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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Die Lage des Deutschtums in Galizien

zwei Flugschriften "Soll ich nach Posen auswandern oder soll ich in Galizien
bleiben?" und "Warum der Christian nicht nach Posen gegangen ist?" enthalten
überaus treffende Bemerkungen. Zugleich wurde der evangelische Oberkirchenrat,
die Zentralleitung des Gustav-Adolf-Vereins und dessen österreichischer Haupt¬
verein, ebenso der Allgemeine deutsche Schulverein über die Verhältnisse unter¬
richtet und um reichlichere Unterstützungen gebeten. Trotzdem von gegnerischer
Seite diese Arbeit sofort bekämpft, ja selbst im Gustav-Adolf-Verein
dagegen Stimmung gemacht wurde, zeigten sich bald die guten Wirkungen der
Abwehrbewegung. Im Laufe des Jahres 1904 nahm die Auswanderung
bedeutend ab und hat seither stetig an Bedeutung verloren. Beigetragen haben
zu diesem Erfolge verschiedene Faktoren. In Deutschland selbst erhoben sich
Stimmen gegen die maßlose Agitation, die dort die Auswanderung hervorrief,
wo kein Bedürfnis danach vorhanden war. Nachdem man bessere Einsicht in
die Verhältnisse gewonnen hatte, mußte sich die Erkenntnis einstellen, daß das
Unternehmen ein verfehltes war. Dazu kam vor allem, daß die Deutschen in
Posen vieles fanden, was ihnen mißfiel. Die meisten schreckte von der Aus¬
wanderung die "Rente ohne Ende" ab. In Galizien ihr Eigentum aufzugeben,
um in Posen fünfunddreißig bis fünfzig Jahre für den ihnen übergebenen Grund
und Boden die Rente zu zahlen, erschien überaus beschwerlich. Seit 1904
fanden bereits Rückwanderungen aus Posen statt, die selbstverständlich andere
Deutsche von der Auswanderung abschreckten. Zu dem allen kam, daß die
nationalen und wirtschaftlichen Organisationen der Deutschen in Galizien sich
hoffnungsvoll zu entwickeln begannen; andrerseits wurde man gewahr, daß der
Kampf zwischen den Deutschen und Polen auch in Posen überaus heftig sei,
auch dort die Polen deutsche Güter gewinnen, und das Schicksal der Deutschen
daselbst sich durch einen Umschwung der Politik ebenso ändern könnte wie in
Galizien.

So ist die Übersiedlung der galizischen Deutschen nach Posen gescheitert.")
Der Gewinn, den die Ostmarken aus den dahin gezogenen Ansiedlern zogen,
ist verhältnismäßig gering gegen den Verlust, den das Deutschtum in Galizien
und damit der deutsche Einfluß im Osten überhaupt erlitten hat. Nach der
Berechnung der Superintendentur ist der Verlust der evangelischen Deutschen
allein von 1900 bis 1905 auf etwa sechstausend Seelen zu veranschlagen. Einzelne
Gemeinden haben sich ganz aufgelöst, so 1900 Rudolfshof und Rehberg, 1904
Sulichow, Walddorf, Alt-Jazüw und Baranöwka, 1907 Zbora. Viele Gemeinden
wurden überaus geschwächt, indem sie nichtdeutsche Elemente aufnahmen. In
manchen gingen daher auch die deutscheu Schulen ein, so in Felsendorf und Suszno.

Trotzdem ist das galizische Deutschtum noch durchaus lebensfähig. Auf die
Deutschen in den Städten ist mit einigen Ausnahmen wohl wenig Verlaß; sie



*) Wir verweisen hierzu auf das Nachwort zu diesem Aufsatz, in dem sich der Präsident
der Preußischen Ansiedlungskommission, Herr Wirklicher Geheimer Oben'cgiermigsratOr.Gmmscki
Die Schriftltg, zu obigen Ausführungen äußert.
Die Lage des Deutschtums in Galizien

zwei Flugschriften „Soll ich nach Posen auswandern oder soll ich in Galizien
bleiben?" und „Warum der Christian nicht nach Posen gegangen ist?" enthalten
überaus treffende Bemerkungen. Zugleich wurde der evangelische Oberkirchenrat,
die Zentralleitung des Gustav-Adolf-Vereins und dessen österreichischer Haupt¬
verein, ebenso der Allgemeine deutsche Schulverein über die Verhältnisse unter¬
richtet und um reichlichere Unterstützungen gebeten. Trotzdem von gegnerischer
Seite diese Arbeit sofort bekämpft, ja selbst im Gustav-Adolf-Verein
dagegen Stimmung gemacht wurde, zeigten sich bald die guten Wirkungen der
Abwehrbewegung. Im Laufe des Jahres 1904 nahm die Auswanderung
bedeutend ab und hat seither stetig an Bedeutung verloren. Beigetragen haben
zu diesem Erfolge verschiedene Faktoren. In Deutschland selbst erhoben sich
Stimmen gegen die maßlose Agitation, die dort die Auswanderung hervorrief,
wo kein Bedürfnis danach vorhanden war. Nachdem man bessere Einsicht in
die Verhältnisse gewonnen hatte, mußte sich die Erkenntnis einstellen, daß das
Unternehmen ein verfehltes war. Dazu kam vor allem, daß die Deutschen in
Posen vieles fanden, was ihnen mißfiel. Die meisten schreckte von der Aus¬
wanderung die „Rente ohne Ende" ab. In Galizien ihr Eigentum aufzugeben,
um in Posen fünfunddreißig bis fünfzig Jahre für den ihnen übergebenen Grund
und Boden die Rente zu zahlen, erschien überaus beschwerlich. Seit 1904
fanden bereits Rückwanderungen aus Posen statt, die selbstverständlich andere
Deutsche von der Auswanderung abschreckten. Zu dem allen kam, daß die
nationalen und wirtschaftlichen Organisationen der Deutschen in Galizien sich
hoffnungsvoll zu entwickeln begannen; andrerseits wurde man gewahr, daß der
Kampf zwischen den Deutschen und Polen auch in Posen überaus heftig sei,
auch dort die Polen deutsche Güter gewinnen, und das Schicksal der Deutschen
daselbst sich durch einen Umschwung der Politik ebenso ändern könnte wie in
Galizien.

So ist die Übersiedlung der galizischen Deutschen nach Posen gescheitert.")
Der Gewinn, den die Ostmarken aus den dahin gezogenen Ansiedlern zogen,
ist verhältnismäßig gering gegen den Verlust, den das Deutschtum in Galizien
und damit der deutsche Einfluß im Osten überhaupt erlitten hat. Nach der
Berechnung der Superintendentur ist der Verlust der evangelischen Deutschen
allein von 1900 bis 1905 auf etwa sechstausend Seelen zu veranschlagen. Einzelne
Gemeinden haben sich ganz aufgelöst, so 1900 Rudolfshof und Rehberg, 1904
Sulichow, Walddorf, Alt-Jazüw und Baranöwka, 1907 Zbora. Viele Gemeinden
wurden überaus geschwächt, indem sie nichtdeutsche Elemente aufnahmen. In
manchen gingen daher auch die deutscheu Schulen ein, so in Felsendorf und Suszno.

Trotzdem ist das galizische Deutschtum noch durchaus lebensfähig. Auf die
Deutschen in den Städten ist mit einigen Ausnahmen wohl wenig Verlaß; sie



*) Wir verweisen hierzu auf das Nachwort zu diesem Aufsatz, in dem sich der Präsident
der Preußischen Ansiedlungskommission, Herr Wirklicher Geheimer Oben'cgiermigsratOr.Gmmscki
Die Schriftltg, zu obigen Ausführungen äußert.
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[0586] Die Lage des Deutschtums in Galizien zwei Flugschriften „Soll ich nach Posen auswandern oder soll ich in Galizien bleiben?" und „Warum der Christian nicht nach Posen gegangen ist?" enthalten überaus treffende Bemerkungen. Zugleich wurde der evangelische Oberkirchenrat, die Zentralleitung des Gustav-Adolf-Vereins und dessen österreichischer Haupt¬ verein, ebenso der Allgemeine deutsche Schulverein über die Verhältnisse unter¬ richtet und um reichlichere Unterstützungen gebeten. Trotzdem von gegnerischer Seite diese Arbeit sofort bekämpft, ja selbst im Gustav-Adolf-Verein dagegen Stimmung gemacht wurde, zeigten sich bald die guten Wirkungen der Abwehrbewegung. Im Laufe des Jahres 1904 nahm die Auswanderung bedeutend ab und hat seither stetig an Bedeutung verloren. Beigetragen haben zu diesem Erfolge verschiedene Faktoren. In Deutschland selbst erhoben sich Stimmen gegen die maßlose Agitation, die dort die Auswanderung hervorrief, wo kein Bedürfnis danach vorhanden war. Nachdem man bessere Einsicht in die Verhältnisse gewonnen hatte, mußte sich die Erkenntnis einstellen, daß das Unternehmen ein verfehltes war. Dazu kam vor allem, daß die Deutschen in Posen vieles fanden, was ihnen mißfiel. Die meisten schreckte von der Aus¬ wanderung die „Rente ohne Ende" ab. In Galizien ihr Eigentum aufzugeben, um in Posen fünfunddreißig bis fünfzig Jahre für den ihnen übergebenen Grund und Boden die Rente zu zahlen, erschien überaus beschwerlich. Seit 1904 fanden bereits Rückwanderungen aus Posen statt, die selbstverständlich andere Deutsche von der Auswanderung abschreckten. Zu dem allen kam, daß die nationalen und wirtschaftlichen Organisationen der Deutschen in Galizien sich hoffnungsvoll zu entwickeln begannen; andrerseits wurde man gewahr, daß der Kampf zwischen den Deutschen und Polen auch in Posen überaus heftig sei, auch dort die Polen deutsche Güter gewinnen, und das Schicksal der Deutschen daselbst sich durch einen Umschwung der Politik ebenso ändern könnte wie in Galizien. So ist die Übersiedlung der galizischen Deutschen nach Posen gescheitert.") Der Gewinn, den die Ostmarken aus den dahin gezogenen Ansiedlern zogen, ist verhältnismäßig gering gegen den Verlust, den das Deutschtum in Galizien und damit der deutsche Einfluß im Osten überhaupt erlitten hat. Nach der Berechnung der Superintendentur ist der Verlust der evangelischen Deutschen allein von 1900 bis 1905 auf etwa sechstausend Seelen zu veranschlagen. Einzelne Gemeinden haben sich ganz aufgelöst, so 1900 Rudolfshof und Rehberg, 1904 Sulichow, Walddorf, Alt-Jazüw und Baranöwka, 1907 Zbora. Viele Gemeinden wurden überaus geschwächt, indem sie nichtdeutsche Elemente aufnahmen. In manchen gingen daher auch die deutscheu Schulen ein, so in Felsendorf und Suszno. Trotzdem ist das galizische Deutschtum noch durchaus lebensfähig. Auf die Deutschen in den Städten ist mit einigen Ausnahmen wohl wenig Verlaß; sie *) Wir verweisen hierzu auf das Nachwort zu diesem Aufsatz, in dem sich der Präsident der Preußischen Ansiedlungskommission, Herr Wirklicher Geheimer Oben'cgiermigsratOr.Gmmscki Die Schriftltg, zu obigen Ausführungen äußert.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/586>, abgerufen am 23.07.2024.