Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Krisis in der cillislamischen Bewegung

Modernismus des Jungtürkentums zur Wehr setze. Die scheinbar unlöslichen
Widersprüche der Kritik können freilich denjenigen nicht überraschen, der sich
bewußt ist, wie der Islam selbst von polarisch entgegengesetzten Strömungen
durchflutet wird, die die Einheitlichkeit des religiösen Elements kaum noch erkennen
lassen. Zur selben Stunde, mit der gleichen Verbeugung nach Mekka und mit der
ungefähr gleichen Gebetsformel preisen Millionen Muselmanen Allah und den
Propheten in Nordasien und Südafrika, an den Gestaden des Pazifischen, des
Indischen Ozeans und des Mittelmeers: das ist im wesentlichen das Band, das
die mohammedanische Glaubenswelt zusammenhält. Der Zusammenklang
beschränkt sich auf Form und Routine; von den Saiten des geistigen und
ethischen Lebens erklingen fast nur Disharmonien. In Persien hat sich der
phantastische Volkssinn im Schiitismus eine romantische Glaubenslehre geschaffen,
die mit dem Charakter des Koran, der "fein ist wie ein Haar und scharf wie
ein Schwert", so wenig zu tun hat, wie etwa der Rationalismus des vorigen
Jahrhunderts mit den Mystikern des Mittelalters. Die Dogmatik von Sekten
wie den Jsmaeliten, Kodschas, Bohras läßt überhaupt kaum noch irgendwelche
Zusammenhänge mit dem Geist des Prophetenworts erkennen. Die Negervölker
Afrikas ebenso wie die mongolischen Stämme Jnnerasiens begnügen sich mit der
Annahme einiger äußerlichen Kultusformen des Islam und treiben daneben ihren
alten Götzen- und Ahnendienst weiter. Die Rechtsschulen der schafften und
Hanefiten drehen sich mit großer Selbstgefälligkeit in der Tretmühle ihrer Buch¬
stabenklauberei und eines zum Selbstzweck gewordenen Formalismus herum,
dessen taube Denkerzeugnisse dem Volk fremd und gleichgültig bleiben. Die
Ülemas sollen der ursprünglichen Bestimmung nach darüber wachen, daß das
demokratische Fundament des Islam, der kein Gottesgnadentum, keine Unfehl¬
barkeit des Khalifen und keinen papistischen Machtspruch kennt, sondern die
Deutung der Schrift vom Jdschma, dem Lor8ensu3 LLLle8ius, also dem lebendigen
religiösen Bewußtsein der Gemeinde abhängig macht, erhalten bleibt. Sie sind
aber im allgemeinen viel zu verknöchert, um der hohen Aufgabe gerecht werden
zu können, auf Grund dieses evolutionistischen Freiheitsprinzips ein fruchtbares
Gemeinschaftsleben von Klerus und Volk aufrecht zu erhalten. Statt dessen
schiebt sich zwischen dieses und die in den Nebeln weltfremder und starrer
Orthodoxie thronende Geistlichkeit eine dritte Macht ein, die Ordensverbände,
die über Millionen von Mitgliedern verfügen und als ihre Aufgabe die Pflege
und Förderung ekstatischer Frömmigkeit betrachten -- bezeichnenderweise wiederum
in vollem Widerspruch zur Lehre Mohammeds, der das Mönchtum verurteilte:
"Allah liebt nicht die Übertreibenden!" Einerseits stehen nun im Gegensatz zu
den katholischen Orden diese Brüderschaften in keinem Subordinierten Verhältnis
Zur kirchlichen Autorität, anderseits herrscht wiederum unter ihnen selbst keinerlei
Einigkeit: die Rifaja, Kadija, Mandanja, Maulanja und wie sie alle heißen,
haben jede ihre besonderen Riten und Lebensformen. In diametralem Gegensatz
zur Enge der geistigen Verfassung ist eben der Mohammedanismus seiner


Die Krisis in der cillislamischen Bewegung

Modernismus des Jungtürkentums zur Wehr setze. Die scheinbar unlöslichen
Widersprüche der Kritik können freilich denjenigen nicht überraschen, der sich
bewußt ist, wie der Islam selbst von polarisch entgegengesetzten Strömungen
durchflutet wird, die die Einheitlichkeit des religiösen Elements kaum noch erkennen
lassen. Zur selben Stunde, mit der gleichen Verbeugung nach Mekka und mit der
ungefähr gleichen Gebetsformel preisen Millionen Muselmanen Allah und den
Propheten in Nordasien und Südafrika, an den Gestaden des Pazifischen, des
Indischen Ozeans und des Mittelmeers: das ist im wesentlichen das Band, das
die mohammedanische Glaubenswelt zusammenhält. Der Zusammenklang
beschränkt sich auf Form und Routine; von den Saiten des geistigen und
ethischen Lebens erklingen fast nur Disharmonien. In Persien hat sich der
phantastische Volkssinn im Schiitismus eine romantische Glaubenslehre geschaffen,
die mit dem Charakter des Koran, der „fein ist wie ein Haar und scharf wie
ein Schwert", so wenig zu tun hat, wie etwa der Rationalismus des vorigen
Jahrhunderts mit den Mystikern des Mittelalters. Die Dogmatik von Sekten
wie den Jsmaeliten, Kodschas, Bohras läßt überhaupt kaum noch irgendwelche
Zusammenhänge mit dem Geist des Prophetenworts erkennen. Die Negervölker
Afrikas ebenso wie die mongolischen Stämme Jnnerasiens begnügen sich mit der
Annahme einiger äußerlichen Kultusformen des Islam und treiben daneben ihren
alten Götzen- und Ahnendienst weiter. Die Rechtsschulen der schafften und
Hanefiten drehen sich mit großer Selbstgefälligkeit in der Tretmühle ihrer Buch¬
stabenklauberei und eines zum Selbstzweck gewordenen Formalismus herum,
dessen taube Denkerzeugnisse dem Volk fremd und gleichgültig bleiben. Die
Ülemas sollen der ursprünglichen Bestimmung nach darüber wachen, daß das
demokratische Fundament des Islam, der kein Gottesgnadentum, keine Unfehl¬
barkeit des Khalifen und keinen papistischen Machtspruch kennt, sondern die
Deutung der Schrift vom Jdschma, dem Lor8ensu3 LLLle8ius, also dem lebendigen
religiösen Bewußtsein der Gemeinde abhängig macht, erhalten bleibt. Sie sind
aber im allgemeinen viel zu verknöchert, um der hohen Aufgabe gerecht werden
zu können, auf Grund dieses evolutionistischen Freiheitsprinzips ein fruchtbares
Gemeinschaftsleben von Klerus und Volk aufrecht zu erhalten. Statt dessen
schiebt sich zwischen dieses und die in den Nebeln weltfremder und starrer
Orthodoxie thronende Geistlichkeit eine dritte Macht ein, die Ordensverbände,
die über Millionen von Mitgliedern verfügen und als ihre Aufgabe die Pflege
und Förderung ekstatischer Frömmigkeit betrachten — bezeichnenderweise wiederum
in vollem Widerspruch zur Lehre Mohammeds, der das Mönchtum verurteilte:
„Allah liebt nicht die Übertreibenden!" Einerseits stehen nun im Gegensatz zu
den katholischen Orden diese Brüderschaften in keinem Subordinierten Verhältnis
Zur kirchlichen Autorität, anderseits herrscht wiederum unter ihnen selbst keinerlei
Einigkeit: die Rifaja, Kadija, Mandanja, Maulanja und wie sie alle heißen,
haben jede ihre besonderen Riten und Lebensformen. In diametralem Gegensatz
zur Enge der geistigen Verfassung ist eben der Mohammedanismus seiner


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0111" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/317062"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Krisis in der cillislamischen Bewegung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_429" prev="#ID_428" next="#ID_430"> Modernismus des Jungtürkentums zur Wehr setze. Die scheinbar unlöslichen<lb/>
Widersprüche der Kritik können freilich denjenigen nicht überraschen, der sich<lb/>
bewußt ist, wie der Islam selbst von polarisch entgegengesetzten Strömungen<lb/>
durchflutet wird, die die Einheitlichkeit des religiösen Elements kaum noch erkennen<lb/>
lassen. Zur selben Stunde, mit der gleichen Verbeugung nach Mekka und mit der<lb/>
ungefähr gleichen Gebetsformel preisen Millionen Muselmanen Allah und den<lb/>
Propheten in Nordasien und Südafrika, an den Gestaden des Pazifischen, des<lb/>
Indischen Ozeans und des Mittelmeers: das ist im wesentlichen das Band, das<lb/>
die mohammedanische Glaubenswelt zusammenhält. Der Zusammenklang<lb/>
beschränkt sich auf Form und Routine; von den Saiten des geistigen und<lb/>
ethischen Lebens erklingen fast nur Disharmonien. In Persien hat sich der<lb/>
phantastische Volkssinn im Schiitismus eine romantische Glaubenslehre geschaffen,<lb/>
die mit dem Charakter des Koran, der &#x201E;fein ist wie ein Haar und scharf wie<lb/>
ein Schwert", so wenig zu tun hat, wie etwa der Rationalismus des vorigen<lb/>
Jahrhunderts mit den Mystikern des Mittelalters. Die Dogmatik von Sekten<lb/>
wie den Jsmaeliten, Kodschas, Bohras läßt überhaupt kaum noch irgendwelche<lb/>
Zusammenhänge mit dem Geist des Prophetenworts erkennen. Die Negervölker<lb/>
Afrikas ebenso wie die mongolischen Stämme Jnnerasiens begnügen sich mit der<lb/>
Annahme einiger äußerlichen Kultusformen des Islam und treiben daneben ihren<lb/>
alten Götzen- und Ahnendienst weiter. Die Rechtsschulen der schafften und<lb/>
Hanefiten drehen sich mit großer Selbstgefälligkeit in der Tretmühle ihrer Buch¬<lb/>
stabenklauberei und eines zum Selbstzweck gewordenen Formalismus herum,<lb/>
dessen taube Denkerzeugnisse dem Volk fremd und gleichgültig bleiben. Die<lb/>
Ülemas sollen der ursprünglichen Bestimmung nach darüber wachen, daß das<lb/>
demokratische Fundament des Islam, der kein Gottesgnadentum, keine Unfehl¬<lb/>
barkeit des Khalifen und keinen papistischen Machtspruch kennt, sondern die<lb/>
Deutung der Schrift vom Jdschma, dem Lor8ensu3 LLLle8ius, also dem lebendigen<lb/>
religiösen Bewußtsein der Gemeinde abhängig macht, erhalten bleibt. Sie sind<lb/>
aber im allgemeinen viel zu verknöchert, um der hohen Aufgabe gerecht werden<lb/>
zu können, auf Grund dieses evolutionistischen Freiheitsprinzips ein fruchtbares<lb/>
Gemeinschaftsleben von Klerus und Volk aufrecht zu erhalten. Statt dessen<lb/>
schiebt sich zwischen dieses und die in den Nebeln weltfremder und starrer<lb/>
Orthodoxie thronende Geistlichkeit eine dritte Macht ein, die Ordensverbände,<lb/>
die über Millionen von Mitgliedern verfügen und als ihre Aufgabe die Pflege<lb/>
und Förderung ekstatischer Frömmigkeit betrachten &#x2014; bezeichnenderweise wiederum<lb/>
in vollem Widerspruch zur Lehre Mohammeds, der das Mönchtum verurteilte:<lb/>
&#x201E;Allah liebt nicht die Übertreibenden!" Einerseits stehen nun im Gegensatz zu<lb/>
den katholischen Orden diese Brüderschaften in keinem Subordinierten Verhältnis<lb/>
Zur kirchlichen Autorität, anderseits herrscht wiederum unter ihnen selbst keinerlei<lb/>
Einigkeit: die Rifaja, Kadija, Mandanja, Maulanja und wie sie alle heißen,<lb/>
haben jede ihre besonderen Riten und Lebensformen. In diametralem Gegensatz<lb/>
zur Enge der geistigen Verfassung ist eben der Mohammedanismus seiner</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0111] Die Krisis in der cillislamischen Bewegung Modernismus des Jungtürkentums zur Wehr setze. Die scheinbar unlöslichen Widersprüche der Kritik können freilich denjenigen nicht überraschen, der sich bewußt ist, wie der Islam selbst von polarisch entgegengesetzten Strömungen durchflutet wird, die die Einheitlichkeit des religiösen Elements kaum noch erkennen lassen. Zur selben Stunde, mit der gleichen Verbeugung nach Mekka und mit der ungefähr gleichen Gebetsformel preisen Millionen Muselmanen Allah und den Propheten in Nordasien und Südafrika, an den Gestaden des Pazifischen, des Indischen Ozeans und des Mittelmeers: das ist im wesentlichen das Band, das die mohammedanische Glaubenswelt zusammenhält. Der Zusammenklang beschränkt sich auf Form und Routine; von den Saiten des geistigen und ethischen Lebens erklingen fast nur Disharmonien. In Persien hat sich der phantastische Volkssinn im Schiitismus eine romantische Glaubenslehre geschaffen, die mit dem Charakter des Koran, der „fein ist wie ein Haar und scharf wie ein Schwert", so wenig zu tun hat, wie etwa der Rationalismus des vorigen Jahrhunderts mit den Mystikern des Mittelalters. Die Dogmatik von Sekten wie den Jsmaeliten, Kodschas, Bohras läßt überhaupt kaum noch irgendwelche Zusammenhänge mit dem Geist des Prophetenworts erkennen. Die Negervölker Afrikas ebenso wie die mongolischen Stämme Jnnerasiens begnügen sich mit der Annahme einiger äußerlichen Kultusformen des Islam und treiben daneben ihren alten Götzen- und Ahnendienst weiter. Die Rechtsschulen der schafften und Hanefiten drehen sich mit großer Selbstgefälligkeit in der Tretmühle ihrer Buch¬ stabenklauberei und eines zum Selbstzweck gewordenen Formalismus herum, dessen taube Denkerzeugnisse dem Volk fremd und gleichgültig bleiben. Die Ülemas sollen der ursprünglichen Bestimmung nach darüber wachen, daß das demokratische Fundament des Islam, der kein Gottesgnadentum, keine Unfehl¬ barkeit des Khalifen und keinen papistischen Machtspruch kennt, sondern die Deutung der Schrift vom Jdschma, dem Lor8ensu3 LLLle8ius, also dem lebendigen religiösen Bewußtsein der Gemeinde abhängig macht, erhalten bleibt. Sie sind aber im allgemeinen viel zu verknöchert, um der hohen Aufgabe gerecht werden zu können, auf Grund dieses evolutionistischen Freiheitsprinzips ein fruchtbares Gemeinschaftsleben von Klerus und Volk aufrecht zu erhalten. Statt dessen schiebt sich zwischen dieses und die in den Nebeln weltfremder und starrer Orthodoxie thronende Geistlichkeit eine dritte Macht ein, die Ordensverbände, die über Millionen von Mitgliedern verfügen und als ihre Aufgabe die Pflege und Förderung ekstatischer Frömmigkeit betrachten — bezeichnenderweise wiederum in vollem Widerspruch zur Lehre Mohammeds, der das Mönchtum verurteilte: „Allah liebt nicht die Übertreibenden!" Einerseits stehen nun im Gegensatz zu den katholischen Orden diese Brüderschaften in keinem Subordinierten Verhältnis Zur kirchlichen Autorität, anderseits herrscht wiederum unter ihnen selbst keinerlei Einigkeit: die Rifaja, Kadija, Mandanja, Maulanja und wie sie alle heißen, haben jede ihre besonderen Riten und Lebensformen. In diametralem Gegensatz zur Enge der geistigen Verfassung ist eben der Mohammedanismus seiner

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/111
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316950/111>, abgerufen am 22.07.2024.