Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.Aberglaube in Thüringen Schätze offenbart, und schließlich hat sie ihr auch Geheimnisse noch vertraut, Das sind die von unserer Bildung nicht geahnten verschwiegensten Dinge, Nicht so, daß es tendenziös wäre. Keine Zeile erinnere ich, bei der mir Ich meine also hiermit nicht die Volksforschung, die zwar auch über Aberglaube in Thüringen Schätze offenbart, und schließlich hat sie ihr auch Geheimnisse noch vertraut, Das sind die von unserer Bildung nicht geahnten verschwiegensten Dinge, Nicht so, daß es tendenziös wäre. Keine Zeile erinnere ich, bei der mir Ich meine also hiermit nicht die Volksforschung, die zwar auch über <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0201" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/317152"/> <fw type="header" place="top"> Aberglaube in Thüringen</fw><lb/> <p xml:id="ID_923" prev="#ID_922"> Schätze offenbart, und schließlich hat sie ihr auch Geheimnisse noch vertraut,<lb/> wovon der sich bezwingender Hörerin allerdings das lebendige Herz zer¬<lb/> springen will.</p><lb/> <p xml:id="ID_924"> Das sind die von unserer Bildung nicht geahnten verschwiegensten Dinge,<lb/> die in Marthe Renate Fischers Buch: „Die aus dem Drachenhaus" enthalten sind.<lb/> Ich schreibe hier keinen Hinweis auf die Verfasserin; das ist nicht nötig. Allgemein<lb/> hat man dieses Buch voll satter, farbiger Kraft bewundernd anerkannt, und längst<lb/> hat sich die originale Bedeutung dieser Schriftstellerin durchgesetzt, der zuerst, wie<lb/> so oft, die „Grenzboten" und der Grunow'sche Verlag den Weg in die anspruchs¬<lb/> vollere Öffentlichkeit geebnet haben. (M. R, Fischers neuere Werke sind nicht im<lb/> Grenzbotenverlag, sondern bei Bonz erschienen, was bemerkt sei, um einer leider<lb/> heutzutage so oft berechtigten Jdeenverbindung vorzubeugen.) Nur von einem<lb/> hat, soviel ich sehe, die berufene literarische Kritik geschwiegen, und deshalb hat<lb/> dann unsereins zu reden. Dies Buch geht nicht bloß die Literatur an. Hier ist<lb/> noch etwas für sich, ist anderes und mehr als der bisher reichste Roman dieser<lb/> ganz starken, eindringlichen und ganz wahrhaftigen Künstlerin. Ihr Buch „Aus<lb/> dem DrachenhauS" bedeutet zugleich eine Tat, und zwar eine so außerordentlich<lb/> wichtige, daß unbedingt nicht daran vorübergegangen werden darf.</p><lb/> <p xml:id="ID_925"> Nicht so, daß es tendenziös wäre. Keine Zeile erinnere ich, bei der mir<lb/> didaktisch zumute wurde. Dieser Roman ist ein in sich geschlossenes Kunst¬<lb/> werk wie irgendeins; so sehr, daß die gewohnheitsmäßig auf den literarischen<lb/> Wert gerichtete Kritik gar nicht daran gedacht hat, sonstiges hervorzuheben. Es<lb/> springt eben keine Tendenz aus ihm hervor, es bleibt lediglich eine Wirkung nach,<lb/> die zu einer lebendig pragramatischen wird und die allerdings von einer durch¬<lb/> rüttelnden, so bald nicht wieder loslassenden Stärke ist. Insofern stellt dieses<lb/> Buch seine Verfasserin zu den Tatenvollbringern durch den Roman, den Jeremias<lb/> Gotthelf, Reuter („Kein Hüsung"), Beecher-Stowe und Dickens. Es ist weniger<lb/> als bei diesen von vornherein an die agitatorische Wirkung gedacht. Sie ergibt<lb/> sich aber von selbst, und es kommt nun darauf an, zu helfen, daß sie nicht in<lb/> einer abgehetzten Zeit fahrlässig wieder verloren geht, kurzum, daß das Buch<lb/> seinen helfenden und befreienden Nutzen auch wirklich ausrichten kann, indem es<lb/> an den richtigen Stellen beachtet wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_926"> Ich meine also hiermit nicht die Volksforschung, die zwar auch über<lb/> mancherlei nachdenklich werden würde. Nein, mit den richtigen Stellen meine ich<lb/> direkt die thüringischen Regierungen, sowie die ländlichen Lehrer und Pastoren.<lb/> Denn hier werden Dinge aufgetan, von denen sich unser Optimismus von<lb/> Bildungswohlfahrt und Heimatskunde heutzutage nichts mehr träumen ließ.<lb/> Hier ist aus einer erstaunlichen Erkundung, die zu dem Unzugänglichsten vor¬<lb/> gedrungen ist, das in jedem Zuge behutsam wirklichkeitsechte und um so mehr<lb/> erschütternde Gemälde der spukhaften Mächte entworfen, die noch immer ganz<lb/> mittelalterähnlich, ja mit dem urältesten Wesen des prähistorischen Aberglaubens<lb/> um Volke umgehen. Dinge, die wir in solcher erschreckenden Zerrgestalt doch heute<lb/> abgetan wähnten; ganz reale Mächte der grausamsten Seelenfoltern und Lebens¬<lb/> verrichtungen, — nicht so gewalttätig mörderisch mehr, aber nicht minder un¬<lb/> heimlich und unabwendbar Frieden und schuldloses Menschenglück zerstörend, als<lb/> einst die im Wesen und Ursprung verwandte raunende Hexenangst.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0201]
Aberglaube in Thüringen
Schätze offenbart, und schließlich hat sie ihr auch Geheimnisse noch vertraut,
wovon der sich bezwingender Hörerin allerdings das lebendige Herz zer¬
springen will.
Das sind die von unserer Bildung nicht geahnten verschwiegensten Dinge,
die in Marthe Renate Fischers Buch: „Die aus dem Drachenhaus" enthalten sind.
Ich schreibe hier keinen Hinweis auf die Verfasserin; das ist nicht nötig. Allgemein
hat man dieses Buch voll satter, farbiger Kraft bewundernd anerkannt, und längst
hat sich die originale Bedeutung dieser Schriftstellerin durchgesetzt, der zuerst, wie
so oft, die „Grenzboten" und der Grunow'sche Verlag den Weg in die anspruchs¬
vollere Öffentlichkeit geebnet haben. (M. R, Fischers neuere Werke sind nicht im
Grenzbotenverlag, sondern bei Bonz erschienen, was bemerkt sei, um einer leider
heutzutage so oft berechtigten Jdeenverbindung vorzubeugen.) Nur von einem
hat, soviel ich sehe, die berufene literarische Kritik geschwiegen, und deshalb hat
dann unsereins zu reden. Dies Buch geht nicht bloß die Literatur an. Hier ist
noch etwas für sich, ist anderes und mehr als der bisher reichste Roman dieser
ganz starken, eindringlichen und ganz wahrhaftigen Künstlerin. Ihr Buch „Aus
dem DrachenhauS" bedeutet zugleich eine Tat, und zwar eine so außerordentlich
wichtige, daß unbedingt nicht daran vorübergegangen werden darf.
Nicht so, daß es tendenziös wäre. Keine Zeile erinnere ich, bei der mir
didaktisch zumute wurde. Dieser Roman ist ein in sich geschlossenes Kunst¬
werk wie irgendeins; so sehr, daß die gewohnheitsmäßig auf den literarischen
Wert gerichtete Kritik gar nicht daran gedacht hat, sonstiges hervorzuheben. Es
springt eben keine Tendenz aus ihm hervor, es bleibt lediglich eine Wirkung nach,
die zu einer lebendig pragramatischen wird und die allerdings von einer durch¬
rüttelnden, so bald nicht wieder loslassenden Stärke ist. Insofern stellt dieses
Buch seine Verfasserin zu den Tatenvollbringern durch den Roman, den Jeremias
Gotthelf, Reuter („Kein Hüsung"), Beecher-Stowe und Dickens. Es ist weniger
als bei diesen von vornherein an die agitatorische Wirkung gedacht. Sie ergibt
sich aber von selbst, und es kommt nun darauf an, zu helfen, daß sie nicht in
einer abgehetzten Zeit fahrlässig wieder verloren geht, kurzum, daß das Buch
seinen helfenden und befreienden Nutzen auch wirklich ausrichten kann, indem es
an den richtigen Stellen beachtet wird.
Ich meine also hiermit nicht die Volksforschung, die zwar auch über
mancherlei nachdenklich werden würde. Nein, mit den richtigen Stellen meine ich
direkt die thüringischen Regierungen, sowie die ländlichen Lehrer und Pastoren.
Denn hier werden Dinge aufgetan, von denen sich unser Optimismus von
Bildungswohlfahrt und Heimatskunde heutzutage nichts mehr träumen ließ.
Hier ist aus einer erstaunlichen Erkundung, die zu dem Unzugänglichsten vor¬
gedrungen ist, das in jedem Zuge behutsam wirklichkeitsechte und um so mehr
erschütternde Gemälde der spukhaften Mächte entworfen, die noch immer ganz
mittelalterähnlich, ja mit dem urältesten Wesen des prähistorischen Aberglaubens
um Volke umgehen. Dinge, die wir in solcher erschreckenden Zerrgestalt doch heute
abgetan wähnten; ganz reale Mächte der grausamsten Seelenfoltern und Lebens¬
verrichtungen, — nicht so gewalttätig mörderisch mehr, aber nicht minder un¬
heimlich und unabwendbar Frieden und schuldloses Menschenglück zerstörend, als
einst die im Wesen und Ursprung verwandte raunende Hexenangst.
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