Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
payer und Naumann als Historiker

"größere Selbständigkeit" der Einzelstaaten (einschließlich in gewissem Sinne
auch der von Preußen annektierten Länder), verlangte ein dem schweizerischen
ähnliches "Milizwesen", forderte die Wiedervereinigung mit Österreich und gab
allen Sätzen vor allem eine Spitze gegen Preußen. Hier führt in erster Linie
der Partikularismus das große Wort; die demokratischen Tendenzen treten dem
gegenüber zurück. Vom Standpunkt der Demokratie aus hätte man auch Bismarck
keineswegs große Vorwürfe machen können: er hatte ja noch vor Württemberg das
allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht für den norddeutschen Reichstag eingeführt.

Mit jenen lieblichen Bestrebungen der Volkspartei räumte der Krieg von
1870 gründlich auf. "Mit dem Südbund, mit dem Milizsystem und um ein
Haar mit der Volkspartei selbst war es aus." Im Gegensatz zu dieser gewann
jetzt in Württemberg die "Deutsche Partei" Boden. Nur mühsam raffte sich
die Volkspartei auf und blieb, namentlich in: deutscheu Reichstag, einstweilen
recht schwach. Es ist interessant, bei Paper zu lesen, wie schwer sich seiue
Parteigenossen in die neuen Verhältnisse zu finden wußten. "Eigentlich müßte"
-- sagt er -- "eine Generation aussterben, bis ein solcher innerer Riß vernarbt
ist." Die Volksparteiler behielten ihren Groll in: Herzen und kämpften weiter
für das föderalistische Prinzip gegen den preußischen Einfluß. Paper nennt es
"befremdend", daß in den siebziger Jahren die Polemik zwischen der Volks¬
partei und Bismarck ihren Höhepunkt erreichte. Wie sollte das befremdend
sein? Die volksparteilichen Abgeordneten waren mit ihrem Haß gegen Preußen
eben jetzt ja erst in den neuen deutschen Reichstag eingetreten; jetzt mußte der
Gegensatz vollends offenbar werden. Paper will Bismarcks Unwillen über die
Volkspartei vornehmlich darauf zurückführen, daß sie im Kulturkampf dem
Zentrum beisprang. Dies Motiv wird natürlich mitgewirkt haben; allein tiefere
Gegensätze waren ja genug vorhanden.

Payer berichtet dann ausführlich über die persönlichen Streitigkeiten zwischen
den Volksparteilern und Bismarck. Niemand wird heute alles entschuldigen,
was dieser in der Leidenschaft gegen jene unternommen. Allein er war nun
einmal für sie der bestgehaßte Mann von 1866 her, und was sie ihm boten,
zeigt die von dem Stuttgarter "Beobachter" erhobene Anschuldigung, er habe
sich das Kullmannsche Attentat selbst bestellt! Überdies ist heute die Zahl der
Bismarckschen Angriffe gegen die Volkspartei in der "Geschichte der Frankfurter
Zeitung" genau verzeichnet, während wir eine gleich sorgfältige Registrierung
dessen, was die Volkspartei gegen ihn verbrochen, nicht besitzen. Für die Natur
der Volkspartei aber ist es bezeichnend, daß selbst ein Mann wie Paper jenen
persönlichen Streitigkeiten in seiner Darstellung einen unverhältnismäßig großen
Raum gewährt und deshalb nicht dazu kommt, sich über die großen Aufgaben
der Reichspolitik, in denen die Volkspartei Bismarck widerstrebte, mit gleicher
Ausführlichkeit zu äußern*). Schließlich hebe ich aus diesem Abschnitt noch



*) Payer erwähnt auch, das; Bismarck 1884 die Wahl des Sozialisten Sabor gegen Sonne¬
mann durch ein Telegramm unterstützt habe. Soviel mir bekannt, ist dies Telegramm apokryph.
payer und Naumann als Historiker

„größere Selbständigkeit" der Einzelstaaten (einschließlich in gewissem Sinne
auch der von Preußen annektierten Länder), verlangte ein dem schweizerischen
ähnliches „Milizwesen", forderte die Wiedervereinigung mit Österreich und gab
allen Sätzen vor allem eine Spitze gegen Preußen. Hier führt in erster Linie
der Partikularismus das große Wort; die demokratischen Tendenzen treten dem
gegenüber zurück. Vom Standpunkt der Demokratie aus hätte man auch Bismarck
keineswegs große Vorwürfe machen können: er hatte ja noch vor Württemberg das
allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht für den norddeutschen Reichstag eingeführt.

Mit jenen lieblichen Bestrebungen der Volkspartei räumte der Krieg von
1870 gründlich auf. „Mit dem Südbund, mit dem Milizsystem und um ein
Haar mit der Volkspartei selbst war es aus." Im Gegensatz zu dieser gewann
jetzt in Württemberg die „Deutsche Partei" Boden. Nur mühsam raffte sich
die Volkspartei auf und blieb, namentlich in: deutscheu Reichstag, einstweilen
recht schwach. Es ist interessant, bei Paper zu lesen, wie schwer sich seiue
Parteigenossen in die neuen Verhältnisse zu finden wußten. „Eigentlich müßte"
— sagt er — „eine Generation aussterben, bis ein solcher innerer Riß vernarbt
ist." Die Volksparteiler behielten ihren Groll in: Herzen und kämpften weiter
für das föderalistische Prinzip gegen den preußischen Einfluß. Paper nennt es
„befremdend", daß in den siebziger Jahren die Polemik zwischen der Volks¬
partei und Bismarck ihren Höhepunkt erreichte. Wie sollte das befremdend
sein? Die volksparteilichen Abgeordneten waren mit ihrem Haß gegen Preußen
eben jetzt ja erst in den neuen deutschen Reichstag eingetreten; jetzt mußte der
Gegensatz vollends offenbar werden. Paper will Bismarcks Unwillen über die
Volkspartei vornehmlich darauf zurückführen, daß sie im Kulturkampf dem
Zentrum beisprang. Dies Motiv wird natürlich mitgewirkt haben; allein tiefere
Gegensätze waren ja genug vorhanden.

Payer berichtet dann ausführlich über die persönlichen Streitigkeiten zwischen
den Volksparteilern und Bismarck. Niemand wird heute alles entschuldigen,
was dieser in der Leidenschaft gegen jene unternommen. Allein er war nun
einmal für sie der bestgehaßte Mann von 1866 her, und was sie ihm boten,
zeigt die von dem Stuttgarter „Beobachter" erhobene Anschuldigung, er habe
sich das Kullmannsche Attentat selbst bestellt! Überdies ist heute die Zahl der
Bismarckschen Angriffe gegen die Volkspartei in der „Geschichte der Frankfurter
Zeitung" genau verzeichnet, während wir eine gleich sorgfältige Registrierung
dessen, was die Volkspartei gegen ihn verbrochen, nicht besitzen. Für die Natur
der Volkspartei aber ist es bezeichnend, daß selbst ein Mann wie Paper jenen
persönlichen Streitigkeiten in seiner Darstellung einen unverhältnismäßig großen
Raum gewährt und deshalb nicht dazu kommt, sich über die großen Aufgaben
der Reichspolitik, in denen die Volkspartei Bismarck widerstrebte, mit gleicher
Ausführlichkeit zu äußern*). Schließlich hebe ich aus diesem Abschnitt noch



*) Payer erwähnt auch, das; Bismarck 1884 die Wahl des Sozialisten Sabor gegen Sonne¬
mann durch ein Telegramm unterstützt habe. Soviel mir bekannt, ist dies Telegramm apokryph.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0072" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/316361"/>
          <fw type="header" place="top"> payer und Naumann als Historiker</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_226" prev="#ID_225"> &#x201E;größere Selbständigkeit" der Einzelstaaten (einschließlich in gewissem Sinne<lb/>
auch der von Preußen annektierten Länder), verlangte ein dem schweizerischen<lb/>
ähnliches &#x201E;Milizwesen", forderte die Wiedervereinigung mit Österreich und gab<lb/>
allen Sätzen vor allem eine Spitze gegen Preußen. Hier führt in erster Linie<lb/>
der Partikularismus das große Wort; die demokratischen Tendenzen treten dem<lb/>
gegenüber zurück. Vom Standpunkt der Demokratie aus hätte man auch Bismarck<lb/>
keineswegs große Vorwürfe machen können: er hatte ja noch vor Württemberg das<lb/>
allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht für den norddeutschen Reichstag eingeführt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_227"> Mit jenen lieblichen Bestrebungen der Volkspartei räumte der Krieg von<lb/>
1870 gründlich auf. &#x201E;Mit dem Südbund, mit dem Milizsystem und um ein<lb/>
Haar mit der Volkspartei selbst war es aus." Im Gegensatz zu dieser gewann<lb/>
jetzt in Württemberg die &#x201E;Deutsche Partei" Boden. Nur mühsam raffte sich<lb/>
die Volkspartei auf und blieb, namentlich in: deutscheu Reichstag, einstweilen<lb/>
recht schwach. Es ist interessant, bei Paper zu lesen, wie schwer sich seiue<lb/>
Parteigenossen in die neuen Verhältnisse zu finden wußten. &#x201E;Eigentlich müßte"<lb/>
&#x2014; sagt er &#x2014; &#x201E;eine Generation aussterben, bis ein solcher innerer Riß vernarbt<lb/>
ist." Die Volksparteiler behielten ihren Groll in: Herzen und kämpften weiter<lb/>
für das föderalistische Prinzip gegen den preußischen Einfluß. Paper nennt es<lb/>
&#x201E;befremdend", daß in den siebziger Jahren die Polemik zwischen der Volks¬<lb/>
partei und Bismarck ihren Höhepunkt erreichte. Wie sollte das befremdend<lb/>
sein? Die volksparteilichen Abgeordneten waren mit ihrem Haß gegen Preußen<lb/>
eben jetzt ja erst in den neuen deutschen Reichstag eingetreten; jetzt mußte der<lb/>
Gegensatz vollends offenbar werden. Paper will Bismarcks Unwillen über die<lb/>
Volkspartei vornehmlich darauf zurückführen, daß sie im Kulturkampf dem<lb/>
Zentrum beisprang. Dies Motiv wird natürlich mitgewirkt haben; allein tiefere<lb/>
Gegensätze waren ja genug vorhanden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_228" next="#ID_229"> Payer berichtet dann ausführlich über die persönlichen Streitigkeiten zwischen<lb/>
den Volksparteilern und Bismarck. Niemand wird heute alles entschuldigen,<lb/>
was dieser in der Leidenschaft gegen jene unternommen. Allein er war nun<lb/>
einmal für sie der bestgehaßte Mann von 1866 her, und was sie ihm boten,<lb/>
zeigt die von dem Stuttgarter &#x201E;Beobachter" erhobene Anschuldigung, er habe<lb/>
sich das Kullmannsche Attentat selbst bestellt! Überdies ist heute die Zahl der<lb/>
Bismarckschen Angriffe gegen die Volkspartei in der &#x201E;Geschichte der Frankfurter<lb/>
Zeitung" genau verzeichnet, während wir eine gleich sorgfältige Registrierung<lb/>
dessen, was die Volkspartei gegen ihn verbrochen, nicht besitzen. Für die Natur<lb/>
der Volkspartei aber ist es bezeichnend, daß selbst ein Mann wie Paper jenen<lb/>
persönlichen Streitigkeiten in seiner Darstellung einen unverhältnismäßig großen<lb/>
Raum gewährt und deshalb nicht dazu kommt, sich über die großen Aufgaben<lb/>
der Reichspolitik, in denen die Volkspartei Bismarck widerstrebte, mit gleicher<lb/>
Ausführlichkeit zu äußern*).  Schließlich hebe ich aus diesem Abschnitt noch</p><lb/>
          <note xml:id="FID_7" place="foot"> *) Payer erwähnt auch, das; Bismarck 1884 die Wahl des Sozialisten Sabor gegen Sonne¬<lb/>
mann durch ein Telegramm unterstützt habe. Soviel mir bekannt, ist dies Telegramm apokryph.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0072] payer und Naumann als Historiker „größere Selbständigkeit" der Einzelstaaten (einschließlich in gewissem Sinne auch der von Preußen annektierten Länder), verlangte ein dem schweizerischen ähnliches „Milizwesen", forderte die Wiedervereinigung mit Österreich und gab allen Sätzen vor allem eine Spitze gegen Preußen. Hier führt in erster Linie der Partikularismus das große Wort; die demokratischen Tendenzen treten dem gegenüber zurück. Vom Standpunkt der Demokratie aus hätte man auch Bismarck keineswegs große Vorwürfe machen können: er hatte ja noch vor Württemberg das allgemeine, gleiche, direkte Wahlrecht für den norddeutschen Reichstag eingeführt. Mit jenen lieblichen Bestrebungen der Volkspartei räumte der Krieg von 1870 gründlich auf. „Mit dem Südbund, mit dem Milizsystem und um ein Haar mit der Volkspartei selbst war es aus." Im Gegensatz zu dieser gewann jetzt in Württemberg die „Deutsche Partei" Boden. Nur mühsam raffte sich die Volkspartei auf und blieb, namentlich in: deutscheu Reichstag, einstweilen recht schwach. Es ist interessant, bei Paper zu lesen, wie schwer sich seiue Parteigenossen in die neuen Verhältnisse zu finden wußten. „Eigentlich müßte" — sagt er — „eine Generation aussterben, bis ein solcher innerer Riß vernarbt ist." Die Volksparteiler behielten ihren Groll in: Herzen und kämpften weiter für das föderalistische Prinzip gegen den preußischen Einfluß. Paper nennt es „befremdend", daß in den siebziger Jahren die Polemik zwischen der Volks¬ partei und Bismarck ihren Höhepunkt erreichte. Wie sollte das befremdend sein? Die volksparteilichen Abgeordneten waren mit ihrem Haß gegen Preußen eben jetzt ja erst in den neuen deutschen Reichstag eingetreten; jetzt mußte der Gegensatz vollends offenbar werden. Paper will Bismarcks Unwillen über die Volkspartei vornehmlich darauf zurückführen, daß sie im Kulturkampf dem Zentrum beisprang. Dies Motiv wird natürlich mitgewirkt haben; allein tiefere Gegensätze waren ja genug vorhanden. Payer berichtet dann ausführlich über die persönlichen Streitigkeiten zwischen den Volksparteilern und Bismarck. Niemand wird heute alles entschuldigen, was dieser in der Leidenschaft gegen jene unternommen. Allein er war nun einmal für sie der bestgehaßte Mann von 1866 her, und was sie ihm boten, zeigt die von dem Stuttgarter „Beobachter" erhobene Anschuldigung, er habe sich das Kullmannsche Attentat selbst bestellt! Überdies ist heute die Zahl der Bismarckschen Angriffe gegen die Volkspartei in der „Geschichte der Frankfurter Zeitung" genau verzeichnet, während wir eine gleich sorgfältige Registrierung dessen, was die Volkspartei gegen ihn verbrochen, nicht besitzen. Für die Natur der Volkspartei aber ist es bezeichnend, daß selbst ein Mann wie Paper jenen persönlichen Streitigkeiten in seiner Darstellung einen unverhältnismäßig großen Raum gewährt und deshalb nicht dazu kommt, sich über die großen Aufgaben der Reichspolitik, in denen die Volkspartei Bismarck widerstrebte, mit gleicher Ausführlichkeit zu äußern*). Schließlich hebe ich aus diesem Abschnitt noch *) Payer erwähnt auch, das; Bismarck 1884 die Wahl des Sozialisten Sabor gegen Sonne¬ mann durch ein Telegramm unterstützt habe. Soviel mir bekannt, ist dies Telegramm apokryph.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/72
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/72>, abgerufen am 09.01.2025.