Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.Jndustriepolitik Bülow hintan gehalten, und nicht nur wandern Tausende von Hektaren deutschen Nun werden diese Tatsachen gegenwärtig fast ausschließlich auf das Schuld¬ Jndustriepolitik Bülow hintan gehalten, und nicht nur wandern Tausende von Hektaren deutschen Nun werden diese Tatsachen gegenwärtig fast ausschließlich auf das Schuld¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0303" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/317254"/> <fw type="header" place="top"> Jndustriepolitik</fw><lb/> <p xml:id="ID_1351" prev="#ID_1350"> Bülow hintan gehalten, und nicht nur wandern Tausende von Hektaren deutschen<lb/> Bodens in polnische Hände, auch die innere Kolonisation stockt!</p><lb/> <p xml:id="ID_1352"> Nun werden diese Tatsachen gegenwärtig fast ausschließlich auf das Schuld¬<lb/> konto der Negierung gesetzt. Eine solche Auffassung ist einseitig. Denn man<lb/> muß der Regierung zugeben, daß sie sich bemüht hat, das im allgemeinen<lb/> Staatsinteresse liegende Gedeihen von Industrie und Handel auch in der Wirt¬<lb/> schafts- und Zollpolitik zu fördern. Wenn tatsächlich nicht mehr erreicht worden<lb/> ist, und wenn z. B. die preußische Verwaltung noch immer unter dem Einfluß des<lb/> Großgrundbesitzes steht, so liegt die Ursache dafür teilweise auch in etwas anderem:<lb/> in dem bisherigen Mangel an Zusammengehörigkeitsgefühl und vor allem in dem<lb/> Mangel einer einheitlichen Organisation der nicht vom Großgrundbesitz<lb/> abhängigen Gewerbe. Damit soll nicht gesagt werden, daß einzelne Gewerbe¬<lb/> stände nicht schon namhafte Vertretungen gehabt hätten. So sorgten der Deutsche<lb/> Hand eistag für den Zusammenschluß der Handelskammern seitlSKI, derZentral-<lb/> verband Deutscher Industrieller und der Bund der Industriellen für<lb/> die Interessen der Industrie. Daneben stand eine große Zahl mehr oder minder<lb/> mächtiger Verbände, die jeder sür sich die Interessen der einzelnen Gewerbe zu<lb/> wahren suchten. Aber, und das ist der springende Punkt: alle diese Interessen¬<lb/> vertretungen wurden miteinander nicht durch eine große Idee, die nur national-<lb/> politischer Natur sein konnte, verbunden, sondern schieden sich voneinander wegen<lb/> der tausend Kleinigkeiten, deren Berücksichtigung das tägliche Erwerbsleben nun<lb/> einmal fordert. Es lag in der Natur ihrer Aufgaben, daß die einzelnen Interessen¬<lb/> vertretungen nicht „Gewerbepolitik" oder „Jndustriepolitik", sondern „Ver¬<lb/> bands-" und „Generalsekretärpolitik" trieben. Eine große, alle widerstrebenden<lb/> Interessen einende Macht gab es aber vor fünfzehn Jahren noch nicht. Infolge¬<lb/> dessen wurden die trennenden, häufig durch persönliche Motive verschärften<lb/> Momente weit stärker betont, als sie es ihrer Bedeutung nach tatsächlich<lb/> verdiente,:. Daneben spielten naturgemäß auch grundlegende, als Trennungs¬<lb/> momente aber wesentlich überschätzte wirtschaftliche Fragen eine wichtige Rolle. In<lb/> dieser Situation befand sich das gewerbliche Bürgertum, als der Bund der Landwirte<lb/> ins Leben trat. Die äußerst rücksichtslos betriebene, ja brutale Agitation des Bundes,<lb/> die sich überdies der Popularität des Namens Bismarck unter Nichtachtung der Gefühle<lb/> des jungen Kaisers bediente, wußte den Anschein zu erwecken, als gäbe es nur<lb/> ein Interesse, das Berücksichtigung verdiene, das des Großgrundbesitzes. Hieß<lb/> es früher: die Schwerindustrie beschäftigt das Gros aller Lohnarbeiter, so<lb/> konnte der junge Bund der Landwirte noch sagen: vom landwirtschaftlichen<lb/> Gewerbe lebt das Gros der Bevölkerung überhaupt, eine Behauptung, die sich,<lb/> mie wir nachdrücklichst betonen, gegenwärtig umsoweniger aufrecht erhalten läßt,<lb/> als der Bund in erster Linie die Interessen des Großgrundbesitzes, unter<lb/> Vernachlässigung derer des bäuerlichen Besitzes vertritt. Die Richtigkeit solcher<lb/> Auffassung wird am besten durch die Gründung des Bauernbundes als<lb/> Gegengewicht gegen den Bund der Landwirte bestätigt.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0303]
Jndustriepolitik
Bülow hintan gehalten, und nicht nur wandern Tausende von Hektaren deutschen
Bodens in polnische Hände, auch die innere Kolonisation stockt!
Nun werden diese Tatsachen gegenwärtig fast ausschließlich auf das Schuld¬
konto der Negierung gesetzt. Eine solche Auffassung ist einseitig. Denn man
muß der Regierung zugeben, daß sie sich bemüht hat, das im allgemeinen
Staatsinteresse liegende Gedeihen von Industrie und Handel auch in der Wirt¬
schafts- und Zollpolitik zu fördern. Wenn tatsächlich nicht mehr erreicht worden
ist, und wenn z. B. die preußische Verwaltung noch immer unter dem Einfluß des
Großgrundbesitzes steht, so liegt die Ursache dafür teilweise auch in etwas anderem:
in dem bisherigen Mangel an Zusammengehörigkeitsgefühl und vor allem in dem
Mangel einer einheitlichen Organisation der nicht vom Großgrundbesitz
abhängigen Gewerbe. Damit soll nicht gesagt werden, daß einzelne Gewerbe¬
stände nicht schon namhafte Vertretungen gehabt hätten. So sorgten der Deutsche
Hand eistag für den Zusammenschluß der Handelskammern seitlSKI, derZentral-
verband Deutscher Industrieller und der Bund der Industriellen für
die Interessen der Industrie. Daneben stand eine große Zahl mehr oder minder
mächtiger Verbände, die jeder sür sich die Interessen der einzelnen Gewerbe zu
wahren suchten. Aber, und das ist der springende Punkt: alle diese Interessen¬
vertretungen wurden miteinander nicht durch eine große Idee, die nur national-
politischer Natur sein konnte, verbunden, sondern schieden sich voneinander wegen
der tausend Kleinigkeiten, deren Berücksichtigung das tägliche Erwerbsleben nun
einmal fordert. Es lag in der Natur ihrer Aufgaben, daß die einzelnen Interessen¬
vertretungen nicht „Gewerbepolitik" oder „Jndustriepolitik", sondern „Ver¬
bands-" und „Generalsekretärpolitik" trieben. Eine große, alle widerstrebenden
Interessen einende Macht gab es aber vor fünfzehn Jahren noch nicht. Infolge¬
dessen wurden die trennenden, häufig durch persönliche Motive verschärften
Momente weit stärker betont, als sie es ihrer Bedeutung nach tatsächlich
verdiente,:. Daneben spielten naturgemäß auch grundlegende, als Trennungs¬
momente aber wesentlich überschätzte wirtschaftliche Fragen eine wichtige Rolle. In
dieser Situation befand sich das gewerbliche Bürgertum, als der Bund der Landwirte
ins Leben trat. Die äußerst rücksichtslos betriebene, ja brutale Agitation des Bundes,
die sich überdies der Popularität des Namens Bismarck unter Nichtachtung der Gefühle
des jungen Kaisers bediente, wußte den Anschein zu erwecken, als gäbe es nur
ein Interesse, das Berücksichtigung verdiene, das des Großgrundbesitzes. Hieß
es früher: die Schwerindustrie beschäftigt das Gros aller Lohnarbeiter, so
konnte der junge Bund der Landwirte noch sagen: vom landwirtschaftlichen
Gewerbe lebt das Gros der Bevölkerung überhaupt, eine Behauptung, die sich,
mie wir nachdrücklichst betonen, gegenwärtig umsoweniger aufrecht erhalten läßt,
als der Bund in erster Linie die Interessen des Großgrundbesitzes, unter
Vernachlässigung derer des bäuerlichen Besitzes vertritt. Die Richtigkeit solcher
Auffassung wird am besten durch die Gründung des Bauernbundes als
Gegengewicht gegen den Bund der Landwirte bestätigt.
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