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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Biologie und Schule

Versuchs anstellers nötig ist, um überhaupt einen einigermaßen zuverlässigen
Schluß aus den Versuchen zu ziehen. Warum also unnützerweise schon auf der
Schule die Lehre vom Leben zu einer Laboratoriums-Wissenschaft machen!
Es kann sich nur darum handeln, einfache Versuche und vor allem die Er¬
scheinungen der heimatlichen freien Natur zu benutzen, um die vorgebrachte
Lehre "plausibel" zu machen. Ob diese Versuche oder Beobachtungen vorangestellt
und die theoretische Auffassung daran angeknüpft (nicht daraus "abgeleitet")
wird, oder ob sie als "Bestätigung" hinterher gebracht werden, ist ziemlich
gleichgültig: ein Wechsel würde sogar zur Belebung des Unterrichts beitragen.
Nur kein Schema i?I Ob diese Versuche weiter von den Schülern selber an¬
gestellt werden, kann für die wissenschaftliche Schulung der jungen Leute doch
gewiß nicht von Belang sein, geschweige denn davon die Rede sein, diese
Wissenschaft "auf Schülerübungen zu basieren", womit natürlich gegen den
praktischen Nutzen solcher Übungen an sich nichts gesagt fein soll. Selbst für
einfachere biologische Verhältnisse, z. B. Blütenbestäubung, halte ich Schüler-
bcobachtungen nicht für den geeigneten Ausgangspunkt. Allein um festzustellen,
welche Kerfe die Bestäubung einer bestimmten Pflanze vermitteln, müßten an¬
haltende, genau registrierte Beobachtungen durch einzelne Personen vorgenommen
werden. (Massenbeobachtung ist hier ausgeschlossen!) Und wie die Be¬
stäubung erfolgt, das ist noch schwerer und oft wegen des den Vorgang
verdeckenden Körpers des Insekts überhaupt nicht zu beobachten, sondern nur
durch Kombination zu erschließen. Was soll man da von Schülern erwarten,
wenn in einer bekannten, von der Kritik gelobten Blütenbiologie die verhältnis¬
mäßig einfache Bestäubung der rundblättrigen Glockenblume sogar bildlich so
dargestellt wird, als wenn sie durch den Rücken der Hummel erfolgte!

Natürlich soll die Lehre vom Leben nicht einfach "doziert" werden, sondern
sie hat an den aus dem Leben und aus dem Unterricht der unteren Klassen
mitgebrachten Vorstellungskreis der Schüler anzuknüpfen und foll nach Möglich¬
keit durch die jeweils geeignetsten Anschauungsmittel und Versuche, sowie
Beobachtungen im Freien verständlich gemacht und durch Anregung des eigenen
Nachdenkens der Schüler über die Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten geistig
"erarbeitet", nicht aber nach einem Lese- und Bilderbuch eingepaukt werden.
So kann in: Unterricht dauernd der Blick auf die Zusammenhänge des Natur¬
ganzen in der besonderen Ausgestaltung der heimatlichen Gegend gerichtet
bleiben und das heutzutage alles überwuchernde Spezialistentum vermieden
werden.

Während in der Wissenschaft die philosophisch veranlagten Forscher sich von
der Darwinschen Theorie der Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl
abgewendet haben, erhält sie und die mechanistische Naturauffassung überhaupt
eine scheinbare Stütze durch die neuere Tierphysiologie, die immer tiefer in die
Lebensvorgänge eindringt und ihre chemisch-physikalischen Grundlagen erkennen
läßt. In der Einleitung zu seinen "Vorlesungen über die Dynamik der Lebens-


Biologie und Schule

Versuchs anstellers nötig ist, um überhaupt einen einigermaßen zuverlässigen
Schluß aus den Versuchen zu ziehen. Warum also unnützerweise schon auf der
Schule die Lehre vom Leben zu einer Laboratoriums-Wissenschaft machen!
Es kann sich nur darum handeln, einfache Versuche und vor allem die Er¬
scheinungen der heimatlichen freien Natur zu benutzen, um die vorgebrachte
Lehre „plausibel" zu machen. Ob diese Versuche oder Beobachtungen vorangestellt
und die theoretische Auffassung daran angeknüpft (nicht daraus „abgeleitet")
wird, oder ob sie als „Bestätigung" hinterher gebracht werden, ist ziemlich
gleichgültig: ein Wechsel würde sogar zur Belebung des Unterrichts beitragen.
Nur kein Schema i?I Ob diese Versuche weiter von den Schülern selber an¬
gestellt werden, kann für die wissenschaftliche Schulung der jungen Leute doch
gewiß nicht von Belang sein, geschweige denn davon die Rede sein, diese
Wissenschaft „auf Schülerübungen zu basieren", womit natürlich gegen den
praktischen Nutzen solcher Übungen an sich nichts gesagt fein soll. Selbst für
einfachere biologische Verhältnisse, z. B. Blütenbestäubung, halte ich Schüler-
bcobachtungen nicht für den geeigneten Ausgangspunkt. Allein um festzustellen,
welche Kerfe die Bestäubung einer bestimmten Pflanze vermitteln, müßten an¬
haltende, genau registrierte Beobachtungen durch einzelne Personen vorgenommen
werden. (Massenbeobachtung ist hier ausgeschlossen!) Und wie die Be¬
stäubung erfolgt, das ist noch schwerer und oft wegen des den Vorgang
verdeckenden Körpers des Insekts überhaupt nicht zu beobachten, sondern nur
durch Kombination zu erschließen. Was soll man da von Schülern erwarten,
wenn in einer bekannten, von der Kritik gelobten Blütenbiologie die verhältnis¬
mäßig einfache Bestäubung der rundblättrigen Glockenblume sogar bildlich so
dargestellt wird, als wenn sie durch den Rücken der Hummel erfolgte!

Natürlich soll die Lehre vom Leben nicht einfach „doziert" werden, sondern
sie hat an den aus dem Leben und aus dem Unterricht der unteren Klassen
mitgebrachten Vorstellungskreis der Schüler anzuknüpfen und foll nach Möglich¬
keit durch die jeweils geeignetsten Anschauungsmittel und Versuche, sowie
Beobachtungen im Freien verständlich gemacht und durch Anregung des eigenen
Nachdenkens der Schüler über die Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten geistig
„erarbeitet", nicht aber nach einem Lese- und Bilderbuch eingepaukt werden.
So kann in: Unterricht dauernd der Blick auf die Zusammenhänge des Natur¬
ganzen in der besonderen Ausgestaltung der heimatlichen Gegend gerichtet
bleiben und das heutzutage alles überwuchernde Spezialistentum vermieden
werden.

Während in der Wissenschaft die philosophisch veranlagten Forscher sich von
der Darwinschen Theorie der Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl
abgewendet haben, erhält sie und die mechanistische Naturauffassung überhaupt
eine scheinbare Stütze durch die neuere Tierphysiologie, die immer tiefer in die
Lebensvorgänge eindringt und ihre chemisch-physikalischen Grundlagen erkennen
läßt. In der Einleitung zu seinen „Vorlesungen über die Dynamik der Lebens-


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[0312] Biologie und Schule Versuchs anstellers nötig ist, um überhaupt einen einigermaßen zuverlässigen Schluß aus den Versuchen zu ziehen. Warum also unnützerweise schon auf der Schule die Lehre vom Leben zu einer Laboratoriums-Wissenschaft machen! Es kann sich nur darum handeln, einfache Versuche und vor allem die Er¬ scheinungen der heimatlichen freien Natur zu benutzen, um die vorgebrachte Lehre „plausibel" zu machen. Ob diese Versuche oder Beobachtungen vorangestellt und die theoretische Auffassung daran angeknüpft (nicht daraus „abgeleitet") wird, oder ob sie als „Bestätigung" hinterher gebracht werden, ist ziemlich gleichgültig: ein Wechsel würde sogar zur Belebung des Unterrichts beitragen. Nur kein Schema i?I Ob diese Versuche weiter von den Schülern selber an¬ gestellt werden, kann für die wissenschaftliche Schulung der jungen Leute doch gewiß nicht von Belang sein, geschweige denn davon die Rede sein, diese Wissenschaft „auf Schülerübungen zu basieren", womit natürlich gegen den praktischen Nutzen solcher Übungen an sich nichts gesagt fein soll. Selbst für einfachere biologische Verhältnisse, z. B. Blütenbestäubung, halte ich Schüler- bcobachtungen nicht für den geeigneten Ausgangspunkt. Allein um festzustellen, welche Kerfe die Bestäubung einer bestimmten Pflanze vermitteln, müßten an¬ haltende, genau registrierte Beobachtungen durch einzelne Personen vorgenommen werden. (Massenbeobachtung ist hier ausgeschlossen!) Und wie die Be¬ stäubung erfolgt, das ist noch schwerer und oft wegen des den Vorgang verdeckenden Körpers des Insekts überhaupt nicht zu beobachten, sondern nur durch Kombination zu erschließen. Was soll man da von Schülern erwarten, wenn in einer bekannten, von der Kritik gelobten Blütenbiologie die verhältnis¬ mäßig einfache Bestäubung der rundblättrigen Glockenblume sogar bildlich so dargestellt wird, als wenn sie durch den Rücken der Hummel erfolgte! Natürlich soll die Lehre vom Leben nicht einfach „doziert" werden, sondern sie hat an den aus dem Leben und aus dem Unterricht der unteren Klassen mitgebrachten Vorstellungskreis der Schüler anzuknüpfen und foll nach Möglich¬ keit durch die jeweils geeignetsten Anschauungsmittel und Versuche, sowie Beobachtungen im Freien verständlich gemacht und durch Anregung des eigenen Nachdenkens der Schüler über die Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten geistig „erarbeitet", nicht aber nach einem Lese- und Bilderbuch eingepaukt werden. So kann in: Unterricht dauernd der Blick auf die Zusammenhänge des Natur¬ ganzen in der besonderen Ausgestaltung der heimatlichen Gegend gerichtet bleiben und das heutzutage alles überwuchernde Spezialistentum vermieden werden. Während in der Wissenschaft die philosophisch veranlagten Forscher sich von der Darwinschen Theorie der Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl abgewendet haben, erhält sie und die mechanistische Naturauffassung überhaupt eine scheinbare Stütze durch die neuere Tierphysiologie, die immer tiefer in die Lebensvorgänge eindringt und ihre chemisch-physikalischen Grundlagen erkennen läßt. In der Einleitung zu seinen „Vorlesungen über die Dynamik der Lebens-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/312>, abgerufen am 23.07.2024.