Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Krisis in der cillislamischc" Bcivegnng

politischen Verfassung nach so weitherzig wie nnr möglich. Wer bekennt, daß
"Allah der einzige Belohner ist", mag im übrigen sogar vom Wesen Gottes,
über das sich der Große Prophet vorsichtig ausgeschwiegen hat, denken, wie er
will, und zur Einfügung fremder Kultusformen, Sitten und Gebräuche in den
mohammedanischen Kanon ist eigens das sehr liberale Gewohnheitsrecht, das
Adad, geschaffen. In der Fähigkeit, größte Gegensätze in sich zu vereinen, das
Heterogenste noch zusammenzuhalten, beruht die Ausdehnungskraft und die zahlen¬
mäßige Überlegenheit des Islam über die Christenheit, allerdings auch seine
innere Schwäche. Seine intellektuelle Entwicklung zeigt ähnliche Züge wie die des
Chinesentums, in dem das Anklammern an das Prinzip von "Ming und
Sadi", wonach Name und Wirklichkeit, Form und Inhalt stets genau über¬
einstimmen sollten, zu dem Ergebnis führte, daß der Name blieb, die
Wirklichkeit sich verflüchtigte, daß der Schein alles, das einheitliche Wesen
zunichte wurde.

Wie konnte bei solcher Zusammenhanglosigkeit, Zerrissenheit und Brüchigkeit
der mohammedanischen Geistes- und Glaubeuswclt die moderne allislamische
Idee sich betätigen und durchsetzen? Von drei Hebelpunkten aus wurde in
neuester Zeit für sie gewirkt. Das sichtbare Haupt und der weltliche Repräsentant
des islamischen Staats ist der Emir Almunünin, der Khalif; insofern der
Padischah als Erbe dieser Würde von dem größten Teil der Mnslims anerkannt
wird, erscheint die Türkei und das Osmanentum als Träger des gesamten
mohammedanischen Weltreichs. Ein findiger und in seiner Art genialer Diplomat,
wie es Abdul Hamid der Vierte war, ließ sich natürlich die so sich bietende
Gelegenheit, den Allislamismus seiner Machtpolitik dienstbar zu machen, nicht
entgehen; er betrachtete ihn als willkommenes Werkzeug, das Padischat auf die
Reiche der Schiiten und der übrigen Sektierer auszudehnen. Eine zweite
Energiequelle der allislamischen Bewegung ist Arabien. Hier, an der Geburts¬
stätte des Mohammedanismus, von der aus einst die Sonne islamischer Kultur
die ganze Welt durchleuchtete, forschte man nach den Ursachen des heutigen
Verfalls und fand sie in der scholastischen Verdrehung und Mißdeutung des
echten Wortes Mohammeds durch dessen Nachfolger und Ausleger. "Zurück
zur reinen Lehre mit ihren demokratischen Grundgesetzen, die die Bürgschaft der
Freiheit und Entwicklungsfähigkeit des Islam sind und die uneinigen Brüder
wieder zusammenführen werden!" erklang der Ruf, der natürlich dem Herrscher
im Jildis-Kiosk nichts weniger als angenehm in den Ohren tönte. Die dritte
Antriebskraft endlich kam aus dem Mönchstum heraus, aus dein reformatorischen
Orden der Senussi. Die von dem Algerier Mohammed Si Ali ben Senusst
gegründete Brüderschaft verurteilt all die Gaukeleien und Spiegelfechtereien, mit
denen die Mitglieder der übrigen entarteten Orden die eigenen Sinne und die
der Menge religiös aufzustacheln und zu überreizen suchen. Ein reines, ernstes,
werktätiges Ordensleben, wie es dessen Gründern vorschwebte, soll wieder
geschaffen und diese Reform die Brücke werden für "die Vereinigung und den


Die Krisis in der cillislamischc» Bcivegnng

politischen Verfassung nach so weitherzig wie nnr möglich. Wer bekennt, daß
„Allah der einzige Belohner ist", mag im übrigen sogar vom Wesen Gottes,
über das sich der Große Prophet vorsichtig ausgeschwiegen hat, denken, wie er
will, und zur Einfügung fremder Kultusformen, Sitten und Gebräuche in den
mohammedanischen Kanon ist eigens das sehr liberale Gewohnheitsrecht, das
Adad, geschaffen. In der Fähigkeit, größte Gegensätze in sich zu vereinen, das
Heterogenste noch zusammenzuhalten, beruht die Ausdehnungskraft und die zahlen¬
mäßige Überlegenheit des Islam über die Christenheit, allerdings auch seine
innere Schwäche. Seine intellektuelle Entwicklung zeigt ähnliche Züge wie die des
Chinesentums, in dem das Anklammern an das Prinzip von „Ming und
Sadi", wonach Name und Wirklichkeit, Form und Inhalt stets genau über¬
einstimmen sollten, zu dem Ergebnis führte, daß der Name blieb, die
Wirklichkeit sich verflüchtigte, daß der Schein alles, das einheitliche Wesen
zunichte wurde.

Wie konnte bei solcher Zusammenhanglosigkeit, Zerrissenheit und Brüchigkeit
der mohammedanischen Geistes- und Glaubeuswclt die moderne allislamische
Idee sich betätigen und durchsetzen? Von drei Hebelpunkten aus wurde in
neuester Zeit für sie gewirkt. Das sichtbare Haupt und der weltliche Repräsentant
des islamischen Staats ist der Emir Almunünin, der Khalif; insofern der
Padischah als Erbe dieser Würde von dem größten Teil der Mnslims anerkannt
wird, erscheint die Türkei und das Osmanentum als Träger des gesamten
mohammedanischen Weltreichs. Ein findiger und in seiner Art genialer Diplomat,
wie es Abdul Hamid der Vierte war, ließ sich natürlich die so sich bietende
Gelegenheit, den Allislamismus seiner Machtpolitik dienstbar zu machen, nicht
entgehen; er betrachtete ihn als willkommenes Werkzeug, das Padischat auf die
Reiche der Schiiten und der übrigen Sektierer auszudehnen. Eine zweite
Energiequelle der allislamischen Bewegung ist Arabien. Hier, an der Geburts¬
stätte des Mohammedanismus, von der aus einst die Sonne islamischer Kultur
die ganze Welt durchleuchtete, forschte man nach den Ursachen des heutigen
Verfalls und fand sie in der scholastischen Verdrehung und Mißdeutung des
echten Wortes Mohammeds durch dessen Nachfolger und Ausleger. „Zurück
zur reinen Lehre mit ihren demokratischen Grundgesetzen, die die Bürgschaft der
Freiheit und Entwicklungsfähigkeit des Islam sind und die uneinigen Brüder
wieder zusammenführen werden!" erklang der Ruf, der natürlich dem Herrscher
im Jildis-Kiosk nichts weniger als angenehm in den Ohren tönte. Die dritte
Antriebskraft endlich kam aus dem Mönchstum heraus, aus dein reformatorischen
Orden der Senussi. Die von dem Algerier Mohammed Si Ali ben Senusst
gegründete Brüderschaft verurteilt all die Gaukeleien und Spiegelfechtereien, mit
denen die Mitglieder der übrigen entarteten Orden die eigenen Sinne und die
der Menge religiös aufzustacheln und zu überreizen suchen. Ein reines, ernstes,
werktätiges Ordensleben, wie es dessen Gründern vorschwebte, soll wieder
geschaffen und diese Reform die Brücke werden für „die Vereinigung und den


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0112" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/317063"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Krisis in der cillislamischc» Bcivegnng</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_430" prev="#ID_429"> politischen Verfassung nach so weitherzig wie nnr möglich. Wer bekennt, daß<lb/>
&#x201E;Allah der einzige Belohner ist", mag im übrigen sogar vom Wesen Gottes,<lb/>
über das sich der Große Prophet vorsichtig ausgeschwiegen hat, denken, wie er<lb/>
will, und zur Einfügung fremder Kultusformen, Sitten und Gebräuche in den<lb/>
mohammedanischen Kanon ist eigens das sehr liberale Gewohnheitsrecht, das<lb/>
Adad, geschaffen. In der Fähigkeit, größte Gegensätze in sich zu vereinen, das<lb/>
Heterogenste noch zusammenzuhalten, beruht die Ausdehnungskraft und die zahlen¬<lb/>
mäßige Überlegenheit des Islam über die Christenheit, allerdings auch seine<lb/>
innere Schwäche. Seine intellektuelle Entwicklung zeigt ähnliche Züge wie die des<lb/>
Chinesentums, in dem das Anklammern an das Prinzip von &#x201E;Ming und<lb/>
Sadi", wonach Name und Wirklichkeit, Form und Inhalt stets genau über¬<lb/>
einstimmen sollten, zu dem Ergebnis führte, daß der Name blieb, die<lb/>
Wirklichkeit sich verflüchtigte, daß der Schein alles, das einheitliche Wesen<lb/>
zunichte wurde.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_431" next="#ID_432"> Wie konnte bei solcher Zusammenhanglosigkeit, Zerrissenheit und Brüchigkeit<lb/>
der mohammedanischen Geistes- und Glaubeuswclt die moderne allislamische<lb/>
Idee sich betätigen und durchsetzen? Von drei Hebelpunkten aus wurde in<lb/>
neuester Zeit für sie gewirkt. Das sichtbare Haupt und der weltliche Repräsentant<lb/>
des islamischen Staats ist der Emir Almunünin, der Khalif; insofern der<lb/>
Padischah als Erbe dieser Würde von dem größten Teil der Mnslims anerkannt<lb/>
wird, erscheint die Türkei und das Osmanentum als Träger des gesamten<lb/>
mohammedanischen Weltreichs. Ein findiger und in seiner Art genialer Diplomat,<lb/>
wie es Abdul Hamid der Vierte war, ließ sich natürlich die so sich bietende<lb/>
Gelegenheit, den Allislamismus seiner Machtpolitik dienstbar zu machen, nicht<lb/>
entgehen; er betrachtete ihn als willkommenes Werkzeug, das Padischat auf die<lb/>
Reiche der Schiiten und der übrigen Sektierer auszudehnen. Eine zweite<lb/>
Energiequelle der allislamischen Bewegung ist Arabien. Hier, an der Geburts¬<lb/>
stätte des Mohammedanismus, von der aus einst die Sonne islamischer Kultur<lb/>
die ganze Welt durchleuchtete, forschte man nach den Ursachen des heutigen<lb/>
Verfalls und fand sie in der scholastischen Verdrehung und Mißdeutung des<lb/>
echten Wortes Mohammeds durch dessen Nachfolger und Ausleger. &#x201E;Zurück<lb/>
zur reinen Lehre mit ihren demokratischen Grundgesetzen, die die Bürgschaft der<lb/>
Freiheit und Entwicklungsfähigkeit des Islam sind und die uneinigen Brüder<lb/>
wieder zusammenführen werden!" erklang der Ruf, der natürlich dem Herrscher<lb/>
im Jildis-Kiosk nichts weniger als angenehm in den Ohren tönte. Die dritte<lb/>
Antriebskraft endlich kam aus dem Mönchstum heraus, aus dein reformatorischen<lb/>
Orden der Senussi. Die von dem Algerier Mohammed Si Ali ben Senusst<lb/>
gegründete Brüderschaft verurteilt all die Gaukeleien und Spiegelfechtereien, mit<lb/>
denen die Mitglieder der übrigen entarteten Orden die eigenen Sinne und die<lb/>
der Menge religiös aufzustacheln und zu überreizen suchen. Ein reines, ernstes,<lb/>
werktätiges Ordensleben, wie es dessen Gründern vorschwebte, soll wieder<lb/>
geschaffen und diese Reform die Brücke werden für &#x201E;die Vereinigung und den</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0112] Die Krisis in der cillislamischc» Bcivegnng politischen Verfassung nach so weitherzig wie nnr möglich. Wer bekennt, daß „Allah der einzige Belohner ist", mag im übrigen sogar vom Wesen Gottes, über das sich der Große Prophet vorsichtig ausgeschwiegen hat, denken, wie er will, und zur Einfügung fremder Kultusformen, Sitten und Gebräuche in den mohammedanischen Kanon ist eigens das sehr liberale Gewohnheitsrecht, das Adad, geschaffen. In der Fähigkeit, größte Gegensätze in sich zu vereinen, das Heterogenste noch zusammenzuhalten, beruht die Ausdehnungskraft und die zahlen¬ mäßige Überlegenheit des Islam über die Christenheit, allerdings auch seine innere Schwäche. Seine intellektuelle Entwicklung zeigt ähnliche Züge wie die des Chinesentums, in dem das Anklammern an das Prinzip von „Ming und Sadi", wonach Name und Wirklichkeit, Form und Inhalt stets genau über¬ einstimmen sollten, zu dem Ergebnis führte, daß der Name blieb, die Wirklichkeit sich verflüchtigte, daß der Schein alles, das einheitliche Wesen zunichte wurde. Wie konnte bei solcher Zusammenhanglosigkeit, Zerrissenheit und Brüchigkeit der mohammedanischen Geistes- und Glaubeuswclt die moderne allislamische Idee sich betätigen und durchsetzen? Von drei Hebelpunkten aus wurde in neuester Zeit für sie gewirkt. Das sichtbare Haupt und der weltliche Repräsentant des islamischen Staats ist der Emir Almunünin, der Khalif; insofern der Padischah als Erbe dieser Würde von dem größten Teil der Mnslims anerkannt wird, erscheint die Türkei und das Osmanentum als Träger des gesamten mohammedanischen Weltreichs. Ein findiger und in seiner Art genialer Diplomat, wie es Abdul Hamid der Vierte war, ließ sich natürlich die so sich bietende Gelegenheit, den Allislamismus seiner Machtpolitik dienstbar zu machen, nicht entgehen; er betrachtete ihn als willkommenes Werkzeug, das Padischat auf die Reiche der Schiiten und der übrigen Sektierer auszudehnen. Eine zweite Energiequelle der allislamischen Bewegung ist Arabien. Hier, an der Geburts¬ stätte des Mohammedanismus, von der aus einst die Sonne islamischer Kultur die ganze Welt durchleuchtete, forschte man nach den Ursachen des heutigen Verfalls und fand sie in der scholastischen Verdrehung und Mißdeutung des echten Wortes Mohammeds durch dessen Nachfolger und Ausleger. „Zurück zur reinen Lehre mit ihren demokratischen Grundgesetzen, die die Bürgschaft der Freiheit und Entwicklungsfähigkeit des Islam sind und die uneinigen Brüder wieder zusammenführen werden!" erklang der Ruf, der natürlich dem Herrscher im Jildis-Kiosk nichts weniger als angenehm in den Ohren tönte. Die dritte Antriebskraft endlich kam aus dem Mönchstum heraus, aus dein reformatorischen Orden der Senussi. Die von dem Algerier Mohammed Si Ali ben Senusst gegründete Brüderschaft verurteilt all die Gaukeleien und Spiegelfechtereien, mit denen die Mitglieder der übrigen entarteten Orden die eigenen Sinne und die der Menge religiös aufzustacheln und zu überreizen suchen. Ein reines, ernstes, werktätiges Ordensleben, wie es dessen Gründern vorschwebte, soll wieder geschaffen und diese Reform die Brücke werden für „die Vereinigung und den

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/112
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/112>, abgerufen am 22.07.2024.