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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Biologie und Schule

Mit der Vertiefung der Beschäftigung mit den Einzelerkenntnissen, wie sie
von den Schulmännern jetzt fast überall angestrebt wird, verfällt der biologische
Unterricht in den früheren, jetzt wohl nieist überwundenen Fehler des Geschichts¬
unterrichts, indem er mehr die besonderen Bedürfnisse des Faches im Auge hat
als die der Schule und der besonderen Schulgattung. Insbesondere für das
Gymnasium hatte ich eine Vertiefung in die allgemeinen Gesichtspunkte für
nötig. Nur so fügt sich das Fach harmonisch in die Organisation des Gym¬
nasiums ein, statt ihm wie ein fremdes Reis mit widerwilliger Duldung gegen¬
über den Forderungen der Neuzeit aufgepfropft zu sein. Denn was soll der
angehende Jurist, Theologe, Sprach- oder Geschichtsforscher mit jenen "Teilen
in der Hand" viel anfangen? Es schadet ihm gewiß nichts, sondern kann ihm
nur von Nutzen sein, wenn er dabei zugleich auch in den Oberklassen weiter
Auge und Hand wie seinen Verstand durch eigene Beobachtungen und Versuche
schuld, soweit Zeit und Neigung Gelegenheit und Anlaß dazu bieten. Wenn
aber der biologische Unterricht in den Oberklassen fehlt oder nicht bis zu den
allgemeinen Gesichtspunkten vordringt, suchen gerade die tüchtigen unter den
Schülern, was die Schule ihnen nicht bietet, durch Privatlektüre zu gewinnen.
Da ist doch gewiß einer solchen planlosen und oft in die Irre führenden Privat¬
lektüre ein durch einen geeigneten Lehrer erteilter führender Unterricht in der
allgemeinen Biologie vorzuziehen, der die Schüler erkennen läßt, daß es bio¬
logische Gesetze gibt, oder sagen wir vorläufig lieber bescheidener Gesetzmäßigkeiten,
die schließlich auch im Menschenleben sich betätigen.") Nur so hat es der Lehrer
in der Hand, die beginnenden Versuche gerade der besten Schüler, sich eine
eigene Weltanschauung zu bilden, mit sanftem Zügel mehr vorsichtig zurück¬
zuhalten als in bestimmte Richtung zu leiten, aber doch vor den schlimmsten
Abwegen zu bewahren. Das kann nur ein berufener Lehrer der Naturgeschichte;
jedem anderen würden die Schüler passiven Widerstand entgegensetzen.

Wenn man der Weltauffassung entlassungsreifer Schüler nachgeht -- nicht
direkt, da würde man wenig aufrichtigen Bescheid erhalten, sondern durch Ver¬
mittelung philosophisch veranlagter und seelenkundiger junger Freunde, die schon
ins Leben eingetreten sind --, so wird malt erfahret:, daß nur ein kleiner Teil
und mehr gewohnheitsmäßig oder gefühlsmäßig an der kirchlichen Überlieferung
festhält, ein nicht geringer Teil, dem nur die größte Summe des Lebensgenusses



") Die neuerlichen Ausführungen Alb. NeivmayrS in der Politisch-Anthropologischen
Revue zur Entwickelung des spartanischen Nntionnlcharakters und zur Entwickelungsgeschichte
ber Charaktere und künstlerischen Anlagen des attischen Volkes lassen erkennen, wie biologische
Auffassung auf die Geschichte zu übertragen ist, die dadurch eine wesentliche Klärung erfährt.
Sie zeigen ferner, das; gerade die alte Geschichte mit ihren einfacheren und übersichtlicheren
Verhältnissen sich besonders für diese Betrachtung eignet und damit, das; die Beschäftigung der
Schule mit dein Altertum much vom naturwissenschaftlichen Standpunkte keine überlebte
Sache ist
Biologie und Schule

Mit der Vertiefung der Beschäftigung mit den Einzelerkenntnissen, wie sie
von den Schulmännern jetzt fast überall angestrebt wird, verfällt der biologische
Unterricht in den früheren, jetzt wohl nieist überwundenen Fehler des Geschichts¬
unterrichts, indem er mehr die besonderen Bedürfnisse des Faches im Auge hat
als die der Schule und der besonderen Schulgattung. Insbesondere für das
Gymnasium hatte ich eine Vertiefung in die allgemeinen Gesichtspunkte für
nötig. Nur so fügt sich das Fach harmonisch in die Organisation des Gym¬
nasiums ein, statt ihm wie ein fremdes Reis mit widerwilliger Duldung gegen¬
über den Forderungen der Neuzeit aufgepfropft zu sein. Denn was soll der
angehende Jurist, Theologe, Sprach- oder Geschichtsforscher mit jenen „Teilen
in der Hand" viel anfangen? Es schadet ihm gewiß nichts, sondern kann ihm
nur von Nutzen sein, wenn er dabei zugleich auch in den Oberklassen weiter
Auge und Hand wie seinen Verstand durch eigene Beobachtungen und Versuche
schuld, soweit Zeit und Neigung Gelegenheit und Anlaß dazu bieten. Wenn
aber der biologische Unterricht in den Oberklassen fehlt oder nicht bis zu den
allgemeinen Gesichtspunkten vordringt, suchen gerade die tüchtigen unter den
Schülern, was die Schule ihnen nicht bietet, durch Privatlektüre zu gewinnen.
Da ist doch gewiß einer solchen planlosen und oft in die Irre führenden Privat¬
lektüre ein durch einen geeigneten Lehrer erteilter führender Unterricht in der
allgemeinen Biologie vorzuziehen, der die Schüler erkennen läßt, daß es bio¬
logische Gesetze gibt, oder sagen wir vorläufig lieber bescheidener Gesetzmäßigkeiten,
die schließlich auch im Menschenleben sich betätigen.") Nur so hat es der Lehrer
in der Hand, die beginnenden Versuche gerade der besten Schüler, sich eine
eigene Weltanschauung zu bilden, mit sanftem Zügel mehr vorsichtig zurück¬
zuhalten als in bestimmte Richtung zu leiten, aber doch vor den schlimmsten
Abwegen zu bewahren. Das kann nur ein berufener Lehrer der Naturgeschichte;
jedem anderen würden die Schüler passiven Widerstand entgegensetzen.

Wenn man der Weltauffassung entlassungsreifer Schüler nachgeht — nicht
direkt, da würde man wenig aufrichtigen Bescheid erhalten, sondern durch Ver¬
mittelung philosophisch veranlagter und seelenkundiger junger Freunde, die schon
ins Leben eingetreten sind —, so wird malt erfahret:, daß nur ein kleiner Teil
und mehr gewohnheitsmäßig oder gefühlsmäßig an der kirchlichen Überlieferung
festhält, ein nicht geringer Teil, dem nur die größte Summe des Lebensgenusses



") Die neuerlichen Ausführungen Alb. NeivmayrS in der Politisch-Anthropologischen
Revue zur Entwickelung des spartanischen Nntionnlcharakters und zur Entwickelungsgeschichte
ber Charaktere und künstlerischen Anlagen des attischen Volkes lassen erkennen, wie biologische
Auffassung auf die Geschichte zu übertragen ist, die dadurch eine wesentliche Klärung erfährt.
Sie zeigen ferner, das; gerade die alte Geschichte mit ihren einfacheren und übersichtlicheren
Verhältnissen sich besonders für diese Betrachtung eignet und damit, das; die Beschäftigung der
Schule mit dein Altertum much vom naturwissenschaftlichen Standpunkte keine überlebte
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[0315] Biologie und Schule Mit der Vertiefung der Beschäftigung mit den Einzelerkenntnissen, wie sie von den Schulmännern jetzt fast überall angestrebt wird, verfällt der biologische Unterricht in den früheren, jetzt wohl nieist überwundenen Fehler des Geschichts¬ unterrichts, indem er mehr die besonderen Bedürfnisse des Faches im Auge hat als die der Schule und der besonderen Schulgattung. Insbesondere für das Gymnasium hatte ich eine Vertiefung in die allgemeinen Gesichtspunkte für nötig. Nur so fügt sich das Fach harmonisch in die Organisation des Gym¬ nasiums ein, statt ihm wie ein fremdes Reis mit widerwilliger Duldung gegen¬ über den Forderungen der Neuzeit aufgepfropft zu sein. Denn was soll der angehende Jurist, Theologe, Sprach- oder Geschichtsforscher mit jenen „Teilen in der Hand" viel anfangen? Es schadet ihm gewiß nichts, sondern kann ihm nur von Nutzen sein, wenn er dabei zugleich auch in den Oberklassen weiter Auge und Hand wie seinen Verstand durch eigene Beobachtungen und Versuche schuld, soweit Zeit und Neigung Gelegenheit und Anlaß dazu bieten. Wenn aber der biologische Unterricht in den Oberklassen fehlt oder nicht bis zu den allgemeinen Gesichtspunkten vordringt, suchen gerade die tüchtigen unter den Schülern, was die Schule ihnen nicht bietet, durch Privatlektüre zu gewinnen. Da ist doch gewiß einer solchen planlosen und oft in die Irre führenden Privat¬ lektüre ein durch einen geeigneten Lehrer erteilter führender Unterricht in der allgemeinen Biologie vorzuziehen, der die Schüler erkennen läßt, daß es bio¬ logische Gesetze gibt, oder sagen wir vorläufig lieber bescheidener Gesetzmäßigkeiten, die schließlich auch im Menschenleben sich betätigen.") Nur so hat es der Lehrer in der Hand, die beginnenden Versuche gerade der besten Schüler, sich eine eigene Weltanschauung zu bilden, mit sanftem Zügel mehr vorsichtig zurück¬ zuhalten als in bestimmte Richtung zu leiten, aber doch vor den schlimmsten Abwegen zu bewahren. Das kann nur ein berufener Lehrer der Naturgeschichte; jedem anderen würden die Schüler passiven Widerstand entgegensetzen. Wenn man der Weltauffassung entlassungsreifer Schüler nachgeht — nicht direkt, da würde man wenig aufrichtigen Bescheid erhalten, sondern durch Ver¬ mittelung philosophisch veranlagter und seelenkundiger junger Freunde, die schon ins Leben eingetreten sind —, so wird malt erfahret:, daß nur ein kleiner Teil und mehr gewohnheitsmäßig oder gefühlsmäßig an der kirchlichen Überlieferung festhält, ein nicht geringer Teil, dem nur die größte Summe des Lebensgenusses ") Die neuerlichen Ausführungen Alb. NeivmayrS in der Politisch-Anthropologischen Revue zur Entwickelung des spartanischen Nntionnlcharakters und zur Entwickelungsgeschichte ber Charaktere und künstlerischen Anlagen des attischen Volkes lassen erkennen, wie biologische Auffassung auf die Geschichte zu übertragen ist, die dadurch eine wesentliche Klärung erfährt. Sie zeigen ferner, das; gerade die alte Geschichte mit ihren einfacheren und übersichtlicheren Verhältnissen sich besonders für diese Betrachtung eignet und damit, das; die Beschäftigung der Schule mit dein Altertum much vom naturwissenschaftlichen Standpunkte keine überlebte Sache ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/315>, abgerufen am 22.07.2024.