld aus der Kommode gestohlen?" fragte an der Tür der
Sohn des Soldaten den Vater, und dieser erwiderte:

„Nein, auf der Kommode stand die Schatulle auf dem Wachstuch. Siehst
du, das haben sie mit heruntergezogen."

„War die Schatulle ein großes Stück?"

„Ein flaches poliertes Kästchen. Es nahm noch nicht die Hälfte der Kom¬
mode ein."

Frau Okolitsch kam mit ihrer Laterne. Sie bekreuzte sich.

„Gott ist barmherzig," sagte sie, „daß er Sie hat leben lassen, aber Ihre
Magd — sie liegt im Vorhause —"

„Tot!" schrie Olga auf und wollte hinaus.

Okolitsch vertrat ihr den Weg und hielt sie sanft am Arme auf.

„Olga Andrejewna, wir wollen hoffen, daß sie lebt. Aber ersparen Sie sich
fürs erste den Anblick. Gehen Sie, kleiden Sie sich an, und helfen Sie dann
Ihrem Vater in die Kleider. Nach der Magd werde ich sehen. Was geschehen
kann, soll geschehen. Verlassen Sie sich darauf."

Sie blickte ihn an, neigte zustimmend den Kopf und ging errötend in ihre
Kammer. Okolitsch winkte der Mutter, bei dem Hauptmann zu bleiben, und begab
sich mit den Nachbarn und Bol hinaus.

Im Vorhause lag die Magd ausgestreckt quer vor der Küchentür. Eine Seite
ihres Gesichts war mit Blut bedeckt. Okolitsch beugte sich zu ihr nieder.

„Junger Herr, wir dürfen sie nicht anrühren, bis die Polizei kommt," sagte
der Soldat.

„Und unterdessen stirbt sie vielleicht, wenn noch Leben in ihr ist!" rief
Okolitsch unmutig. „Dummes Zeug! Faßt an."

Der Hund hatte sie beschnuppert und begann ihr das blutige Gesicht zu lecken.
Da schlug sie die Augen auf.

Sie wurde in ihr Kämmerchen neben der Küche getragen. Okolitsch fand ein
Handtuch und wusch ihr das Blut ab. Sie kam zur Besinnung. Sie hatte einen
schweren Schlag vor die Stirn bekommen. Die eine Schläfe war stark angeschwollen,
und aus der gesprungenen Haut sickerte etwas Blut. Sonst war sie unbeschädigt.
Sie konnte sich aufsetzn? und selbst das in kaltes Wasser getauchte Handtuch an
die kranke Stelle halten.

Als Okolitsch in das Kabinett zurückkehrte und diese beruhigende Nachricht
mitteilte, waren der Vater und die Tochter bereits in Ordnung, und der erstere
hatte seine Ruhe einigermaßen wiedergewonnen. Er war tief traurig, wollte aber
doch die Magd sehen. AIs die ganze Gesellschaft ins Vorhaus trat, lenkte Bol
die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Er schnüffelte auf der Diele und Haus¬
schwelle umher und wedelte.

„Bol, was hast du, mein Hund?"

Das Tier sprang zu Okolitsch, sah zu ihm auf, wedelte und knurrte.

„Was will er nur sagen?" fragte die Mutter.

„Vor, Bol, suche!" sprach Okolitsch ermunternd.


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[0392] Im Flecken „Weg, alles weg! Armes Kind! Bettler sind wir. Nichts kann ich dir hinterlassen." „Haben sie das Geld aus der Kommode gestohlen?" fragte an der Tür der Sohn des Soldaten den Vater, und dieser erwiderte: „Nein, auf der Kommode stand die Schatulle auf dem Wachstuch. Siehst du, das haben sie mit heruntergezogen." „War die Schatulle ein großes Stück?" „Ein flaches poliertes Kästchen. Es nahm noch nicht die Hälfte der Kom¬ mode ein." Frau Okolitsch kam mit ihrer Laterne. Sie bekreuzte sich. „Gott ist barmherzig," sagte sie, „daß er Sie hat leben lassen, aber Ihre Magd — sie liegt im Vorhause —" „Tot!" schrie Olga auf und wollte hinaus. Okolitsch vertrat ihr den Weg und hielt sie sanft am Arme auf. „Olga Andrejewna, wir wollen hoffen, daß sie lebt. Aber ersparen Sie sich fürs erste den Anblick. Gehen Sie, kleiden Sie sich an, und helfen Sie dann Ihrem Vater in die Kleider. Nach der Magd werde ich sehen. Was geschehen kann, soll geschehen. Verlassen Sie sich darauf." Sie blickte ihn an, neigte zustimmend den Kopf und ging errötend in ihre Kammer. Okolitsch winkte der Mutter, bei dem Hauptmann zu bleiben, und begab sich mit den Nachbarn und Bol hinaus. Im Vorhause lag die Magd ausgestreckt quer vor der Küchentür. Eine Seite ihres Gesichts war mit Blut bedeckt. Okolitsch beugte sich zu ihr nieder. „Junger Herr, wir dürfen sie nicht anrühren, bis die Polizei kommt," sagte der Soldat. „Und unterdessen stirbt sie vielleicht, wenn noch Leben in ihr ist!" rief Okolitsch unmutig. „Dummes Zeug! Faßt an." Der Hund hatte sie beschnuppert und begann ihr das blutige Gesicht zu lecken. Da schlug sie die Augen auf. Sie wurde in ihr Kämmerchen neben der Küche getragen. Okolitsch fand ein Handtuch und wusch ihr das Blut ab. Sie kam zur Besinnung. Sie hatte einen schweren Schlag vor die Stirn bekommen. Die eine Schläfe war stark angeschwollen, und aus der gesprungenen Haut sickerte etwas Blut. Sonst war sie unbeschädigt. Sie konnte sich aufsetzn? und selbst das in kaltes Wasser getauchte Handtuch an die kranke Stelle halten. Als Okolitsch in das Kabinett zurückkehrte und diese beruhigende Nachricht mitteilte, waren der Vater und die Tochter bereits in Ordnung, und der erstere hatte seine Ruhe einigermaßen wiedergewonnen. Er war tief traurig, wollte aber doch die Magd sehen. AIs die ganze Gesellschaft ins Vorhaus trat, lenkte Bol die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Er schnüffelte auf der Diele und Haus¬ schwelle umher und wedelte. „Bol, was hast du, mein Hund?" Das Tier sprang zu Okolitsch, sah zu ihm auf, wedelte und knurrte. „Was will er nur sagen?" fragte die Mutter. „Vor, Bol, suche!" sprach Okolitsch ermunternd.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/392>, abgerufen am 22.07.2024.