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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Jndustricpolitik

geeignet erschienen, die Gefahr der Abwanderung zu beseitigen. Der Staat war
im eigensten Interesse gezwungen, Jndustriepolitik zu treiben. Die hiermit
verbundene Zunahme der Bevölkerungsziffer und die Entwicklung des gesamten
gewerblichen Lebens hat nun zur Folge gehabt: sowohl eine stärkere Nachfrage
nach Lebensmitteln bei sich ständig steigernden Einzelansprüchen, wie auch eine
Verteuerung der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte und damit eine allgemeine
Verteuerung der Lebenshaltung. Da diese Folgen vor allen Dingen auf der
industriellen Arbeiterbevölkerung lasteten, war sie es, die sich zuerst zur Abwehr
organisierte, die von kurzsichtigen oder phantastischen Führern bearbeitet, den
Staat als Klassenstaat brandmarkte und dessen Zusammenbruch proklamierte,
weil angeblich nichts von ihm für das "Proletariat", für die "Gesellschaft" zu
erwarten sei. Eine weitsichtige Regierung wußte den Konsequenzen solcher
Propaganda zunächst die Spitze abzubrechen, indem sie jene großartige soziale
Gesetzgebung inaugurierte, die uns in keinem noch so demokratisch regierten Lande
nachgemacht worden ist. Während derselben Zeit, in der sich unsere soziale
Gesetzgebung entwickelte, trat Deutschland auch in die Reihe der Kolonialmächte
und schuf sich weitere natürliche Grundlagen für die Ernährung des Volks;
schließlich wurde die Siedelungspolitik im Innern ins Leben gerufen, die die
landwirtschaftlichen Kleinbetriebe auf Kosten der Großbetriebe erweitert und die
berufen ist, nicht nur ein Bollwerk gegen die slawische Flut im Osten zu schaffen,
sondern auch die Viehzüchtung auf solche Stufe zu stellen, daß der Fleischbedarf
Deutschlands durch die eigene Produktion gedeckt werde. Dazu aber ist nach
den bisherigen Erfahrungen in einem kultivierten Staat nur die Ballernwirtschaft
imstande. Die weitsichtige Wirtschaftspolitik Bismarcks, die der Industrie half,
sich zu entwickeln, schuf auch die Grundlage für eine allseitige Blüte der Nation
und für eine gewaltige Machtentfaltung des Reichs. Im einzelnen wurde diese
Entwicklung gefördert in dem tatkräftigen Eintreten der einzelnen Wirtschafts¬
organisationen (Verbände) für das Wohl ihrer Gewerbe.

Als nach Bismarcks Abgang die Konsequenzen der angedeuteten Ent¬
wicklung gezogen werden sollten durch Schaffung billiger Getreide- und Fleisch¬
preise, da erwies sich der paritätische Staat politisch zu schwach, um seine dem
Allgemeinwohl angepaßten Absichten durchzuführen, und er unterlag dem Agrar-
staat, der seine Herrschaft schnell wieder aufrichtete, indem sich die Großgrund¬
besitzer zum Bunde der Landwirte zusammenschlossen. Die Folgen jenes
Zusammenschlusses sind bekannt. Auf wirtschaftlichem wie politischem Gebiet
sind seit einem halben Menschenalter in erster Linie die Gesichtspunkte ma߬
gebend, die den landwirtschaftlichen Großbetrieb berücksichtigen, obwohl sich
gegenwärtig weniger als ein Drittel der Bevölkerung durch Betätigung in der
Landwirtschaft überhaupt ernährt und obwohl die Landwirtschaft trotz des
weitgehendsten Schutzes nicht in der Lage ist, den Bedarf des Landes an Brot
und Fleisch zu decken. Die großen politischen Aufgaben, die mit der Seßhaft-
machung von Bauern zusammenhängen, werden seit dem Fortgang des Fürsten


Jndustricpolitik

geeignet erschienen, die Gefahr der Abwanderung zu beseitigen. Der Staat war
im eigensten Interesse gezwungen, Jndustriepolitik zu treiben. Die hiermit
verbundene Zunahme der Bevölkerungsziffer und die Entwicklung des gesamten
gewerblichen Lebens hat nun zur Folge gehabt: sowohl eine stärkere Nachfrage
nach Lebensmitteln bei sich ständig steigernden Einzelansprüchen, wie auch eine
Verteuerung der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte und damit eine allgemeine
Verteuerung der Lebenshaltung. Da diese Folgen vor allen Dingen auf der
industriellen Arbeiterbevölkerung lasteten, war sie es, die sich zuerst zur Abwehr
organisierte, die von kurzsichtigen oder phantastischen Führern bearbeitet, den
Staat als Klassenstaat brandmarkte und dessen Zusammenbruch proklamierte,
weil angeblich nichts von ihm für das „Proletariat", für die „Gesellschaft" zu
erwarten sei. Eine weitsichtige Regierung wußte den Konsequenzen solcher
Propaganda zunächst die Spitze abzubrechen, indem sie jene großartige soziale
Gesetzgebung inaugurierte, die uns in keinem noch so demokratisch regierten Lande
nachgemacht worden ist. Während derselben Zeit, in der sich unsere soziale
Gesetzgebung entwickelte, trat Deutschland auch in die Reihe der Kolonialmächte
und schuf sich weitere natürliche Grundlagen für die Ernährung des Volks;
schließlich wurde die Siedelungspolitik im Innern ins Leben gerufen, die die
landwirtschaftlichen Kleinbetriebe auf Kosten der Großbetriebe erweitert und die
berufen ist, nicht nur ein Bollwerk gegen die slawische Flut im Osten zu schaffen,
sondern auch die Viehzüchtung auf solche Stufe zu stellen, daß der Fleischbedarf
Deutschlands durch die eigene Produktion gedeckt werde. Dazu aber ist nach
den bisherigen Erfahrungen in einem kultivierten Staat nur die Ballernwirtschaft
imstande. Die weitsichtige Wirtschaftspolitik Bismarcks, die der Industrie half,
sich zu entwickeln, schuf auch die Grundlage für eine allseitige Blüte der Nation
und für eine gewaltige Machtentfaltung des Reichs. Im einzelnen wurde diese
Entwicklung gefördert in dem tatkräftigen Eintreten der einzelnen Wirtschafts¬
organisationen (Verbände) für das Wohl ihrer Gewerbe.

Als nach Bismarcks Abgang die Konsequenzen der angedeuteten Ent¬
wicklung gezogen werden sollten durch Schaffung billiger Getreide- und Fleisch¬
preise, da erwies sich der paritätische Staat politisch zu schwach, um seine dem
Allgemeinwohl angepaßten Absichten durchzuführen, und er unterlag dem Agrar-
staat, der seine Herrschaft schnell wieder aufrichtete, indem sich die Großgrund¬
besitzer zum Bunde der Landwirte zusammenschlossen. Die Folgen jenes
Zusammenschlusses sind bekannt. Auf wirtschaftlichem wie politischem Gebiet
sind seit einem halben Menschenalter in erster Linie die Gesichtspunkte ma߬
gebend, die den landwirtschaftlichen Großbetrieb berücksichtigen, obwohl sich
gegenwärtig weniger als ein Drittel der Bevölkerung durch Betätigung in der
Landwirtschaft überhaupt ernährt und obwohl die Landwirtschaft trotz des
weitgehendsten Schutzes nicht in der Lage ist, den Bedarf des Landes an Brot
und Fleisch zu decken. Die großen politischen Aufgaben, die mit der Seßhaft-
machung von Bauern zusammenhängen, werden seit dem Fortgang des Fürsten


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[0302] Jndustricpolitik geeignet erschienen, die Gefahr der Abwanderung zu beseitigen. Der Staat war im eigensten Interesse gezwungen, Jndustriepolitik zu treiben. Die hiermit verbundene Zunahme der Bevölkerungsziffer und die Entwicklung des gesamten gewerblichen Lebens hat nun zur Folge gehabt: sowohl eine stärkere Nachfrage nach Lebensmitteln bei sich ständig steigernden Einzelansprüchen, wie auch eine Verteuerung der landwirtschaftlichen Arbeitskräfte und damit eine allgemeine Verteuerung der Lebenshaltung. Da diese Folgen vor allen Dingen auf der industriellen Arbeiterbevölkerung lasteten, war sie es, die sich zuerst zur Abwehr organisierte, die von kurzsichtigen oder phantastischen Führern bearbeitet, den Staat als Klassenstaat brandmarkte und dessen Zusammenbruch proklamierte, weil angeblich nichts von ihm für das „Proletariat", für die „Gesellschaft" zu erwarten sei. Eine weitsichtige Regierung wußte den Konsequenzen solcher Propaganda zunächst die Spitze abzubrechen, indem sie jene großartige soziale Gesetzgebung inaugurierte, die uns in keinem noch so demokratisch regierten Lande nachgemacht worden ist. Während derselben Zeit, in der sich unsere soziale Gesetzgebung entwickelte, trat Deutschland auch in die Reihe der Kolonialmächte und schuf sich weitere natürliche Grundlagen für die Ernährung des Volks; schließlich wurde die Siedelungspolitik im Innern ins Leben gerufen, die die landwirtschaftlichen Kleinbetriebe auf Kosten der Großbetriebe erweitert und die berufen ist, nicht nur ein Bollwerk gegen die slawische Flut im Osten zu schaffen, sondern auch die Viehzüchtung auf solche Stufe zu stellen, daß der Fleischbedarf Deutschlands durch die eigene Produktion gedeckt werde. Dazu aber ist nach den bisherigen Erfahrungen in einem kultivierten Staat nur die Ballernwirtschaft imstande. Die weitsichtige Wirtschaftspolitik Bismarcks, die der Industrie half, sich zu entwickeln, schuf auch die Grundlage für eine allseitige Blüte der Nation und für eine gewaltige Machtentfaltung des Reichs. Im einzelnen wurde diese Entwicklung gefördert in dem tatkräftigen Eintreten der einzelnen Wirtschafts¬ organisationen (Verbände) für das Wohl ihrer Gewerbe. Als nach Bismarcks Abgang die Konsequenzen der angedeuteten Ent¬ wicklung gezogen werden sollten durch Schaffung billiger Getreide- und Fleisch¬ preise, da erwies sich der paritätische Staat politisch zu schwach, um seine dem Allgemeinwohl angepaßten Absichten durchzuführen, und er unterlag dem Agrar- staat, der seine Herrschaft schnell wieder aufrichtete, indem sich die Großgrund¬ besitzer zum Bunde der Landwirte zusammenschlossen. Die Folgen jenes Zusammenschlusses sind bekannt. Auf wirtschaftlichem wie politischem Gebiet sind seit einem halben Menschenalter in erster Linie die Gesichtspunkte ma߬ gebend, die den landwirtschaftlichen Großbetrieb berücksichtigen, obwohl sich gegenwärtig weniger als ein Drittel der Bevölkerung durch Betätigung in der Landwirtschaft überhaupt ernährt und obwohl die Landwirtschaft trotz des weitgehendsten Schutzes nicht in der Lage ist, den Bedarf des Landes an Brot und Fleisch zu decken. Die großen politischen Aufgaben, die mit der Seßhaft- machung von Bauern zusammenhängen, werden seit dem Fortgang des Fürsten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/302>, abgerufen am 22.07.2024.