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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Aberglaube in Thüringen

Glaube, die keine Lücke unbewehrt läßt und jeder fremden Logik überlegen im
voraus gewachsen ist. In einer letzten schrecklichen Szene, wie der braune zitternde
Knochenkörper gespenstisch vom Bett aussteht und in der Stube sterbend hinschlagt,
greift die zurückgewichene Agnes unwillkürlich der Fallenden entgegen -- da halten
die krallenden Finger sie im Griff gefangen, während ein Schein der Erlösung
über das schon erloschene Gesicht fliegt. Und so ist schließlich doch alles vergebens,
was Agnes, um die Mutter in die Verdammnis fahren zu lassen, in diesen
schauerlichen Tagen durchgemacht.

Das ist keine Erzählung, wo Phantastik auf Edgar Poesche Weise zum
gesuchten Zweck geworden ist. Was wir miterleben, dieses ganze Leben und
Schicksal der Agnes, steht mit der, Marthe Renate Fischer eigenen sinnlichen
Realistik mitten in sicherster, hellster Wirklichkeit. Das sind diese echtesten Bauers-
leute wieder, über die so oft der Glanz ihres überlegenen Humors gespiegelt ist.
Diese Thüringer in allen Skalen, wie sie sind, fleißig und karg und gut und
ordentlich, auch liebenswert und auch sehr abscheulich und im Einzelfall gemein.
Die Männer hier in Mitteldeutschland vielleicht nicht ganz solche Diplomaten, wie
sonst in Nord und Süd die eng zusammenwohnenden Dörfler alle sind; die
Burschen dreiste Draufgänger und wieder recht feige, die Weiber, wenn sie's packt,
das von nichts mehr zurückgehaltene Geschlecht. Ein ganz paar von diesen lebens¬
echten Figuren sind auch wirklich denkend, wohlmeinend, die also auch einmal an
der rechten Stelle den Mund auftun. Gegen den Drachen aber bleiben auch diese
wenigen nicht Befangenen machtlos. Denn die Gedanken, die aus der Spuk¬
kammer kommen, spinnen unwirkliche Fäden, die nicht zu fassen sind', sie haben,
wie gesagt, jene in sich gesicherte Dogmatik, an der unzählbare Jahrhunderte
geformt haben und die stets die Oberhand behält. Deshalb muß auch die Agnes
unerlösbar zugrunde gehen, als ihr das Lebensglück sich endlich noch zeigen will
-- es würde doch nur der Anfang neuer Marterreihen sein. Sie stirbt jäh durch
Unglücksfall, so daß ihr das Ende der Mutter erspart bleibt. Das ist die einzig
mögliche Versöhnung.

Da kann dem einzelnen geholfen werden nur vom Ganzen her und gibt es
keinen anderen Weg. Und deshalb müssen sich um dieses Buch diejenigen klimmern,
die die Belletristik sonst nicht für die Sache ihrer beruflichen Aufmerksamkeit
erachten. Dann aber, wie nicht erst wieder gesagt zu werden braucht, liegt es in
der Sache selbst, daß das, was da zu tun ist, vor allem anderen eine sehr feine,
verständnisvolle Klugheit als Vorbedingung nötig hat; jede mechanische Besser¬
wisserei würde die Leute erst recht nur aus der Hand verlieren. Die beste Hoff¬
nung steht vielleicht sogar, bei geeigneter kluger Verwertung, direkt auf dem
Nscherschen Buche da es die Eigenschaft alles Echtepischen hat, am einfachsten
durch sich s Ld, heyck elbst verständlich und eindrucksvoll zu sein.




Aberglaube in Thüringen

Glaube, die keine Lücke unbewehrt läßt und jeder fremden Logik überlegen im
voraus gewachsen ist. In einer letzten schrecklichen Szene, wie der braune zitternde
Knochenkörper gespenstisch vom Bett aussteht und in der Stube sterbend hinschlagt,
greift die zurückgewichene Agnes unwillkürlich der Fallenden entgegen — da halten
die krallenden Finger sie im Griff gefangen, während ein Schein der Erlösung
über das schon erloschene Gesicht fliegt. Und so ist schließlich doch alles vergebens,
was Agnes, um die Mutter in die Verdammnis fahren zu lassen, in diesen
schauerlichen Tagen durchgemacht.

Das ist keine Erzählung, wo Phantastik auf Edgar Poesche Weise zum
gesuchten Zweck geworden ist. Was wir miterleben, dieses ganze Leben und
Schicksal der Agnes, steht mit der, Marthe Renate Fischer eigenen sinnlichen
Realistik mitten in sicherster, hellster Wirklichkeit. Das sind diese echtesten Bauers-
leute wieder, über die so oft der Glanz ihres überlegenen Humors gespiegelt ist.
Diese Thüringer in allen Skalen, wie sie sind, fleißig und karg und gut und
ordentlich, auch liebenswert und auch sehr abscheulich und im Einzelfall gemein.
Die Männer hier in Mitteldeutschland vielleicht nicht ganz solche Diplomaten, wie
sonst in Nord und Süd die eng zusammenwohnenden Dörfler alle sind; die
Burschen dreiste Draufgänger und wieder recht feige, die Weiber, wenn sie's packt,
das von nichts mehr zurückgehaltene Geschlecht. Ein ganz paar von diesen lebens¬
echten Figuren sind auch wirklich denkend, wohlmeinend, die also auch einmal an
der rechten Stelle den Mund auftun. Gegen den Drachen aber bleiben auch diese
wenigen nicht Befangenen machtlos. Denn die Gedanken, die aus der Spuk¬
kammer kommen, spinnen unwirkliche Fäden, die nicht zu fassen sind', sie haben,
wie gesagt, jene in sich gesicherte Dogmatik, an der unzählbare Jahrhunderte
geformt haben und die stets die Oberhand behält. Deshalb muß auch die Agnes
unerlösbar zugrunde gehen, als ihr das Lebensglück sich endlich noch zeigen will
— es würde doch nur der Anfang neuer Marterreihen sein. Sie stirbt jäh durch
Unglücksfall, so daß ihr das Ende der Mutter erspart bleibt. Das ist die einzig
mögliche Versöhnung.

Da kann dem einzelnen geholfen werden nur vom Ganzen her und gibt es
keinen anderen Weg. Und deshalb müssen sich um dieses Buch diejenigen klimmern,
die die Belletristik sonst nicht für die Sache ihrer beruflichen Aufmerksamkeit
erachten. Dann aber, wie nicht erst wieder gesagt zu werden braucht, liegt es in
der Sache selbst, daß das, was da zu tun ist, vor allem anderen eine sehr feine,
verständnisvolle Klugheit als Vorbedingung nötig hat; jede mechanische Besser¬
wisserei würde die Leute erst recht nur aus der Hand verlieren. Die beste Hoff¬
nung steht vielleicht sogar, bei geeigneter kluger Verwertung, direkt auf dem
Nscherschen Buche da es die Eigenschaft alles Echtepischen hat, am einfachsten
durch sich s Ld, heyck elbst verständlich und eindrucksvoll zu sein.




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[0203] Aberglaube in Thüringen Glaube, die keine Lücke unbewehrt läßt und jeder fremden Logik überlegen im voraus gewachsen ist. In einer letzten schrecklichen Szene, wie der braune zitternde Knochenkörper gespenstisch vom Bett aussteht und in der Stube sterbend hinschlagt, greift die zurückgewichene Agnes unwillkürlich der Fallenden entgegen — da halten die krallenden Finger sie im Griff gefangen, während ein Schein der Erlösung über das schon erloschene Gesicht fliegt. Und so ist schließlich doch alles vergebens, was Agnes, um die Mutter in die Verdammnis fahren zu lassen, in diesen schauerlichen Tagen durchgemacht. Das ist keine Erzählung, wo Phantastik auf Edgar Poesche Weise zum gesuchten Zweck geworden ist. Was wir miterleben, dieses ganze Leben und Schicksal der Agnes, steht mit der, Marthe Renate Fischer eigenen sinnlichen Realistik mitten in sicherster, hellster Wirklichkeit. Das sind diese echtesten Bauers- leute wieder, über die so oft der Glanz ihres überlegenen Humors gespiegelt ist. Diese Thüringer in allen Skalen, wie sie sind, fleißig und karg und gut und ordentlich, auch liebenswert und auch sehr abscheulich und im Einzelfall gemein. Die Männer hier in Mitteldeutschland vielleicht nicht ganz solche Diplomaten, wie sonst in Nord und Süd die eng zusammenwohnenden Dörfler alle sind; die Burschen dreiste Draufgänger und wieder recht feige, die Weiber, wenn sie's packt, das von nichts mehr zurückgehaltene Geschlecht. Ein ganz paar von diesen lebens¬ echten Figuren sind auch wirklich denkend, wohlmeinend, die also auch einmal an der rechten Stelle den Mund auftun. Gegen den Drachen aber bleiben auch diese wenigen nicht Befangenen machtlos. Denn die Gedanken, die aus der Spuk¬ kammer kommen, spinnen unwirkliche Fäden, die nicht zu fassen sind', sie haben, wie gesagt, jene in sich gesicherte Dogmatik, an der unzählbare Jahrhunderte geformt haben und die stets die Oberhand behält. Deshalb muß auch die Agnes unerlösbar zugrunde gehen, als ihr das Lebensglück sich endlich noch zeigen will — es würde doch nur der Anfang neuer Marterreihen sein. Sie stirbt jäh durch Unglücksfall, so daß ihr das Ende der Mutter erspart bleibt. Das ist die einzig mögliche Versöhnung. Da kann dem einzelnen geholfen werden nur vom Ganzen her und gibt es keinen anderen Weg. Und deshalb müssen sich um dieses Buch diejenigen klimmern, die die Belletristik sonst nicht für die Sache ihrer beruflichen Aufmerksamkeit erachten. Dann aber, wie nicht erst wieder gesagt zu werden braucht, liegt es in der Sache selbst, daß das, was da zu tun ist, vor allem anderen eine sehr feine, verständnisvolle Klugheit als Vorbedingung nötig hat; jede mechanische Besser¬ wisserei würde die Leute erst recht nur aus der Hand verlieren. Die beste Hoff¬ nung steht vielleicht sogar, bei geeigneter kluger Verwertung, direkt auf dem Nscherschen Buche da es die Eigenschaft alles Echtepischen hat, am einfachsten durch sich s Ld, heyck elbst verständlich und eindrucksvoll zu sein.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/203>, abgerufen am 22.07.2024.