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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Biologie und Schule

reihe voraus, in der es zu der Vollkommenheit gelangen konnte, die diese
Erfindung ermöglichte, und eine geistige Nachwirkung der wissenschaftlichen und
technischen Errungenschaften zahlreicher anderer Menschen. Der Unterschied ist
bloß der, daß in dein ersten Fall die Finalität die Mittel des eigenen Körpers
benutzt, im anderen Falle äußere Mittel. Ob es sich schließlich um ein Gliedertier
handelt, bei dem schon die Absonderung eines Nervensystems eingetreten ist, oder
um ein noch niedereres, vielleicht selbst einzelliges Wesen ohne jene Sonderung,
ist auch ohne Belang für die prinzipielle Unterscheidung. Denn wenn die
Finalität eine Eigenschaft des nervösen Organs ist, so muß sie auch eine
Eigenschaft jeder einzelnen Zelle sein, die dies Organ und den ganzen Körper
hervorbringen, beziehungsweise fortpflanzen kann. Wir kommen um so sicherer
zu dieser Ansicht, als auch in anderer Beziehung Vervollkommnung in einer
lokalen Konzentrierung der Verrichtungen besteht, die bei niederen Formen über
einen größeren Teil oder über den ganzen Organismus verteilt waren. Eine
weitere Steigerung der Leistung wird, zumal beim Menschen, durch die Konzen¬
tration der Hirntätigkeit in einzelnen Individuen bedingt, wodurch erst die höchsten
Kulmrleistuugen möglich werden.-- Den Begriff der Seele an das Bewußtsein
zu knüpfen und dies an das Vorhandensein eines Nervensystems, ist nicht angängig,
denn noch beim Menschen findet sehr viel zentrale Nerventätigkeit statt ohne
Bewußtsein. Selbst innerhalb des Menschengeschlechts gibt es Abstufungen des
Bewußtseins, und den Urgrund des Handelns bilden auch bei ihm die unbewußten,
allerdings immer vielseitiger kombinierten, sich gegenseitig bestimmenden, ver¬
stärkenden oder abschwächenden Triebe, denen die bewußte Überlegung nur als
Hemmung übergeordnet ist.

Nun möchte es dem Leser vielleicht scheinen, als ob ich von meinem Thema
der Biologie in der Schule abgekommen bin. Gehören, so fragt er, wissenschaft¬
liche Theorien überhaupt auf die Schule? Gewiß nicht, wenn der Schule die
Aufgabe zugeschrieben wird, über die wissenschaftlichen Probleme zu entscheiden.
Aber das betrachte ich allerdings nicht bloß als das Recht, sondern als die
Pflicht der Schule, den herangereiften Schülern zu zeigen, welche Probleme zur
Lösung der Rätsel des Lebens die Wissenschaft beschäftigen. Daß ich in meinem
Leitfaden der allgemeinen Biologie für die Prima des Gymnasiums die vor¬
stehend entwickelte Theorie des Neolamarckismus, der hauptsächlich von Frauen
und Pcmln vertreten wird, überhaupt oder nicht bloß als "Kuriosum" erwähnt
habe, erscheint einem Kritiker dieses Büchleins in der "Neuen Weltanschauung",
Zeitschrift des Mouistenbundes, merkwürdig. Auch in der Schule ist eben die
mechanistische Naturauffassung herrschend geworden. Aber ich sage, wenn der
jetzt auch für die Oberklassen der höheren Schulen angestrebte und teilweise schon
eingeführte biologische Unterricht überhaupt Fühlung behalten solian dem Gemüt der
herangereiften Schüler, so darf er nicht nach dem Rezepte Mephistos verfahren:


Biologie und Schule

reihe voraus, in der es zu der Vollkommenheit gelangen konnte, die diese
Erfindung ermöglichte, und eine geistige Nachwirkung der wissenschaftlichen und
technischen Errungenschaften zahlreicher anderer Menschen. Der Unterschied ist
bloß der, daß in dein ersten Fall die Finalität die Mittel des eigenen Körpers
benutzt, im anderen Falle äußere Mittel. Ob es sich schließlich um ein Gliedertier
handelt, bei dem schon die Absonderung eines Nervensystems eingetreten ist, oder
um ein noch niedereres, vielleicht selbst einzelliges Wesen ohne jene Sonderung,
ist auch ohne Belang für die prinzipielle Unterscheidung. Denn wenn die
Finalität eine Eigenschaft des nervösen Organs ist, so muß sie auch eine
Eigenschaft jeder einzelnen Zelle sein, die dies Organ und den ganzen Körper
hervorbringen, beziehungsweise fortpflanzen kann. Wir kommen um so sicherer
zu dieser Ansicht, als auch in anderer Beziehung Vervollkommnung in einer
lokalen Konzentrierung der Verrichtungen besteht, die bei niederen Formen über
einen größeren Teil oder über den ganzen Organismus verteilt waren. Eine
weitere Steigerung der Leistung wird, zumal beim Menschen, durch die Konzen¬
tration der Hirntätigkeit in einzelnen Individuen bedingt, wodurch erst die höchsten
Kulmrleistuugen möglich werden.— Den Begriff der Seele an das Bewußtsein
zu knüpfen und dies an das Vorhandensein eines Nervensystems, ist nicht angängig,
denn noch beim Menschen findet sehr viel zentrale Nerventätigkeit statt ohne
Bewußtsein. Selbst innerhalb des Menschengeschlechts gibt es Abstufungen des
Bewußtseins, und den Urgrund des Handelns bilden auch bei ihm die unbewußten,
allerdings immer vielseitiger kombinierten, sich gegenseitig bestimmenden, ver¬
stärkenden oder abschwächenden Triebe, denen die bewußte Überlegung nur als
Hemmung übergeordnet ist.

Nun möchte es dem Leser vielleicht scheinen, als ob ich von meinem Thema
der Biologie in der Schule abgekommen bin. Gehören, so fragt er, wissenschaft¬
liche Theorien überhaupt auf die Schule? Gewiß nicht, wenn der Schule die
Aufgabe zugeschrieben wird, über die wissenschaftlichen Probleme zu entscheiden.
Aber das betrachte ich allerdings nicht bloß als das Recht, sondern als die
Pflicht der Schule, den herangereiften Schülern zu zeigen, welche Probleme zur
Lösung der Rätsel des Lebens die Wissenschaft beschäftigen. Daß ich in meinem
Leitfaden der allgemeinen Biologie für die Prima des Gymnasiums die vor¬
stehend entwickelte Theorie des Neolamarckismus, der hauptsächlich von Frauen
und Pcmln vertreten wird, überhaupt oder nicht bloß als „Kuriosum" erwähnt
habe, erscheint einem Kritiker dieses Büchleins in der „Neuen Weltanschauung",
Zeitschrift des Mouistenbundes, merkwürdig. Auch in der Schule ist eben die
mechanistische Naturauffassung herrschend geworden. Aber ich sage, wenn der
jetzt auch für die Oberklassen der höheren Schulen angestrebte und teilweise schon
eingeführte biologische Unterricht überhaupt Fühlung behalten solian dem Gemüt der
herangereiften Schüler, so darf er nicht nach dem Rezepte Mephistos verfahren:


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[0314] Biologie und Schule reihe voraus, in der es zu der Vollkommenheit gelangen konnte, die diese Erfindung ermöglichte, und eine geistige Nachwirkung der wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften zahlreicher anderer Menschen. Der Unterschied ist bloß der, daß in dein ersten Fall die Finalität die Mittel des eigenen Körpers benutzt, im anderen Falle äußere Mittel. Ob es sich schließlich um ein Gliedertier handelt, bei dem schon die Absonderung eines Nervensystems eingetreten ist, oder um ein noch niedereres, vielleicht selbst einzelliges Wesen ohne jene Sonderung, ist auch ohne Belang für die prinzipielle Unterscheidung. Denn wenn die Finalität eine Eigenschaft des nervösen Organs ist, so muß sie auch eine Eigenschaft jeder einzelnen Zelle sein, die dies Organ und den ganzen Körper hervorbringen, beziehungsweise fortpflanzen kann. Wir kommen um so sicherer zu dieser Ansicht, als auch in anderer Beziehung Vervollkommnung in einer lokalen Konzentrierung der Verrichtungen besteht, die bei niederen Formen über einen größeren Teil oder über den ganzen Organismus verteilt waren. Eine weitere Steigerung der Leistung wird, zumal beim Menschen, durch die Konzen¬ tration der Hirntätigkeit in einzelnen Individuen bedingt, wodurch erst die höchsten Kulmrleistuugen möglich werden.— Den Begriff der Seele an das Bewußtsein zu knüpfen und dies an das Vorhandensein eines Nervensystems, ist nicht angängig, denn noch beim Menschen findet sehr viel zentrale Nerventätigkeit statt ohne Bewußtsein. Selbst innerhalb des Menschengeschlechts gibt es Abstufungen des Bewußtseins, und den Urgrund des Handelns bilden auch bei ihm die unbewußten, allerdings immer vielseitiger kombinierten, sich gegenseitig bestimmenden, ver¬ stärkenden oder abschwächenden Triebe, denen die bewußte Überlegung nur als Hemmung übergeordnet ist. Nun möchte es dem Leser vielleicht scheinen, als ob ich von meinem Thema der Biologie in der Schule abgekommen bin. Gehören, so fragt er, wissenschaft¬ liche Theorien überhaupt auf die Schule? Gewiß nicht, wenn der Schule die Aufgabe zugeschrieben wird, über die wissenschaftlichen Probleme zu entscheiden. Aber das betrachte ich allerdings nicht bloß als das Recht, sondern als die Pflicht der Schule, den herangereiften Schülern zu zeigen, welche Probleme zur Lösung der Rätsel des Lebens die Wissenschaft beschäftigen. Daß ich in meinem Leitfaden der allgemeinen Biologie für die Prima des Gymnasiums die vor¬ stehend entwickelte Theorie des Neolamarckismus, der hauptsächlich von Frauen und Pcmln vertreten wird, überhaupt oder nicht bloß als „Kuriosum" erwähnt habe, erscheint einem Kritiker dieses Büchleins in der „Neuen Weltanschauung", Zeitschrift des Mouistenbundes, merkwürdig. Auch in der Schule ist eben die mechanistische Naturauffassung herrschend geworden. Aber ich sage, wenn der jetzt auch für die Oberklassen der höheren Schulen angestrebte und teilweise schon eingeführte biologische Unterricht überhaupt Fühlung behalten solian dem Gemüt der herangereiften Schüler, so darf er nicht nach dem Rezepte Mephistos verfahren:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/314>, abgerufen am 22.07.2024.