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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Im Flecken
Erzählung aus der russischen Provinz
Alexander Andreas--v, Reyher von
Fünftes Kapitel: Die Heiratskandidaten.

Als Wolski von der Ankunft der beiden Töchter Marja und Olga aus den
Häusern Botscharow und Schejin hörte, stand es sogleich bei ihm fest, eine von
ihnen zu wählen und zur Frau Wolski zu machen. Die Sache betrachtete er als
so entschieden, daß er einen ganzen Tag darüber grübelte, welcher von beiden er
den Vorzug geben solle. Geld hatten nach der allgemeinen Ansicht der Flecken¬
bewohner die Väter beider zur Genüge, wenn Botscharow auch als sehr viel reicher
galt, und beide Mädchen waren die einzigen Erben des ganzen väterlichen Ver¬
mögens. Unwillkürlich zog es ihn mehr zu Olga, die adlich war wie er selbst.
Die reiche und gebildete Kaufmannstochter war jedoch auch nicht zu verachten. --
Er kam endlich zu dem Schlüsse, er wolle seinem Geschmack ein Zugeständnis
Machen und die nehmen, die ihm besser behagen würde.

Nachdem er das mit sich ausgemacht hatte, besorgte er sich die zur eigenen
äußeren Eleganz nötigen neuen Stücke, und zwar gegen bare Zahlung. Geld
dazu besaß er im Augenblick nicht, aber er verwandte darauf die Summe, die er
seinem Speisewirt Tschernow und seiner Stubenwirtiu hatte einzahlen wollen.
Tschernow und die Stubenwirtin mochten warten, denn ob er denen schuldete oder
nicht, das erfuhr nicht so leicht jemand. Tschernow war jedenfalls in diesem
Stücke verschwiegen wie das Grab. Die Sachen zur Verschönerung seines Ich
mußte er bei Utjanow kaufen, und dort hielt er es unter den gegebenen Umständen
für nötig, nicht schuldig zu bleiben, denn Utjauow konnte im Gespräch mit
Botscharow aus Gedankenlosigkeit oder Bosheit der Sache Erwähnung tun. Es
konnte sich zum Beispiel treffen, daß Utjanow mit Botscharow auf der Straße
zusammenstand und er selbst gerade vorüberging. Wie leicht konnte Utjanow
sagen: "Sieh doch, wie er sich in meinen Federn brüstet, denn was er auf dem
Leibe hat, ist er mir schuldig!" Das wäre eine gar schlechte Empfehlung. O,
er war vor- und weitsichtig, der Aufseher Wladimir Jwanowitsch Wolski, und
wußte genau, wessen dergleichen Leute fähig sind.

Zuerst gelang es ihm, Olga zu Gesicht zu bekommen, als sie mit einem
Buche in der Hand auf die Chaussee trat und in den Flecken -- zu Marja --
ging. Er streifte sie mit einem prüfenden Blick von oben bis unten, wie ein


Grenzboten IV 1910 40


Im Flecken
Erzählung aus der russischen Provinz
Alexander Andreas--v, Reyher von
Fünftes Kapitel: Die Heiratskandidaten.

Als Wolski von der Ankunft der beiden Töchter Marja und Olga aus den
Häusern Botscharow und Schejin hörte, stand es sogleich bei ihm fest, eine von
ihnen zu wählen und zur Frau Wolski zu machen. Die Sache betrachtete er als
so entschieden, daß er einen ganzen Tag darüber grübelte, welcher von beiden er
den Vorzug geben solle. Geld hatten nach der allgemeinen Ansicht der Flecken¬
bewohner die Väter beider zur Genüge, wenn Botscharow auch als sehr viel reicher
galt, und beide Mädchen waren die einzigen Erben des ganzen väterlichen Ver¬
mögens. Unwillkürlich zog es ihn mehr zu Olga, die adlich war wie er selbst.
Die reiche und gebildete Kaufmannstochter war jedoch auch nicht zu verachten. —
Er kam endlich zu dem Schlüsse, er wolle seinem Geschmack ein Zugeständnis
Machen und die nehmen, die ihm besser behagen würde.

Nachdem er das mit sich ausgemacht hatte, besorgte er sich die zur eigenen
äußeren Eleganz nötigen neuen Stücke, und zwar gegen bare Zahlung. Geld
dazu besaß er im Augenblick nicht, aber er verwandte darauf die Summe, die er
seinem Speisewirt Tschernow und seiner Stubenwirtiu hatte einzahlen wollen.
Tschernow und die Stubenwirtin mochten warten, denn ob er denen schuldete oder
nicht, das erfuhr nicht so leicht jemand. Tschernow war jedenfalls in diesem
Stücke verschwiegen wie das Grab. Die Sachen zur Verschönerung seines Ich
mußte er bei Utjanow kaufen, und dort hielt er es unter den gegebenen Umständen
für nötig, nicht schuldig zu bleiben, denn Utjauow konnte im Gespräch mit
Botscharow aus Gedankenlosigkeit oder Bosheit der Sache Erwähnung tun. Es
konnte sich zum Beispiel treffen, daß Utjanow mit Botscharow auf der Straße
zusammenstand und er selbst gerade vorüberging. Wie leicht konnte Utjanow
sagen: „Sieh doch, wie er sich in meinen Federn brüstet, denn was er auf dem
Leibe hat, ist er mir schuldig!" Das wäre eine gar schlechte Empfehlung. O,
er war vor- und weitsichtig, der Aufseher Wladimir Jwanowitsch Wolski, und
wußte genau, wessen dergleichen Leute fähig sind.

Zuerst gelang es ihm, Olga zu Gesicht zu bekommen, als sie mit einem
Buche in der Hand auf die Chaussee trat und in den Flecken — zu Marja —
ging. Er streifte sie mit einem prüfenden Blick von oben bis unten, wie ein


Grenzboten IV 1910 40
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[0325] [Abbildung] Im Flecken Erzählung aus der russischen Provinz Alexander Andreas--v, Reyher von Fünftes Kapitel: Die Heiratskandidaten. Als Wolski von der Ankunft der beiden Töchter Marja und Olga aus den Häusern Botscharow und Schejin hörte, stand es sogleich bei ihm fest, eine von ihnen zu wählen und zur Frau Wolski zu machen. Die Sache betrachtete er als so entschieden, daß er einen ganzen Tag darüber grübelte, welcher von beiden er den Vorzug geben solle. Geld hatten nach der allgemeinen Ansicht der Flecken¬ bewohner die Väter beider zur Genüge, wenn Botscharow auch als sehr viel reicher galt, und beide Mädchen waren die einzigen Erben des ganzen väterlichen Ver¬ mögens. Unwillkürlich zog es ihn mehr zu Olga, die adlich war wie er selbst. Die reiche und gebildete Kaufmannstochter war jedoch auch nicht zu verachten. — Er kam endlich zu dem Schlüsse, er wolle seinem Geschmack ein Zugeständnis Machen und die nehmen, die ihm besser behagen würde. Nachdem er das mit sich ausgemacht hatte, besorgte er sich die zur eigenen äußeren Eleganz nötigen neuen Stücke, und zwar gegen bare Zahlung. Geld dazu besaß er im Augenblick nicht, aber er verwandte darauf die Summe, die er seinem Speisewirt Tschernow und seiner Stubenwirtiu hatte einzahlen wollen. Tschernow und die Stubenwirtin mochten warten, denn ob er denen schuldete oder nicht, das erfuhr nicht so leicht jemand. Tschernow war jedenfalls in diesem Stücke verschwiegen wie das Grab. Die Sachen zur Verschönerung seines Ich mußte er bei Utjanow kaufen, und dort hielt er es unter den gegebenen Umständen für nötig, nicht schuldig zu bleiben, denn Utjauow konnte im Gespräch mit Botscharow aus Gedankenlosigkeit oder Bosheit der Sache Erwähnung tun. Es konnte sich zum Beispiel treffen, daß Utjanow mit Botscharow auf der Straße zusammenstand und er selbst gerade vorüberging. Wie leicht konnte Utjanow sagen: „Sieh doch, wie er sich in meinen Federn brüstet, denn was er auf dem Leibe hat, ist er mir schuldig!" Das wäre eine gar schlechte Empfehlung. O, er war vor- und weitsichtig, der Aufseher Wladimir Jwanowitsch Wolski, und wußte genau, wessen dergleichen Leute fähig sind. Zuerst gelang es ihm, Olga zu Gesicht zu bekommen, als sie mit einem Buche in der Hand auf die Chaussee trat und in den Flecken — zu Marja — ging. Er streifte sie mit einem prüfenden Blick von oben bis unten, wie ein Grenzboten IV 1910 40

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/325>, abgerufen am 23.07.2024.