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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Im Flecken

"Aber vordem hat sie getaugt, und viele lange Jahre hat sie getaugt," rief
Botscharow mit erhobener Stimme. "Ihre Gesundheit, ihre ganze Kraft hat sie
geopfert, und jetzt, wo die Kräfte ausgehen, soll sie entlassen werden, soll hungern!
So meint ihr es? Aber das ist schlecht, ist grausam. Einen Hund jagt man
nicht gleich fort, wenn er alt und schwach wird. Das sage ich."

Gedrückt sahen die Männer einander an. Was der Älteste über das Fort¬
jagen äußerte, hatte ihren vollen Beifall, aber anderseits begriffen sie, daß es sich
um Zahlungen handelte, um Geldopfer, und dieses Bewußtsein legte sich als
schwerer Alp auf ihr Mitleid.

Botscharow war aufgesprungen und ging im Zimmer auf und nieder, um
den Unmut niederzukämpfen. Er kannte seine Leute und wußte, daß es Mühe
öfter werde, sie zum Zahlen willig zu machen. Er wußte aber auch, daß sie
zuletzt doch nicht wagen würden, ihm ihre Zustimmung zu verweigern.
Dennoch ärgerte ihn der beginnende Widerspruch. Der geringste Versuch in dieser
Richtung regte ihn auf.

"Verehrter Tit Grigorjewitsch," nahm nach einer Pause Utjanow das Wort,
"warum ereifern Sie sich und reden so bitter! Wer will die Lehrerin denn fort¬
jagen! Sie wird von der Schulobrigkeit die Weisung erhalten, um ihren Abschied
zu bitten, wird mit Ehren entlassen werden und ihre Pension bekommen. Das
heißt doch nicht fortjagen."

Einer der Gäste seufzte. Derselbe Einwand war schon vor fünf Jahren
bei dem alten Lehrer der Knabenschule erfolglos gemacht worden.

"Höre," sagte Botscharow und stellte sich vor Utjanow hin, "wie groß ist
die Pension?"

"Ja, groß ist sie freilich nicht," gab der Mannfakturwarenhändler zu,
"aber. . ."

"Groß ist sie nicht, sagst du!" rief Botscharow. "Ich sage dir aber, klein
ist sie. So klein ist sie, daß sie zum Leben nicht reicht und selbst zum Ver¬
hungern noch zu gering ist."

Utjanow zuckte die Achseln.

"Wir haben sie nicht so klein gemacht."

"Aber wir können sie größer machen. Das ist es."

"Hören Sie, verehrter Tit Grigorjewitsch," sprach Utjanow und stand ebenfalls
auf, "größer machen können wir sie. Das wird uns niemand wehren. Aber
wenn wir aller Leute Pensionen größer ..."

"Was für ein Unsinn ..."

"Erlauben Sie, erlauben Sie. Ani Ihnen einen Gefallen zu tun, haben
wir schon vor fünf Jahren den Hilfslehrer an der Knabenschule angestellt und
zahlen ihm noch heutigen Tages die Gage. Jetzt sollen wir der Lehrerin die
Pension erhöhen, und sie lebt vielleicht noch fünfzig Jahre. Nächstens kommt ein
dritter Beamter dran, der Postschreiber oder Polizeischreiber, oder was weiß ich.
Das häuft sich. Woher sollen wir die Mittel nehmen?"

Die anderen ließen beifälliges Gemurmel hören.

"Die Mittel, ja, woher die Mittel?" hieß es.

Botscharows Gesicht begann sich zu röter. Es machte ihn zornig, daß
Utjanow so kurz und klar den Einwand hinstellte, den er selbst im stillen


Im Flecken

„Aber vordem hat sie getaugt, und viele lange Jahre hat sie getaugt," rief
Botscharow mit erhobener Stimme. „Ihre Gesundheit, ihre ganze Kraft hat sie
geopfert, und jetzt, wo die Kräfte ausgehen, soll sie entlassen werden, soll hungern!
So meint ihr es? Aber das ist schlecht, ist grausam. Einen Hund jagt man
nicht gleich fort, wenn er alt und schwach wird. Das sage ich."

Gedrückt sahen die Männer einander an. Was der Älteste über das Fort¬
jagen äußerte, hatte ihren vollen Beifall, aber anderseits begriffen sie, daß es sich
um Zahlungen handelte, um Geldopfer, und dieses Bewußtsein legte sich als
schwerer Alp auf ihr Mitleid.

Botscharow war aufgesprungen und ging im Zimmer auf und nieder, um
den Unmut niederzukämpfen. Er kannte seine Leute und wußte, daß es Mühe
öfter werde, sie zum Zahlen willig zu machen. Er wußte aber auch, daß sie
zuletzt doch nicht wagen würden, ihm ihre Zustimmung zu verweigern.
Dennoch ärgerte ihn der beginnende Widerspruch. Der geringste Versuch in dieser
Richtung regte ihn auf.

„Verehrter Tit Grigorjewitsch," nahm nach einer Pause Utjanow das Wort,
„warum ereifern Sie sich und reden so bitter! Wer will die Lehrerin denn fort¬
jagen! Sie wird von der Schulobrigkeit die Weisung erhalten, um ihren Abschied
zu bitten, wird mit Ehren entlassen werden und ihre Pension bekommen. Das
heißt doch nicht fortjagen."

Einer der Gäste seufzte. Derselbe Einwand war schon vor fünf Jahren
bei dem alten Lehrer der Knabenschule erfolglos gemacht worden.

„Höre," sagte Botscharow und stellte sich vor Utjanow hin, „wie groß ist
die Pension?"

„Ja, groß ist sie freilich nicht," gab der Mannfakturwarenhändler zu,
„aber. . ."

„Groß ist sie nicht, sagst du!" rief Botscharow. „Ich sage dir aber, klein
ist sie. So klein ist sie, daß sie zum Leben nicht reicht und selbst zum Ver¬
hungern noch zu gering ist."

Utjanow zuckte die Achseln.

„Wir haben sie nicht so klein gemacht."

„Aber wir können sie größer machen. Das ist es."

„Hören Sie, verehrter Tit Grigorjewitsch," sprach Utjanow und stand ebenfalls
auf, „größer machen können wir sie. Das wird uns niemand wehren. Aber
wenn wir aller Leute Pensionen größer ..."

„Was für ein Unsinn ..."

„Erlauben Sie, erlauben Sie. Ani Ihnen einen Gefallen zu tun, haben
wir schon vor fünf Jahren den Hilfslehrer an der Knabenschule angestellt und
zahlen ihm noch heutigen Tages die Gage. Jetzt sollen wir der Lehrerin die
Pension erhöhen, und sie lebt vielleicht noch fünfzig Jahre. Nächstens kommt ein
dritter Beamter dran, der Postschreiber oder Polizeischreiber, oder was weiß ich.
Das häuft sich. Woher sollen wir die Mittel nehmen?"

Die anderen ließen beifälliges Gemurmel hören.

„Die Mittel, ja, woher die Mittel?" hieß es.

Botscharows Gesicht begann sich zu röter. Es machte ihn zornig, daß
Utjanow so kurz und klar den Einwand hinstellte, den er selbst im stillen


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[0139] Im Flecken „Aber vordem hat sie getaugt, und viele lange Jahre hat sie getaugt," rief Botscharow mit erhobener Stimme. „Ihre Gesundheit, ihre ganze Kraft hat sie geopfert, und jetzt, wo die Kräfte ausgehen, soll sie entlassen werden, soll hungern! So meint ihr es? Aber das ist schlecht, ist grausam. Einen Hund jagt man nicht gleich fort, wenn er alt und schwach wird. Das sage ich." Gedrückt sahen die Männer einander an. Was der Älteste über das Fort¬ jagen äußerte, hatte ihren vollen Beifall, aber anderseits begriffen sie, daß es sich um Zahlungen handelte, um Geldopfer, und dieses Bewußtsein legte sich als schwerer Alp auf ihr Mitleid. Botscharow war aufgesprungen und ging im Zimmer auf und nieder, um den Unmut niederzukämpfen. Er kannte seine Leute und wußte, daß es Mühe öfter werde, sie zum Zahlen willig zu machen. Er wußte aber auch, daß sie zuletzt doch nicht wagen würden, ihm ihre Zustimmung zu verweigern. Dennoch ärgerte ihn der beginnende Widerspruch. Der geringste Versuch in dieser Richtung regte ihn auf. „Verehrter Tit Grigorjewitsch," nahm nach einer Pause Utjanow das Wort, „warum ereifern Sie sich und reden so bitter! Wer will die Lehrerin denn fort¬ jagen! Sie wird von der Schulobrigkeit die Weisung erhalten, um ihren Abschied zu bitten, wird mit Ehren entlassen werden und ihre Pension bekommen. Das heißt doch nicht fortjagen." Einer der Gäste seufzte. Derselbe Einwand war schon vor fünf Jahren bei dem alten Lehrer der Knabenschule erfolglos gemacht worden. „Höre," sagte Botscharow und stellte sich vor Utjanow hin, „wie groß ist die Pension?" „Ja, groß ist sie freilich nicht," gab der Mannfakturwarenhändler zu, „aber. . ." „Groß ist sie nicht, sagst du!" rief Botscharow. „Ich sage dir aber, klein ist sie. So klein ist sie, daß sie zum Leben nicht reicht und selbst zum Ver¬ hungern noch zu gering ist." Utjanow zuckte die Achseln. „Wir haben sie nicht so klein gemacht." „Aber wir können sie größer machen. Das ist es." „Hören Sie, verehrter Tit Grigorjewitsch," sprach Utjanow und stand ebenfalls auf, „größer machen können wir sie. Das wird uns niemand wehren. Aber wenn wir aller Leute Pensionen größer ..." „Was für ein Unsinn ..." „Erlauben Sie, erlauben Sie. Ani Ihnen einen Gefallen zu tun, haben wir schon vor fünf Jahren den Hilfslehrer an der Knabenschule angestellt und zahlen ihm noch heutigen Tages die Gage. Jetzt sollen wir der Lehrerin die Pension erhöhen, und sie lebt vielleicht noch fünfzig Jahre. Nächstens kommt ein dritter Beamter dran, der Postschreiber oder Polizeischreiber, oder was weiß ich. Das häuft sich. Woher sollen wir die Mittel nehmen?" Die anderen ließen beifälliges Gemurmel hören. „Die Mittel, ja, woher die Mittel?" hieß es. Botscharows Gesicht begann sich zu röter. Es machte ihn zornig, daß Utjanow so kurz und klar den Einwand hinstellte, den er selbst im stillen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/139>, abgerufen am 22.07.2024.