Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der neue deutsche Shakespeare

aber nicht minder ein Verehrer, ein vereri, ein veneran, ein Schaffen aus den:
Zustand begeisterter Scheu und andächtiger Verherrlichung.

Wer das Werk Shakespeares in ein anderes Absehen setzt, lebt außerhalb
der Kräfte, die allein dichterische Welt machen und etwas für sie bedeuten. Der
schöne Vers, die groß erfundene Handlung, ihre feine Motivierung oder gewaltige
Ausspannung, die folgerechte Anlage, Entwicklung, Auflösung der sogenannten
Charaktere haben als solche weder für sich noch zusammen etwas mit Dichtung
zu tun. Das ist ebenso Mache wie irgendein anderes Berufliches, das oft
schwerer und nur mit längerer Übung und härteren Prüfungen erworben werden
kann. Was nicht erworben werden kann und eben das mittlere Kennzeichen
des Dichterischen ist, ist das seine Mitwelt überwindende, überfliegende Ergreifen
und Errichten ihres Symbolon für sie, das als ein Zngleichwirksamwerden von
(sinnlichem) Sehen, (übersinnlichen) Erfahren und (menschlich-werkmäßigem)
Machen zu den wahren unbegreiflichen Wundern der Welt gehört, die man
"Kunst" nennt. Davon etwas abzuleiten und eine Gattung daraus zu machen,
ist ebenso sinnig, wie wenn man den Mannaregen in der Wüste oder den Fall
Jerichos zu Typen machen und daraus ein für allemal gültige weltliche
Institutionen ableiten wollte, die für die Nachwelt noch die Verbesserung und
Vervollkommnung der an sich vollbürtigen primären Erscheinungen übrig ließen.

Diejenigen, die die Kunst Shakespeares als Angel und Pol einer dramatischen
Literatur verkünden, die die "Aufgabe" hat, sogenannte "tragische Notwendig¬
keiten", "ewige, in sich beruhende Menschheitskonslikte" darzustellen, sehen
Shakespeare bestenfalls als den Vergrößernngsspiegel ihres eigenen Ingeniums,
sehen, wie sie immer tun, nicht mit sinnlichen Organen das Sachliche, sondern
mit begrifflich verstümmelten das Kategorische, (Venerische, das nie zu sehen ist,
das aber, wie es scheint, für die heutige Welt die vollkommene Macht des
tatsächlich Sichtbaren besitzt. So sehr, daß die unbegriffliche Ansicht des ein¬
zelnen Wirklichen ihm gegenüber schon sensationell gesteigert oder idealisiert
erscheint. Ein Theaterstück ist nicht mehr ein Theaterstück, in dem etwas vor¬
geht. Nicht mehr der Held, die Handlung, der Vorgang wird gesehen, erlebt,
empfunden, sondern es ist das Ding aus einer Gattung "Drama" (ob es will
oder nicht; auch der französische Exzentrikschwank muß sich das gleiche kritische
Gerät gefallen lassen), das die Anforderungen des Gattungsbegriffs an Kon¬
struktion, Motivation, Psychologie mit seinen Helden, Handlungen, Vorgängen
so oder so, gut, weniger gut oder schlecht erfüllt. Daß es als sachliches Ding
in seiner Ganzheit (Gesehenes und Gestaltetes in Einheit, wie es dasteht) für
die Zeit etwas bedeuten kann und von daher angesprochen werden muß und
nicht von der Gattung her, ist natürlich den Wirklichkeitblinden, Begriffsichtigen
fremd. Da erscheint denn Shakespeare als der glänzende Konstrukteur der "in
sich notwendigen, in sich bedingten ewigen Konflikte", als der feine Motivierer,
der scharfe Psychologe. (Welche Beleidigung und Schmähung sür den Dichter,
ihn mit Vorzügen zu behängen, die jedem seinen Beruf ausfüllende" Beamten


Der neue deutsche Shakespeare

aber nicht minder ein Verehrer, ein vereri, ein veneran, ein Schaffen aus den:
Zustand begeisterter Scheu und andächtiger Verherrlichung.

Wer das Werk Shakespeares in ein anderes Absehen setzt, lebt außerhalb
der Kräfte, die allein dichterische Welt machen und etwas für sie bedeuten. Der
schöne Vers, die groß erfundene Handlung, ihre feine Motivierung oder gewaltige
Ausspannung, die folgerechte Anlage, Entwicklung, Auflösung der sogenannten
Charaktere haben als solche weder für sich noch zusammen etwas mit Dichtung
zu tun. Das ist ebenso Mache wie irgendein anderes Berufliches, das oft
schwerer und nur mit längerer Übung und härteren Prüfungen erworben werden
kann. Was nicht erworben werden kann und eben das mittlere Kennzeichen
des Dichterischen ist, ist das seine Mitwelt überwindende, überfliegende Ergreifen
und Errichten ihres Symbolon für sie, das als ein Zngleichwirksamwerden von
(sinnlichem) Sehen, (übersinnlichen) Erfahren und (menschlich-werkmäßigem)
Machen zu den wahren unbegreiflichen Wundern der Welt gehört, die man
„Kunst" nennt. Davon etwas abzuleiten und eine Gattung daraus zu machen,
ist ebenso sinnig, wie wenn man den Mannaregen in der Wüste oder den Fall
Jerichos zu Typen machen und daraus ein für allemal gültige weltliche
Institutionen ableiten wollte, die für die Nachwelt noch die Verbesserung und
Vervollkommnung der an sich vollbürtigen primären Erscheinungen übrig ließen.

Diejenigen, die die Kunst Shakespeares als Angel und Pol einer dramatischen
Literatur verkünden, die die „Aufgabe" hat, sogenannte „tragische Notwendig¬
keiten", „ewige, in sich beruhende Menschheitskonslikte" darzustellen, sehen
Shakespeare bestenfalls als den Vergrößernngsspiegel ihres eigenen Ingeniums,
sehen, wie sie immer tun, nicht mit sinnlichen Organen das Sachliche, sondern
mit begrifflich verstümmelten das Kategorische, (Venerische, das nie zu sehen ist,
das aber, wie es scheint, für die heutige Welt die vollkommene Macht des
tatsächlich Sichtbaren besitzt. So sehr, daß die unbegriffliche Ansicht des ein¬
zelnen Wirklichen ihm gegenüber schon sensationell gesteigert oder idealisiert
erscheint. Ein Theaterstück ist nicht mehr ein Theaterstück, in dem etwas vor¬
geht. Nicht mehr der Held, die Handlung, der Vorgang wird gesehen, erlebt,
empfunden, sondern es ist das Ding aus einer Gattung „Drama" (ob es will
oder nicht; auch der französische Exzentrikschwank muß sich das gleiche kritische
Gerät gefallen lassen), das die Anforderungen des Gattungsbegriffs an Kon¬
struktion, Motivation, Psychologie mit seinen Helden, Handlungen, Vorgängen
so oder so, gut, weniger gut oder schlecht erfüllt. Daß es als sachliches Ding
in seiner Ganzheit (Gesehenes und Gestaltetes in Einheit, wie es dasteht) für
die Zeit etwas bedeuten kann und von daher angesprochen werden muß und
nicht von der Gattung her, ist natürlich den Wirklichkeitblinden, Begriffsichtigen
fremd. Da erscheint denn Shakespeare als der glänzende Konstrukteur der „in
sich notwendigen, in sich bedingten ewigen Konflikte", als der feine Motivierer,
der scharfe Psychologe. (Welche Beleidigung und Schmähung sür den Dichter,
ihn mit Vorzügen zu behängen, die jedem seinen Beruf ausfüllende» Beamten


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0359" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/317310"/>
          <fw type="header" place="top"> Der neue deutsche Shakespeare</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1640" prev="#ID_1639"> aber nicht minder ein Verehrer, ein vereri, ein veneran, ein Schaffen aus den:<lb/>
Zustand begeisterter Scheu und andächtiger Verherrlichung.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1641"> Wer das Werk Shakespeares in ein anderes Absehen setzt, lebt außerhalb<lb/>
der Kräfte, die allein dichterische Welt machen und etwas für sie bedeuten. Der<lb/>
schöne Vers, die groß erfundene Handlung, ihre feine Motivierung oder gewaltige<lb/>
Ausspannung, die folgerechte Anlage, Entwicklung, Auflösung der sogenannten<lb/>
Charaktere haben als solche weder für sich noch zusammen etwas mit Dichtung<lb/>
zu tun. Das ist ebenso Mache wie irgendein anderes Berufliches, das oft<lb/>
schwerer und nur mit längerer Übung und härteren Prüfungen erworben werden<lb/>
kann. Was nicht erworben werden kann und eben das mittlere Kennzeichen<lb/>
des Dichterischen ist, ist das seine Mitwelt überwindende, überfliegende Ergreifen<lb/>
und Errichten ihres Symbolon für sie, das als ein Zngleichwirksamwerden von<lb/>
(sinnlichem) Sehen, (übersinnlichen) Erfahren und (menschlich-werkmäßigem)<lb/>
Machen zu den wahren unbegreiflichen Wundern der Welt gehört, die man<lb/>
&#x201E;Kunst" nennt. Davon etwas abzuleiten und eine Gattung daraus zu machen,<lb/>
ist ebenso sinnig, wie wenn man den Mannaregen in der Wüste oder den Fall<lb/>
Jerichos zu Typen machen und daraus ein für allemal gültige weltliche<lb/>
Institutionen ableiten wollte, die für die Nachwelt noch die Verbesserung und<lb/>
Vervollkommnung der an sich vollbürtigen primären Erscheinungen übrig ließen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1642" next="#ID_1643"> Diejenigen, die die Kunst Shakespeares als Angel und Pol einer dramatischen<lb/>
Literatur verkünden, die die &#x201E;Aufgabe" hat, sogenannte &#x201E;tragische Notwendig¬<lb/>
keiten", &#x201E;ewige, in sich beruhende Menschheitskonslikte" darzustellen, sehen<lb/>
Shakespeare bestenfalls als den Vergrößernngsspiegel ihres eigenen Ingeniums,<lb/>
sehen, wie sie immer tun, nicht mit sinnlichen Organen das Sachliche, sondern<lb/>
mit begrifflich verstümmelten das Kategorische, (Venerische, das nie zu sehen ist,<lb/>
das aber, wie es scheint, für die heutige Welt die vollkommene Macht des<lb/>
tatsächlich Sichtbaren besitzt. So sehr, daß die unbegriffliche Ansicht des ein¬<lb/>
zelnen Wirklichen ihm gegenüber schon sensationell gesteigert oder idealisiert<lb/>
erscheint. Ein Theaterstück ist nicht mehr ein Theaterstück, in dem etwas vor¬<lb/>
geht. Nicht mehr der Held, die Handlung, der Vorgang wird gesehen, erlebt,<lb/>
empfunden, sondern es ist das Ding aus einer Gattung &#x201E;Drama" (ob es will<lb/>
oder nicht; auch der französische Exzentrikschwank muß sich das gleiche kritische<lb/>
Gerät gefallen lassen), das die Anforderungen des Gattungsbegriffs an Kon¬<lb/>
struktion, Motivation, Psychologie mit seinen Helden, Handlungen, Vorgängen<lb/>
so oder so, gut, weniger gut oder schlecht erfüllt. Daß es als sachliches Ding<lb/>
in seiner Ganzheit (Gesehenes und Gestaltetes in Einheit, wie es dasteht) für<lb/>
die Zeit etwas bedeuten kann und von daher angesprochen werden muß und<lb/>
nicht von der Gattung her, ist natürlich den Wirklichkeitblinden, Begriffsichtigen<lb/>
fremd. Da erscheint denn Shakespeare als der glänzende Konstrukteur der &#x201E;in<lb/>
sich notwendigen, in sich bedingten ewigen Konflikte", als der feine Motivierer,<lb/>
der scharfe Psychologe. (Welche Beleidigung und Schmähung sür den Dichter,<lb/>
ihn mit Vorzügen zu behängen, die jedem seinen Beruf ausfüllende» Beamten</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0359] Der neue deutsche Shakespeare aber nicht minder ein Verehrer, ein vereri, ein veneran, ein Schaffen aus den: Zustand begeisterter Scheu und andächtiger Verherrlichung. Wer das Werk Shakespeares in ein anderes Absehen setzt, lebt außerhalb der Kräfte, die allein dichterische Welt machen und etwas für sie bedeuten. Der schöne Vers, die groß erfundene Handlung, ihre feine Motivierung oder gewaltige Ausspannung, die folgerechte Anlage, Entwicklung, Auflösung der sogenannten Charaktere haben als solche weder für sich noch zusammen etwas mit Dichtung zu tun. Das ist ebenso Mache wie irgendein anderes Berufliches, das oft schwerer und nur mit längerer Übung und härteren Prüfungen erworben werden kann. Was nicht erworben werden kann und eben das mittlere Kennzeichen des Dichterischen ist, ist das seine Mitwelt überwindende, überfliegende Ergreifen und Errichten ihres Symbolon für sie, das als ein Zngleichwirksamwerden von (sinnlichem) Sehen, (übersinnlichen) Erfahren und (menschlich-werkmäßigem) Machen zu den wahren unbegreiflichen Wundern der Welt gehört, die man „Kunst" nennt. Davon etwas abzuleiten und eine Gattung daraus zu machen, ist ebenso sinnig, wie wenn man den Mannaregen in der Wüste oder den Fall Jerichos zu Typen machen und daraus ein für allemal gültige weltliche Institutionen ableiten wollte, die für die Nachwelt noch die Verbesserung und Vervollkommnung der an sich vollbürtigen primären Erscheinungen übrig ließen. Diejenigen, die die Kunst Shakespeares als Angel und Pol einer dramatischen Literatur verkünden, die die „Aufgabe" hat, sogenannte „tragische Notwendig¬ keiten", „ewige, in sich beruhende Menschheitskonslikte" darzustellen, sehen Shakespeare bestenfalls als den Vergrößernngsspiegel ihres eigenen Ingeniums, sehen, wie sie immer tun, nicht mit sinnlichen Organen das Sachliche, sondern mit begrifflich verstümmelten das Kategorische, (Venerische, das nie zu sehen ist, das aber, wie es scheint, für die heutige Welt die vollkommene Macht des tatsächlich Sichtbaren besitzt. So sehr, daß die unbegriffliche Ansicht des ein¬ zelnen Wirklichen ihm gegenüber schon sensationell gesteigert oder idealisiert erscheint. Ein Theaterstück ist nicht mehr ein Theaterstück, in dem etwas vor¬ geht. Nicht mehr der Held, die Handlung, der Vorgang wird gesehen, erlebt, empfunden, sondern es ist das Ding aus einer Gattung „Drama" (ob es will oder nicht; auch der französische Exzentrikschwank muß sich das gleiche kritische Gerät gefallen lassen), das die Anforderungen des Gattungsbegriffs an Kon¬ struktion, Motivation, Psychologie mit seinen Helden, Handlungen, Vorgängen so oder so, gut, weniger gut oder schlecht erfüllt. Daß es als sachliches Ding in seiner Ganzheit (Gesehenes und Gestaltetes in Einheit, wie es dasteht) für die Zeit etwas bedeuten kann und von daher angesprochen werden muß und nicht von der Gattung her, ist natürlich den Wirklichkeitblinden, Begriffsichtigen fremd. Da erscheint denn Shakespeare als der glänzende Konstrukteur der „in sich notwendigen, in sich bedingten ewigen Konflikte", als der feine Motivierer, der scharfe Psychologe. (Welche Beleidigung und Schmähung sür den Dichter, ihn mit Vorzügen zu behängen, die jedem seinen Beruf ausfüllende» Beamten

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/359
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/359>, abgerufen am 22.07.2024.