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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Faust" in Frankreich

werden wollen. Im Grunde müssen wir ja auch zugeben, daß es doch recht
nett und verdienstvoll von den braven Leuten ist, sich immer wieder, trotz aller
fehlgeschlagenen Versuche, um den "Faust" zu bemühen. Sie ahnen eben doch
den unsichtbaren Gott und möchten ihn gerne sich und ihren: Volke gewinnen.
Haben wir uns jemals solche Mühe mit den großen Heldengestalten des klassischen
französischen Theaters gegeben? Ja, zucken wir nicht sofort mitleidig und
geringschätzig die Achseln, neun man uns zumutet, die von den Franzosen ver¬
götterten Figuren Racines und Corneilles für die deutsche Bühne zu bearbeiten?
Diese französischen Theaterhelden kommen uns so unnatürlich, oberflächlich,
vopanzig vor, daß wir uns selbst und unser Volk bedauern würden, wenn es
jemals an ihnen Gefallen finden könnte. Dies ist aber ein ganz einseitiges
Urteil. Denn eben die Tatsache, daß bei dem französischen Volke, dem man
gewiß weder Kunstverständnis noch Urteil, Geschmack und schlechthin Kultur
absprechen kann, die Helden Racines und Corneilles nun schon seit Jahrhunderten
geliebt und bewundert wurden, scheint zu beweisen, daß das doch nicht so ganz
leere Strohmänner sein können. Nein, die Wahrheit wird wohl sein, daß uns
der Sinn fehlt, der die Schönheiten dieser Helden erkennen und verstehen läßt.
Dieser Sinn wohnt vielleicht nicht im verborgensten Abgrunde des menschlichen
Gemütes, er sitzt vielleicht gleich unter der Epidermis; da er aber eine große
Nation begeistert und beglückt, darf man ihn nicht verachten. Und da wir somit
einer schönen Fähigkeit entbehren, die den Franzosen eigentümlich ist, dürfen
wir sie nicht schelten, wenn sie anderseits den Sinn für unsere Helden nicht
haben. Im Gegenteil müssen wir sie loben, weil sie sich schon seit hundert
Jahren bemühen, hinter unser Geheimnis zu kommen, während wir ganz einfach
behaupten, ihr Geheimnis sei gar keins und lohne der Mühe näherer Bekannt¬
schaft und Untersuchung nicht.

Sehr merkwürdig ist übrigens, welchen Wert Goethe selbst dem Urteil der
Franzosen über den "Faust" beilegte. In anderen Dingen hat er die Franzosen
durchaus nicht parteiisch voreingenommen beurteilt, in seinen letzten Lebensjahren
aber kümmerte er sich weit mehr um die französische und englische als um die
deutsche Literatur, und ebenso horchte er viel aufmerksamer nach der ausländischen
und ganz besonders nach der französischen Beurteilung seiner Arbeiten als nach
der Wirkung auf Deutschland. Und dabei scheint eine Überschätzung des fran¬
zösischen Urteils und ein günstiges Vorurteil für die Franzosen Goethes Ansicht
SU beeinflussen. Wenn er zum Beispiel zu Eckermann sagt, daß die Lithographien
von Eugen Delacroix die von Goethe selbst erdachten Szenen noch trefflicher
wiedergäben, als sie in seiner eigenen Vorstellung gewesen seien; wenn er ein
andermal sagt, er könne den "Faust" im Deutschen nicht mehr lesen, die fran¬
zösische Übersetzung von Görard de Nerval aber bereite ihm den größten Genuß,
denn hier finde er alles wieder frisch, neu und geistreich, so können wir uns
einer Befremdung nicht entschlagen. Denn Engen Delacroix war zwar ein sehr
großer Maler, aber gerade diese Faustlithographien gehören zu seinen schwächsten


Faust" in Frankreich

werden wollen. Im Grunde müssen wir ja auch zugeben, daß es doch recht
nett und verdienstvoll von den braven Leuten ist, sich immer wieder, trotz aller
fehlgeschlagenen Versuche, um den „Faust" zu bemühen. Sie ahnen eben doch
den unsichtbaren Gott und möchten ihn gerne sich und ihren: Volke gewinnen.
Haben wir uns jemals solche Mühe mit den großen Heldengestalten des klassischen
französischen Theaters gegeben? Ja, zucken wir nicht sofort mitleidig und
geringschätzig die Achseln, neun man uns zumutet, die von den Franzosen ver¬
götterten Figuren Racines und Corneilles für die deutsche Bühne zu bearbeiten?
Diese französischen Theaterhelden kommen uns so unnatürlich, oberflächlich,
vopanzig vor, daß wir uns selbst und unser Volk bedauern würden, wenn es
jemals an ihnen Gefallen finden könnte. Dies ist aber ein ganz einseitiges
Urteil. Denn eben die Tatsache, daß bei dem französischen Volke, dem man
gewiß weder Kunstverständnis noch Urteil, Geschmack und schlechthin Kultur
absprechen kann, die Helden Racines und Corneilles nun schon seit Jahrhunderten
geliebt und bewundert wurden, scheint zu beweisen, daß das doch nicht so ganz
leere Strohmänner sein können. Nein, die Wahrheit wird wohl sein, daß uns
der Sinn fehlt, der die Schönheiten dieser Helden erkennen und verstehen läßt.
Dieser Sinn wohnt vielleicht nicht im verborgensten Abgrunde des menschlichen
Gemütes, er sitzt vielleicht gleich unter der Epidermis; da er aber eine große
Nation begeistert und beglückt, darf man ihn nicht verachten. Und da wir somit
einer schönen Fähigkeit entbehren, die den Franzosen eigentümlich ist, dürfen
wir sie nicht schelten, wenn sie anderseits den Sinn für unsere Helden nicht
haben. Im Gegenteil müssen wir sie loben, weil sie sich schon seit hundert
Jahren bemühen, hinter unser Geheimnis zu kommen, während wir ganz einfach
behaupten, ihr Geheimnis sei gar keins und lohne der Mühe näherer Bekannt¬
schaft und Untersuchung nicht.

Sehr merkwürdig ist übrigens, welchen Wert Goethe selbst dem Urteil der
Franzosen über den „Faust" beilegte. In anderen Dingen hat er die Franzosen
durchaus nicht parteiisch voreingenommen beurteilt, in seinen letzten Lebensjahren
aber kümmerte er sich weit mehr um die französische und englische als um die
deutsche Literatur, und ebenso horchte er viel aufmerksamer nach der ausländischen
und ganz besonders nach der französischen Beurteilung seiner Arbeiten als nach
der Wirkung auf Deutschland. Und dabei scheint eine Überschätzung des fran¬
zösischen Urteils und ein günstiges Vorurteil für die Franzosen Goethes Ansicht
SU beeinflussen. Wenn er zum Beispiel zu Eckermann sagt, daß die Lithographien
von Eugen Delacroix die von Goethe selbst erdachten Szenen noch trefflicher
wiedergäben, als sie in seiner eigenen Vorstellung gewesen seien; wenn er ein
andermal sagt, er könne den „Faust" im Deutschen nicht mehr lesen, die fran¬
zösische Übersetzung von Görard de Nerval aber bereite ihm den größten Genuß,
denn hier finde er alles wieder frisch, neu und geistreich, so können wir uns
einer Befremdung nicht entschlagen. Denn Engen Delacroix war zwar ein sehr
großer Maler, aber gerade diese Faustlithographien gehören zu seinen schwächsten


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[0083] Faust" in Frankreich werden wollen. Im Grunde müssen wir ja auch zugeben, daß es doch recht nett und verdienstvoll von den braven Leuten ist, sich immer wieder, trotz aller fehlgeschlagenen Versuche, um den „Faust" zu bemühen. Sie ahnen eben doch den unsichtbaren Gott und möchten ihn gerne sich und ihren: Volke gewinnen. Haben wir uns jemals solche Mühe mit den großen Heldengestalten des klassischen französischen Theaters gegeben? Ja, zucken wir nicht sofort mitleidig und geringschätzig die Achseln, neun man uns zumutet, die von den Franzosen ver¬ götterten Figuren Racines und Corneilles für die deutsche Bühne zu bearbeiten? Diese französischen Theaterhelden kommen uns so unnatürlich, oberflächlich, vopanzig vor, daß wir uns selbst und unser Volk bedauern würden, wenn es jemals an ihnen Gefallen finden könnte. Dies ist aber ein ganz einseitiges Urteil. Denn eben die Tatsache, daß bei dem französischen Volke, dem man gewiß weder Kunstverständnis noch Urteil, Geschmack und schlechthin Kultur absprechen kann, die Helden Racines und Corneilles nun schon seit Jahrhunderten geliebt und bewundert wurden, scheint zu beweisen, daß das doch nicht so ganz leere Strohmänner sein können. Nein, die Wahrheit wird wohl sein, daß uns der Sinn fehlt, der die Schönheiten dieser Helden erkennen und verstehen läßt. Dieser Sinn wohnt vielleicht nicht im verborgensten Abgrunde des menschlichen Gemütes, er sitzt vielleicht gleich unter der Epidermis; da er aber eine große Nation begeistert und beglückt, darf man ihn nicht verachten. Und da wir somit einer schönen Fähigkeit entbehren, die den Franzosen eigentümlich ist, dürfen wir sie nicht schelten, wenn sie anderseits den Sinn für unsere Helden nicht haben. Im Gegenteil müssen wir sie loben, weil sie sich schon seit hundert Jahren bemühen, hinter unser Geheimnis zu kommen, während wir ganz einfach behaupten, ihr Geheimnis sei gar keins und lohne der Mühe näherer Bekannt¬ schaft und Untersuchung nicht. Sehr merkwürdig ist übrigens, welchen Wert Goethe selbst dem Urteil der Franzosen über den „Faust" beilegte. In anderen Dingen hat er die Franzosen durchaus nicht parteiisch voreingenommen beurteilt, in seinen letzten Lebensjahren aber kümmerte er sich weit mehr um die französische und englische als um die deutsche Literatur, und ebenso horchte er viel aufmerksamer nach der ausländischen und ganz besonders nach der französischen Beurteilung seiner Arbeiten als nach der Wirkung auf Deutschland. Und dabei scheint eine Überschätzung des fran¬ zösischen Urteils und ein günstiges Vorurteil für die Franzosen Goethes Ansicht SU beeinflussen. Wenn er zum Beispiel zu Eckermann sagt, daß die Lithographien von Eugen Delacroix die von Goethe selbst erdachten Szenen noch trefflicher wiedergäben, als sie in seiner eigenen Vorstellung gewesen seien; wenn er ein andermal sagt, er könne den „Faust" im Deutschen nicht mehr lesen, die fran¬ zösische Übersetzung von Görard de Nerval aber bereite ihm den größten Genuß, denn hier finde er alles wieder frisch, neu und geistreich, so können wir uns einer Befremdung nicht entschlagen. Denn Engen Delacroix war zwar ein sehr großer Maler, aber gerade diese Faustlithographien gehören zu seinen schwächsten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/83>, abgerufen am 23.07.2024.