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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Biologie und Schule

Anpassungen zu berücksichtigen, soweit sie verständlich und anschaulich gemacht
werden können. Sie dienen zur Würzung und Belebung des Unterrichts und
bilden den Anknüpfungspunkt für die spätere eingehende Durchnahme des Lebens.
Aber sie dürfen auf dieser Stufe nicht den Ausgangspunkt der Betrachtung
bilden, indem die sogenannte "biologische Methode" die Ausgestaltung der Tiere
und Pflanzen aus ihrer Lebensweise "ableiten" will. Diese Methode erweckt
und befestigt im Geiste der unreifen Schüler die Vorstellung, daß diese Aus¬
gestaltung das mechanische Produkt ihrer Lebensumstände sei. Daß ein im
Wasser lebendes Tier auch etwas anderes werden kann als ein Seehund, daß
in demselben Sumpf unter ganz gleichen Bedingungen ganz verschiedenartige
Pflanzen durcheinanderwachsen, wird dabei freilich übersehen und damit der
Boden geebnet für die kritiklose Aufnahme der Darwinschen Lehre vou der
Entstehung der Arten durch Überleben des Passendsten, die den Zufall als
Weltschöpfer einsetzt. Es ist sogar schon die Forderung aufgestellt, im Unterricht
keine Formeigentümlichkeit zu berücksichtigen, für die nicht die biologische Deutung
gegeben werden kann. Das kommt direkt auf eine Irreführung der Schüler
hinaus. Denn diese Forderung beruht auf der Annahme, oder die Lehrweise
muß die Auffassung im Geiste der Schüler zeitigen, daß die Eigenschaften der
Lebewesen, einerlei auf welchem Wege, alle durch neuerliche oder frühere An¬
passung zu erklären seien. Als Arbeitshypothese für die Wissenschaft lasse ich
mir diese Annahme gefallen, aber nicht als Lehre für die Jugend. Die dagegen
sprechenden Tatsachen dürfe,: nicht absichtlich übergangen werden. Dadurch
würden, wie die Erfahrung bei jedem Versuche bestätigt, die Schüler auf die
nichtigsten ZweckerWruugen verfallen, denen sie bei der mangelnden Einsicht
dieselbe Berechtigung zuschreiben, wie den vou ihnen für ebenso willkürlich ge¬
haltenen Zweckerklärungen des Lehrers. Sie würden dabei sogar nicht einmal
so sehr unrecht haben, wo so oft die Beweise für die behaupteten Anpassungen
fehlen. Z. B. vielfach bei der sogenannten Schutzfarbe. Wie will man deren Wirk¬
samkeit etwa durch Schülerbeobachtungen oder -versuche feststellen? Und wem
gegenüber soll sie als wirksam nachgewiesen werden? -- In einem bekannten
Lehrbuch der Zoologie kann man eine Musterkarte verschiedenfarbiger Tiere,
wie Fuchs, Hase, Wolf, Dachs, herausziehen, bei denen allen die Überein¬
stimmung der° Farbe mit der des Erdbodens hervorgehoben wird, beim Fuchs
sogar ausdrücklich mit deu verschiedensten Arten des Bodens! Das muß doch
im Gemüt des Schülers den Eindruck der Willkür hinterlassen und den Glauben
erwecken, daß er zu derselben Willkür berechtigt wäre. Das ist sicher keine
"empirische Schulung"!

Aber auch auf höherer Stufe, wo die Biologie bezw. Physiologie in den
Mittelpunkt des Unterrichts zu rücken hat, kann von einem induktiven Ableiten
der wissenschaftlichen Ergebnisse im Ernste nicht die Rede sein. Die Umstände,
unter denen die Erscheinungen stattfinden, sind so mannigfach verschlungen, daß
eine gründliche physikalisch-chemische und anatomisch-biologische Vorbildung des


Biologie und Schule

Anpassungen zu berücksichtigen, soweit sie verständlich und anschaulich gemacht
werden können. Sie dienen zur Würzung und Belebung des Unterrichts und
bilden den Anknüpfungspunkt für die spätere eingehende Durchnahme des Lebens.
Aber sie dürfen auf dieser Stufe nicht den Ausgangspunkt der Betrachtung
bilden, indem die sogenannte „biologische Methode" die Ausgestaltung der Tiere
und Pflanzen aus ihrer Lebensweise „ableiten" will. Diese Methode erweckt
und befestigt im Geiste der unreifen Schüler die Vorstellung, daß diese Aus¬
gestaltung das mechanische Produkt ihrer Lebensumstände sei. Daß ein im
Wasser lebendes Tier auch etwas anderes werden kann als ein Seehund, daß
in demselben Sumpf unter ganz gleichen Bedingungen ganz verschiedenartige
Pflanzen durcheinanderwachsen, wird dabei freilich übersehen und damit der
Boden geebnet für die kritiklose Aufnahme der Darwinschen Lehre vou der
Entstehung der Arten durch Überleben des Passendsten, die den Zufall als
Weltschöpfer einsetzt. Es ist sogar schon die Forderung aufgestellt, im Unterricht
keine Formeigentümlichkeit zu berücksichtigen, für die nicht die biologische Deutung
gegeben werden kann. Das kommt direkt auf eine Irreführung der Schüler
hinaus. Denn diese Forderung beruht auf der Annahme, oder die Lehrweise
muß die Auffassung im Geiste der Schüler zeitigen, daß die Eigenschaften der
Lebewesen, einerlei auf welchem Wege, alle durch neuerliche oder frühere An¬
passung zu erklären seien. Als Arbeitshypothese für die Wissenschaft lasse ich
mir diese Annahme gefallen, aber nicht als Lehre für die Jugend. Die dagegen
sprechenden Tatsachen dürfe,: nicht absichtlich übergangen werden. Dadurch
würden, wie die Erfahrung bei jedem Versuche bestätigt, die Schüler auf die
nichtigsten ZweckerWruugen verfallen, denen sie bei der mangelnden Einsicht
dieselbe Berechtigung zuschreiben, wie den vou ihnen für ebenso willkürlich ge¬
haltenen Zweckerklärungen des Lehrers. Sie würden dabei sogar nicht einmal
so sehr unrecht haben, wo so oft die Beweise für die behaupteten Anpassungen
fehlen. Z. B. vielfach bei der sogenannten Schutzfarbe. Wie will man deren Wirk¬
samkeit etwa durch Schülerbeobachtungen oder -versuche feststellen? Und wem
gegenüber soll sie als wirksam nachgewiesen werden? — In einem bekannten
Lehrbuch der Zoologie kann man eine Musterkarte verschiedenfarbiger Tiere,
wie Fuchs, Hase, Wolf, Dachs, herausziehen, bei denen allen die Überein¬
stimmung der° Farbe mit der des Erdbodens hervorgehoben wird, beim Fuchs
sogar ausdrücklich mit deu verschiedensten Arten des Bodens! Das muß doch
im Gemüt des Schülers den Eindruck der Willkür hinterlassen und den Glauben
erwecken, daß er zu derselben Willkür berechtigt wäre. Das ist sicher keine
„empirische Schulung"!

Aber auch auf höherer Stufe, wo die Biologie bezw. Physiologie in den
Mittelpunkt des Unterrichts zu rücken hat, kann von einem induktiven Ableiten
der wissenschaftlichen Ergebnisse im Ernste nicht die Rede sein. Die Umstände,
unter denen die Erscheinungen stattfinden, sind so mannigfach verschlungen, daß
eine gründliche physikalisch-chemische und anatomisch-biologische Vorbildung des


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[0311] Biologie und Schule Anpassungen zu berücksichtigen, soweit sie verständlich und anschaulich gemacht werden können. Sie dienen zur Würzung und Belebung des Unterrichts und bilden den Anknüpfungspunkt für die spätere eingehende Durchnahme des Lebens. Aber sie dürfen auf dieser Stufe nicht den Ausgangspunkt der Betrachtung bilden, indem die sogenannte „biologische Methode" die Ausgestaltung der Tiere und Pflanzen aus ihrer Lebensweise „ableiten" will. Diese Methode erweckt und befestigt im Geiste der unreifen Schüler die Vorstellung, daß diese Aus¬ gestaltung das mechanische Produkt ihrer Lebensumstände sei. Daß ein im Wasser lebendes Tier auch etwas anderes werden kann als ein Seehund, daß in demselben Sumpf unter ganz gleichen Bedingungen ganz verschiedenartige Pflanzen durcheinanderwachsen, wird dabei freilich übersehen und damit der Boden geebnet für die kritiklose Aufnahme der Darwinschen Lehre vou der Entstehung der Arten durch Überleben des Passendsten, die den Zufall als Weltschöpfer einsetzt. Es ist sogar schon die Forderung aufgestellt, im Unterricht keine Formeigentümlichkeit zu berücksichtigen, für die nicht die biologische Deutung gegeben werden kann. Das kommt direkt auf eine Irreführung der Schüler hinaus. Denn diese Forderung beruht auf der Annahme, oder die Lehrweise muß die Auffassung im Geiste der Schüler zeitigen, daß die Eigenschaften der Lebewesen, einerlei auf welchem Wege, alle durch neuerliche oder frühere An¬ passung zu erklären seien. Als Arbeitshypothese für die Wissenschaft lasse ich mir diese Annahme gefallen, aber nicht als Lehre für die Jugend. Die dagegen sprechenden Tatsachen dürfe,: nicht absichtlich übergangen werden. Dadurch würden, wie die Erfahrung bei jedem Versuche bestätigt, die Schüler auf die nichtigsten ZweckerWruugen verfallen, denen sie bei der mangelnden Einsicht dieselbe Berechtigung zuschreiben, wie den vou ihnen für ebenso willkürlich ge¬ haltenen Zweckerklärungen des Lehrers. Sie würden dabei sogar nicht einmal so sehr unrecht haben, wo so oft die Beweise für die behaupteten Anpassungen fehlen. Z. B. vielfach bei der sogenannten Schutzfarbe. Wie will man deren Wirk¬ samkeit etwa durch Schülerbeobachtungen oder -versuche feststellen? Und wem gegenüber soll sie als wirksam nachgewiesen werden? — In einem bekannten Lehrbuch der Zoologie kann man eine Musterkarte verschiedenfarbiger Tiere, wie Fuchs, Hase, Wolf, Dachs, herausziehen, bei denen allen die Überein¬ stimmung der° Farbe mit der des Erdbodens hervorgehoben wird, beim Fuchs sogar ausdrücklich mit deu verschiedensten Arten des Bodens! Das muß doch im Gemüt des Schülers den Eindruck der Willkür hinterlassen und den Glauben erwecken, daß er zu derselben Willkür berechtigt wäre. Das ist sicher keine „empirische Schulung"! Aber auch auf höherer Stufe, wo die Biologie bezw. Physiologie in den Mittelpunkt des Unterrichts zu rücken hat, kann von einem induktiven Ableiten der wissenschaftlichen Ergebnisse im Ernste nicht die Rede sein. Die Umstände, unter denen die Erscheinungen stattfinden, sind so mannigfach verschlungen, daß eine gründliche physikalisch-chemische und anatomisch-biologische Vorbildung des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/311>, abgerufen am 22.07.2024.