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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Der Unfug des Sterbens

Er sagt, Gedanken sind so wirklich wie Wasser und Luft, sie bauen oder zer¬
stören unaufhörlich unseren Körper. Wenn wir unverrückbar und klar, ohne
Zweifel und Schwanken (durch die eine Verwirklichung des Gedankenbildes
zerstört würde) etwas wollen, also unsere geistige Kraft konzentrieren, so muß
die Stetigkeit und Intensität des Wunsches den Erfolg herbeiführen. Wenn
wir Tag und Nacht um höchste Weisheit, um Kraft und Freude, um Gesundheit
oder Schönheit bitten -- denn Gedanken, Wünsche, Bitten und Gebet sind in
diesem Sinne die gleichen Naturkräfte --, so werden wir durch das innerliche
Begehren das momentane Ziel erreichen; also unsere Gedanken werden Realität,
werden in Erscheinungsformen verkörpert und die Grenzlinie, die Ursache und
Folge wechselseitig verknüpft, verschwindet.

Wenn wir uns die Fähigkeit des Wegdenkens von den hundert ablenkenden
Dingen des alltäglichen Lebens anerziehen, uns nicht durch schädliche Gedanken¬
ströme zerstreuen lassen, so wird die unsichtbare Substanz unserer geistigen Kraft
die nützlichen Kräfte anziehen, deren wir zur glücklichen Vollendung unseres
Schicksals bedürfen; und je ausgereifter das Geistige im Menschen ist, das sich
in Millionen Jahren zur jetzigen Bewußtseinsstufe durchgerungen hat, je
befähigter wird er selbst sein, durch seine Gedanken sein Leben zu gestalten.
Der Mensch erhält diese Macht durch die intuitive Kraft, die Wahrheit zu
empfinden, also durch Gläubigkeit, und diese Gläubigkeit ist dasselbe wie der
Glaube an die eigene Kraft. In diesem Sinne ist also Glaube an die eigene
Kraft das Gebet, das Erfüllung in sich trägt. Sobald wir diese Kraft in
unserer eigenen Natur erkennen, werden wir sie anzuwenden versuchen und uns,
um die Jugend festzuhalten, das idealsierte Bild uuserer eigenen Persönlichkeit
vergegenwärtigen. Wir werden die Erwartung der Schwächen des Alters, den
endgültigen körperlichen Zerfall und die Überlieferung, daß nach einer bestimmten
Zeit der Intellekt versiegt und der Körper verblüht, zu vergessen suchen, denn
nur wer darauf rechnet, zu altern, wird dem Alter unterliegen. Doch wer sein
geistiges Instrument gebraucht, um den Körper zu dirigieren, wird unschwer
den Beweis liefern können, daß unsere Naturforscher und Gelehrten im Recht
sind, wenn sie aus der bisherigen Entwicklungsgeschichte der Menschheit für die
ferne Zukunft eine Vollendungsstufe erwarten, die wir uns jetzt noch nicht aus¬
malen können.

Aus Luftschlössern entstehen die Paläste der Erde. Eine düstere Phantasie
ist schon der Glaube an ein Unglück.

Da Mulford, trotzdem der Glaube für ihn die Substanz des Gewünschten
ist, weder Gott noch Christus als allmächtigen Vermittler zur Erfüllung der
Wünsche anruft, nennt er den lebendigen Quell alles Glückes "Geist des unendlich
Guten im Reich des unendlichen Bewußtseins". Um uns der Flutwelle alles
Besten hinzugeben, müssen wir den geheimen Gesetzen der Natur entgegen¬
horchen und ihren leisen Zeichen oder Winken hemmungslos folgen. Um Anteil
"n der lebendigen Kraft der Natur, die aus jeder Form des Unendlichen aus-


Der Unfug des Sterbens

Er sagt, Gedanken sind so wirklich wie Wasser und Luft, sie bauen oder zer¬
stören unaufhörlich unseren Körper. Wenn wir unverrückbar und klar, ohne
Zweifel und Schwanken (durch die eine Verwirklichung des Gedankenbildes
zerstört würde) etwas wollen, also unsere geistige Kraft konzentrieren, so muß
die Stetigkeit und Intensität des Wunsches den Erfolg herbeiführen. Wenn
wir Tag und Nacht um höchste Weisheit, um Kraft und Freude, um Gesundheit
oder Schönheit bitten — denn Gedanken, Wünsche, Bitten und Gebet sind in
diesem Sinne die gleichen Naturkräfte —, so werden wir durch das innerliche
Begehren das momentane Ziel erreichen; also unsere Gedanken werden Realität,
werden in Erscheinungsformen verkörpert und die Grenzlinie, die Ursache und
Folge wechselseitig verknüpft, verschwindet.

Wenn wir uns die Fähigkeit des Wegdenkens von den hundert ablenkenden
Dingen des alltäglichen Lebens anerziehen, uns nicht durch schädliche Gedanken¬
ströme zerstreuen lassen, so wird die unsichtbare Substanz unserer geistigen Kraft
die nützlichen Kräfte anziehen, deren wir zur glücklichen Vollendung unseres
Schicksals bedürfen; und je ausgereifter das Geistige im Menschen ist, das sich
in Millionen Jahren zur jetzigen Bewußtseinsstufe durchgerungen hat, je
befähigter wird er selbst sein, durch seine Gedanken sein Leben zu gestalten.
Der Mensch erhält diese Macht durch die intuitive Kraft, die Wahrheit zu
empfinden, also durch Gläubigkeit, und diese Gläubigkeit ist dasselbe wie der
Glaube an die eigene Kraft. In diesem Sinne ist also Glaube an die eigene
Kraft das Gebet, das Erfüllung in sich trägt. Sobald wir diese Kraft in
unserer eigenen Natur erkennen, werden wir sie anzuwenden versuchen und uns,
um die Jugend festzuhalten, das idealsierte Bild uuserer eigenen Persönlichkeit
vergegenwärtigen. Wir werden die Erwartung der Schwächen des Alters, den
endgültigen körperlichen Zerfall und die Überlieferung, daß nach einer bestimmten
Zeit der Intellekt versiegt und der Körper verblüht, zu vergessen suchen, denn
nur wer darauf rechnet, zu altern, wird dem Alter unterliegen. Doch wer sein
geistiges Instrument gebraucht, um den Körper zu dirigieren, wird unschwer
den Beweis liefern können, daß unsere Naturforscher und Gelehrten im Recht
sind, wenn sie aus der bisherigen Entwicklungsgeschichte der Menschheit für die
ferne Zukunft eine Vollendungsstufe erwarten, die wir uns jetzt noch nicht aus¬
malen können.

Aus Luftschlössern entstehen die Paläste der Erde. Eine düstere Phantasie
ist schon der Glaube an ein Unglück.

Da Mulford, trotzdem der Glaube für ihn die Substanz des Gewünschten
ist, weder Gott noch Christus als allmächtigen Vermittler zur Erfüllung der
Wünsche anruft, nennt er den lebendigen Quell alles Glückes „Geist des unendlich
Guten im Reich des unendlichen Bewußtseins". Um uns der Flutwelle alles
Besten hinzugeben, müssen wir den geheimen Gesetzen der Natur entgegen¬
horchen und ihren leisen Zeichen oder Winken hemmungslos folgen. Um Anteil
"n der lebendigen Kraft der Natur, die aus jeder Form des Unendlichen aus-


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[0295] Der Unfug des Sterbens Er sagt, Gedanken sind so wirklich wie Wasser und Luft, sie bauen oder zer¬ stören unaufhörlich unseren Körper. Wenn wir unverrückbar und klar, ohne Zweifel und Schwanken (durch die eine Verwirklichung des Gedankenbildes zerstört würde) etwas wollen, also unsere geistige Kraft konzentrieren, so muß die Stetigkeit und Intensität des Wunsches den Erfolg herbeiführen. Wenn wir Tag und Nacht um höchste Weisheit, um Kraft und Freude, um Gesundheit oder Schönheit bitten — denn Gedanken, Wünsche, Bitten und Gebet sind in diesem Sinne die gleichen Naturkräfte —, so werden wir durch das innerliche Begehren das momentane Ziel erreichen; also unsere Gedanken werden Realität, werden in Erscheinungsformen verkörpert und die Grenzlinie, die Ursache und Folge wechselseitig verknüpft, verschwindet. Wenn wir uns die Fähigkeit des Wegdenkens von den hundert ablenkenden Dingen des alltäglichen Lebens anerziehen, uns nicht durch schädliche Gedanken¬ ströme zerstreuen lassen, so wird die unsichtbare Substanz unserer geistigen Kraft die nützlichen Kräfte anziehen, deren wir zur glücklichen Vollendung unseres Schicksals bedürfen; und je ausgereifter das Geistige im Menschen ist, das sich in Millionen Jahren zur jetzigen Bewußtseinsstufe durchgerungen hat, je befähigter wird er selbst sein, durch seine Gedanken sein Leben zu gestalten. Der Mensch erhält diese Macht durch die intuitive Kraft, die Wahrheit zu empfinden, also durch Gläubigkeit, und diese Gläubigkeit ist dasselbe wie der Glaube an die eigene Kraft. In diesem Sinne ist also Glaube an die eigene Kraft das Gebet, das Erfüllung in sich trägt. Sobald wir diese Kraft in unserer eigenen Natur erkennen, werden wir sie anzuwenden versuchen und uns, um die Jugend festzuhalten, das idealsierte Bild uuserer eigenen Persönlichkeit vergegenwärtigen. Wir werden die Erwartung der Schwächen des Alters, den endgültigen körperlichen Zerfall und die Überlieferung, daß nach einer bestimmten Zeit der Intellekt versiegt und der Körper verblüht, zu vergessen suchen, denn nur wer darauf rechnet, zu altern, wird dem Alter unterliegen. Doch wer sein geistiges Instrument gebraucht, um den Körper zu dirigieren, wird unschwer den Beweis liefern können, daß unsere Naturforscher und Gelehrten im Recht sind, wenn sie aus der bisherigen Entwicklungsgeschichte der Menschheit für die ferne Zukunft eine Vollendungsstufe erwarten, die wir uns jetzt noch nicht aus¬ malen können. Aus Luftschlössern entstehen die Paläste der Erde. Eine düstere Phantasie ist schon der Glaube an ein Unglück. Da Mulford, trotzdem der Glaube für ihn die Substanz des Gewünschten ist, weder Gott noch Christus als allmächtigen Vermittler zur Erfüllung der Wünsche anruft, nennt er den lebendigen Quell alles Glückes „Geist des unendlich Guten im Reich des unendlichen Bewußtseins". Um uns der Flutwelle alles Besten hinzugeben, müssen wir den geheimen Gesetzen der Natur entgegen¬ horchen und ihren leisen Zeichen oder Winken hemmungslos folgen. Um Anteil "n der lebendigen Kraft der Natur, die aus jeder Form des Unendlichen aus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/295>, abgerufen am 22.07.2024.