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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Die Verwertung der Staatsarchive in Preußen

Geschichte auch in weiteren Kreisen durch Publikation wichtiger und interessanter
Urkundenwerke aus unseren archivalischen Reichtümern zu wecken und dadurch
einem fruchtbaren Verständnis breitere Grundlagen zu bereiten. Zu diesem
Zwecke war es der Natur der Sache nach erforderlich, Gegenstände zu wählen,
die den momentanen Stimmungen möglichst nahe lagen, und die geeignet waren,
ein lebendiges nationales Gefühl anzuregen. Kein anderes Gebiet konnte dafür
passender erscheinen, als die glorreiche Zeit der Befreiungskriege. Aber auch
die sonstigen Gebiete der vaterländischen Geschichte wurden unter Professor
v. Sohel so eingehend berücksichtigt, daß von den Publikationen der preußischen
Staatsarchive bis Mai 1895 61 Bände erschienen.

Die größte Liberalität in Benutzung der Staatsakten bewies Fürst Bismarck,
als er mir in den Jahren 1882 bis 1884 die Herausgabe seiner Frankfurter
Depeschen (Preußen im Bundestag, 4 Bände) und kurze Zeit darauf Herrn
v. Sybel die Publikation seines Werkes: "Die Begründung des Deutschen
Reiches unter Kaiser Wilhelm dem Ersten" ermöglichte. Man kann wohl sagen,
daß die preußische Regierung in bezug auf die Verwertung ihrer archivalischen
Schätze unter Sybel und seinem hervorragenden Nachfolger Rheinhold Koser
an der Spitze der Kulturstaaten marschierte.

In Frankreich öffnete sich das Archiv des Ministeriums der auswärtigen
Angelegenheiten bisher nur bis zum Jahre 1848. Die Autorisation zur Einsicht
in die Dokumente wird von einer besonderen Kommission, der Kommission der
diplomatischen Archive erteilt. Alle späteren Dokumente wurden aus diplomatischer
Besorgnis heraus geheim gehalten; die Dokumente des zweiten Kaiserreichs
durften also niemand mitgeteilt werden; es wurde nur eine einzige Ausnahme
gemacht, als Emile Ollivier um die Erlaubnis bat, das jene Zeit umfassende
Archiv für seine "rliswirL as l'Lmpirs liberal" konsultieren zu dürfen. Der
damalige Minister der auswärtigen Angelegenheiten Hanotaux zögerte lange,
bewilligte aber endlich das Gesuch, um dem Manne, der den Krieg von 1870
mit zu verantworten hatte, die Möglichkeit zu gewähren, seine geschichtliche
Verteidigung auf Grund der offiziellen Dokumente aus seiner Regierungszeit
niederzuschreiben *). Da Olliviers Darstellung sich aber als einseitig ermies,
machte der Deputierte Joseph Reinach im Jahre 1906 den Minister der aus¬
wärtigen Angelegenheiten Leon Bourgeois darauf aufmerksam, wie angezeigt es
wäre, die Dokumente über den diplomatischen Ursprung des Krieges von 1870/71
vollständig zu veröffentlichen. Noch ehe Bourgeois einen Entschluß gefaßt hatte,
kam der jetzige Minister des Auswärtigen Pichon an seine Stelle. Er griff den
Reinachschen Gedanken mit Wärme ans und ernannte eine Kommission, die sich
aus dem GeschäftsträgerDeluns-Montant, Archivabteilungsleiter, den Universitäts¬
professoren Aulard und Emile Bourgeois und endlich aus Reinach zuscnnmeu-



") Diese und die folgenden Ausführungen sind den Erklärungen des Deputierten
Joseph Reinach entnommen, welche er dem Schriftsteller Curt Lahn (Paris) gemacht hat.
"Illustrierte Zeitung" Ur. 3504 vom 23. August 1910.
Die Verwertung der Staatsarchive in Preußen

Geschichte auch in weiteren Kreisen durch Publikation wichtiger und interessanter
Urkundenwerke aus unseren archivalischen Reichtümern zu wecken und dadurch
einem fruchtbaren Verständnis breitere Grundlagen zu bereiten. Zu diesem
Zwecke war es der Natur der Sache nach erforderlich, Gegenstände zu wählen,
die den momentanen Stimmungen möglichst nahe lagen, und die geeignet waren,
ein lebendiges nationales Gefühl anzuregen. Kein anderes Gebiet konnte dafür
passender erscheinen, als die glorreiche Zeit der Befreiungskriege. Aber auch
die sonstigen Gebiete der vaterländischen Geschichte wurden unter Professor
v. Sohel so eingehend berücksichtigt, daß von den Publikationen der preußischen
Staatsarchive bis Mai 1895 61 Bände erschienen.

Die größte Liberalität in Benutzung der Staatsakten bewies Fürst Bismarck,
als er mir in den Jahren 1882 bis 1884 die Herausgabe seiner Frankfurter
Depeschen (Preußen im Bundestag, 4 Bände) und kurze Zeit darauf Herrn
v. Sybel die Publikation seines Werkes: „Die Begründung des Deutschen
Reiches unter Kaiser Wilhelm dem Ersten" ermöglichte. Man kann wohl sagen,
daß die preußische Regierung in bezug auf die Verwertung ihrer archivalischen
Schätze unter Sybel und seinem hervorragenden Nachfolger Rheinhold Koser
an der Spitze der Kulturstaaten marschierte.

In Frankreich öffnete sich das Archiv des Ministeriums der auswärtigen
Angelegenheiten bisher nur bis zum Jahre 1848. Die Autorisation zur Einsicht
in die Dokumente wird von einer besonderen Kommission, der Kommission der
diplomatischen Archive erteilt. Alle späteren Dokumente wurden aus diplomatischer
Besorgnis heraus geheim gehalten; die Dokumente des zweiten Kaiserreichs
durften also niemand mitgeteilt werden; es wurde nur eine einzige Ausnahme
gemacht, als Emile Ollivier um die Erlaubnis bat, das jene Zeit umfassende
Archiv für seine „rliswirL as l'Lmpirs liberal" konsultieren zu dürfen. Der
damalige Minister der auswärtigen Angelegenheiten Hanotaux zögerte lange,
bewilligte aber endlich das Gesuch, um dem Manne, der den Krieg von 1870
mit zu verantworten hatte, die Möglichkeit zu gewähren, seine geschichtliche
Verteidigung auf Grund der offiziellen Dokumente aus seiner Regierungszeit
niederzuschreiben *). Da Olliviers Darstellung sich aber als einseitig ermies,
machte der Deputierte Joseph Reinach im Jahre 1906 den Minister der aus¬
wärtigen Angelegenheiten Leon Bourgeois darauf aufmerksam, wie angezeigt es
wäre, die Dokumente über den diplomatischen Ursprung des Krieges von 1870/71
vollständig zu veröffentlichen. Noch ehe Bourgeois einen Entschluß gefaßt hatte,
kam der jetzige Minister des Auswärtigen Pichon an seine Stelle. Er griff den
Reinachschen Gedanken mit Wärme ans und ernannte eine Kommission, die sich
aus dem GeschäftsträgerDeluns-Montant, Archivabteilungsleiter, den Universitäts¬
professoren Aulard und Emile Bourgeois und endlich aus Reinach zuscnnmeu-



") Diese und die folgenden Ausführungen sind den Erklärungen des Deputierten
Joseph Reinach entnommen, welche er dem Schriftsteller Curt Lahn (Paris) gemacht hat.
„Illustrierte Zeitung" Ur. 3504 vom 23. August 1910.
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[0180] Die Verwertung der Staatsarchive in Preußen Geschichte auch in weiteren Kreisen durch Publikation wichtiger und interessanter Urkundenwerke aus unseren archivalischen Reichtümern zu wecken und dadurch einem fruchtbaren Verständnis breitere Grundlagen zu bereiten. Zu diesem Zwecke war es der Natur der Sache nach erforderlich, Gegenstände zu wählen, die den momentanen Stimmungen möglichst nahe lagen, und die geeignet waren, ein lebendiges nationales Gefühl anzuregen. Kein anderes Gebiet konnte dafür passender erscheinen, als die glorreiche Zeit der Befreiungskriege. Aber auch die sonstigen Gebiete der vaterländischen Geschichte wurden unter Professor v. Sohel so eingehend berücksichtigt, daß von den Publikationen der preußischen Staatsarchive bis Mai 1895 61 Bände erschienen. Die größte Liberalität in Benutzung der Staatsakten bewies Fürst Bismarck, als er mir in den Jahren 1882 bis 1884 die Herausgabe seiner Frankfurter Depeschen (Preußen im Bundestag, 4 Bände) und kurze Zeit darauf Herrn v. Sybel die Publikation seines Werkes: „Die Begründung des Deutschen Reiches unter Kaiser Wilhelm dem Ersten" ermöglichte. Man kann wohl sagen, daß die preußische Regierung in bezug auf die Verwertung ihrer archivalischen Schätze unter Sybel und seinem hervorragenden Nachfolger Rheinhold Koser an der Spitze der Kulturstaaten marschierte. In Frankreich öffnete sich das Archiv des Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten bisher nur bis zum Jahre 1848. Die Autorisation zur Einsicht in die Dokumente wird von einer besonderen Kommission, der Kommission der diplomatischen Archive erteilt. Alle späteren Dokumente wurden aus diplomatischer Besorgnis heraus geheim gehalten; die Dokumente des zweiten Kaiserreichs durften also niemand mitgeteilt werden; es wurde nur eine einzige Ausnahme gemacht, als Emile Ollivier um die Erlaubnis bat, das jene Zeit umfassende Archiv für seine „rliswirL as l'Lmpirs liberal" konsultieren zu dürfen. Der damalige Minister der auswärtigen Angelegenheiten Hanotaux zögerte lange, bewilligte aber endlich das Gesuch, um dem Manne, der den Krieg von 1870 mit zu verantworten hatte, die Möglichkeit zu gewähren, seine geschichtliche Verteidigung auf Grund der offiziellen Dokumente aus seiner Regierungszeit niederzuschreiben *). Da Olliviers Darstellung sich aber als einseitig ermies, machte der Deputierte Joseph Reinach im Jahre 1906 den Minister der aus¬ wärtigen Angelegenheiten Leon Bourgeois darauf aufmerksam, wie angezeigt es wäre, die Dokumente über den diplomatischen Ursprung des Krieges von 1870/71 vollständig zu veröffentlichen. Noch ehe Bourgeois einen Entschluß gefaßt hatte, kam der jetzige Minister des Auswärtigen Pichon an seine Stelle. Er griff den Reinachschen Gedanken mit Wärme ans und ernannte eine Kommission, die sich aus dem GeschäftsträgerDeluns-Montant, Archivabteilungsleiter, den Universitäts¬ professoren Aulard und Emile Bourgeois und endlich aus Reinach zuscnnmeu- ") Diese und die folgenden Ausführungen sind den Erklärungen des Deputierten Joseph Reinach entnommen, welche er dem Schriftsteller Curt Lahn (Paris) gemacht hat. „Illustrierte Zeitung" Ur. 3504 vom 23. August 1910.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/180>, abgerufen am 22.07.2024.