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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

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Im Flecken

Auch Jgnatij erfüllte nach Möglichkeit sein Versprechen, sprang von Zeit zu
Zeit zu, rückte die massiven Schalen und Teller auf dem Tische in besseres Licht
und machte, indem er den Inhalt pries, zugleich auf die Schwere des Silbers
aufmerksam.

Die Gäste waren nicht unempfindlich gegen diese Gastfreundlichkeit. Sie
genossen so viel, wie sie konnten, und noch etwas mehr. Sie zeigten sich entzückt
von der Güte und Seltenheit der Delikatessen und schmatzten mit den Lippen,
wenn ihnen dies oder jenes ganz besonders zusagte. Den Tee tranken sie nicht
aus den Gläsern; sie gössen ihn auf die Untertassen und führten diese auf den
Ellbogen gestützt an den Mund, indem sie sie entweder zierlich mit der Spitze des
Daumens, des Zeige- und Mittelfingers am äußersten Rande faßten oder auf den
Spitzen des Daumens und der drei nächsten Finger in der Schwebe hielten, in
beiden Fällen aber den kleinen Finger ungebeugt weit abspreizten.

"Ja--a," sagte Utjanow, "man bekommt was zu sehen, wenn man bei dem
verehrten Tit Grigorjewitsch zum Tee geladen ist."

"Ja, nirgends findet man ähnliches," stimmten die anderen bei.

Botscharow war zufrieden.

Die meisten Tischgenossen hatten zuletzt das Glas auf die Untertasse gestülpt,
zum Zeichen, daß sie trotz allen Zuredens nicht mehr imstande seien zu trinken.
Den Löffel hatten sie quer über den Boden des Glases gelegt. Da nahm
Botscharow das Wort.

"Teure Gäste," sprach er, "ich freue mich, daß ich euch bei mir sehe, und
ich danke, daß ihr nicht verschmäht habt, mein bescheidenes Brot und Salz zu
genießen."

Er konnte nicht unterlassen, dei dieser Phrase etwas herausfordernd um sich
zu blicken.

"Aber," fuhr er fort, "ich möchte bei dieser Gelegenheit über etwas mit euch
reden, was die Kaufmannschaft angeht, und ich denke, wenn wir hier zusammen¬
sitzen, so ist es so ziemlich die ganze Kaufmannschaft, denn was sonst da draußen
im Flecken Handel treibt, hat es weit bis zu uns."

Geschmeichelt verneigten sich die Gäste und stimmten zu:

"So ist es wirklich. In Wahrheit, so ist es."

"Der Schulinspektor, der vor einigen Tagen auf der Durchfahrt die beiden
Schulen des Fleckens revidierte," fuhr Botscharow fort, "hat bemerkt, die Lehrerin
der Mädchenschule sei schon sehr alt und dabei kränklich, und das sei dem Bestände
der Schülerinnen augenfällig nachteilig. Er glaube, es sei Zeit, sie zu entfernen
und eine junge Kraft anzustellen."

Utjanow machte eine bestätigende Gebärde.

"Es ist Zeit," sagte er. "Sie taugt schon nicht mehr."

"Ja, sie taugt wirklich nicht mehr," meinten auch die anderen.

"Aber bis jetzt hat sie doch getaugt!" sprach Botscharow mit unzufriedenen Tone.

"Schon die letzten Jahre hat sie wenig getaugt," wandte Utjanow ein. "Was
für ein Unterricht war basi Meine Tochter verbrachte mehr Tage zu Hause als
in der Schule."

"Ja, es geht mit ihr nicht mehr", bekräftigten die anderen.


Im Flecken

Auch Jgnatij erfüllte nach Möglichkeit sein Versprechen, sprang von Zeit zu
Zeit zu, rückte die massiven Schalen und Teller auf dem Tische in besseres Licht
und machte, indem er den Inhalt pries, zugleich auf die Schwere des Silbers
aufmerksam.

Die Gäste waren nicht unempfindlich gegen diese Gastfreundlichkeit. Sie
genossen so viel, wie sie konnten, und noch etwas mehr. Sie zeigten sich entzückt
von der Güte und Seltenheit der Delikatessen und schmatzten mit den Lippen,
wenn ihnen dies oder jenes ganz besonders zusagte. Den Tee tranken sie nicht
aus den Gläsern; sie gössen ihn auf die Untertassen und führten diese auf den
Ellbogen gestützt an den Mund, indem sie sie entweder zierlich mit der Spitze des
Daumens, des Zeige- und Mittelfingers am äußersten Rande faßten oder auf den
Spitzen des Daumens und der drei nächsten Finger in der Schwebe hielten, in
beiden Fällen aber den kleinen Finger ungebeugt weit abspreizten.

„Ja—a," sagte Utjanow, „man bekommt was zu sehen, wenn man bei dem
verehrten Tit Grigorjewitsch zum Tee geladen ist."

„Ja, nirgends findet man ähnliches," stimmten die anderen bei.

Botscharow war zufrieden.

Die meisten Tischgenossen hatten zuletzt das Glas auf die Untertasse gestülpt,
zum Zeichen, daß sie trotz allen Zuredens nicht mehr imstande seien zu trinken.
Den Löffel hatten sie quer über den Boden des Glases gelegt. Da nahm
Botscharow das Wort.

„Teure Gäste," sprach er, „ich freue mich, daß ich euch bei mir sehe, und
ich danke, daß ihr nicht verschmäht habt, mein bescheidenes Brot und Salz zu
genießen."

Er konnte nicht unterlassen, dei dieser Phrase etwas herausfordernd um sich
zu blicken.

„Aber," fuhr er fort, „ich möchte bei dieser Gelegenheit über etwas mit euch
reden, was die Kaufmannschaft angeht, und ich denke, wenn wir hier zusammen¬
sitzen, so ist es so ziemlich die ganze Kaufmannschaft, denn was sonst da draußen
im Flecken Handel treibt, hat es weit bis zu uns."

Geschmeichelt verneigten sich die Gäste und stimmten zu:

„So ist es wirklich. In Wahrheit, so ist es."

„Der Schulinspektor, der vor einigen Tagen auf der Durchfahrt die beiden
Schulen des Fleckens revidierte," fuhr Botscharow fort, „hat bemerkt, die Lehrerin
der Mädchenschule sei schon sehr alt und dabei kränklich, und das sei dem Bestände
der Schülerinnen augenfällig nachteilig. Er glaube, es sei Zeit, sie zu entfernen
und eine junge Kraft anzustellen."

Utjanow machte eine bestätigende Gebärde.

„Es ist Zeit," sagte er. „Sie taugt schon nicht mehr."

„Ja, sie taugt wirklich nicht mehr," meinten auch die anderen.

„Aber bis jetzt hat sie doch getaugt!" sprach Botscharow mit unzufriedenen Tone.

„Schon die letzten Jahre hat sie wenig getaugt," wandte Utjanow ein. „Was
für ein Unterricht war basi Meine Tochter verbrachte mehr Tage zu Hause als
in der Schule."

„Ja, es geht mit ihr nicht mehr", bekräftigten die anderen.


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[0138] Im Flecken Auch Jgnatij erfüllte nach Möglichkeit sein Versprechen, sprang von Zeit zu Zeit zu, rückte die massiven Schalen und Teller auf dem Tische in besseres Licht und machte, indem er den Inhalt pries, zugleich auf die Schwere des Silbers aufmerksam. Die Gäste waren nicht unempfindlich gegen diese Gastfreundlichkeit. Sie genossen so viel, wie sie konnten, und noch etwas mehr. Sie zeigten sich entzückt von der Güte und Seltenheit der Delikatessen und schmatzten mit den Lippen, wenn ihnen dies oder jenes ganz besonders zusagte. Den Tee tranken sie nicht aus den Gläsern; sie gössen ihn auf die Untertassen und führten diese auf den Ellbogen gestützt an den Mund, indem sie sie entweder zierlich mit der Spitze des Daumens, des Zeige- und Mittelfingers am äußersten Rande faßten oder auf den Spitzen des Daumens und der drei nächsten Finger in der Schwebe hielten, in beiden Fällen aber den kleinen Finger ungebeugt weit abspreizten. „Ja—a," sagte Utjanow, „man bekommt was zu sehen, wenn man bei dem verehrten Tit Grigorjewitsch zum Tee geladen ist." „Ja, nirgends findet man ähnliches," stimmten die anderen bei. Botscharow war zufrieden. Die meisten Tischgenossen hatten zuletzt das Glas auf die Untertasse gestülpt, zum Zeichen, daß sie trotz allen Zuredens nicht mehr imstande seien zu trinken. Den Löffel hatten sie quer über den Boden des Glases gelegt. Da nahm Botscharow das Wort. „Teure Gäste," sprach er, „ich freue mich, daß ich euch bei mir sehe, und ich danke, daß ihr nicht verschmäht habt, mein bescheidenes Brot und Salz zu genießen." Er konnte nicht unterlassen, dei dieser Phrase etwas herausfordernd um sich zu blicken. „Aber," fuhr er fort, „ich möchte bei dieser Gelegenheit über etwas mit euch reden, was die Kaufmannschaft angeht, und ich denke, wenn wir hier zusammen¬ sitzen, so ist es so ziemlich die ganze Kaufmannschaft, denn was sonst da draußen im Flecken Handel treibt, hat es weit bis zu uns." Geschmeichelt verneigten sich die Gäste und stimmten zu: „So ist es wirklich. In Wahrheit, so ist es." „Der Schulinspektor, der vor einigen Tagen auf der Durchfahrt die beiden Schulen des Fleckens revidierte," fuhr Botscharow fort, „hat bemerkt, die Lehrerin der Mädchenschule sei schon sehr alt und dabei kränklich, und das sei dem Bestände der Schülerinnen augenfällig nachteilig. Er glaube, es sei Zeit, sie zu entfernen und eine junge Kraft anzustellen." Utjanow machte eine bestätigende Gebärde. „Es ist Zeit," sagte er. „Sie taugt schon nicht mehr." „Ja, sie taugt wirklich nicht mehr," meinten auch die anderen. „Aber bis jetzt hat sie doch getaugt!" sprach Botscharow mit unzufriedenen Tone. „Schon die letzten Jahre hat sie wenig getaugt," wandte Utjanow ein. „Was für ein Unterricht war basi Meine Tochter verbrachte mehr Tage zu Hause als in der Schule." „Ja, es geht mit ihr nicht mehr", bekräftigten die anderen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/138>, abgerufen am 22.07.2024.