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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Aber die verzerrten Züge des Wahnsinns, die den Horizont umstellen, ver¬
wandeln die freie Natur in ein Gefängnis, Das zweite Gesicht der lieblichen
Landschaft tritt jetzt stärker hervor. Das unergründliche Auge des Sees, die
Drachenwand mit ihrem dunklen Teufelsspuk, der schwarze zackige Wald neben
dem Haus, das Menetekel, von der Hand des Schicksals auf diese vier Wände
gezeichnet, die kleinen, aber drückenden Beschwerden des Alltags, sie schließen sich
M einer fürchterlichen .Kette zusammen. Ich versuche zu lesen und zu schreiben,
aber die Aufmerksamkeit weicht ab. Ich laufe in meinem Gefängnis waldein,
Waldaus, verfolgt vou unsichtbaren Gestalten, von Fratzen neben mir, hinter mir.
vor mir. von Unholden, die aus jedem Busch aufspringen, hinter jedem Baume
hervortreten, über jeden Weg ein Wurzelbein stellen. Die Bäume neigen sich,
langen mit Hunderten von Armen nach dem Fliehenden, verwandeln sich in
ungeheuerliche Wesen, die locken und erschrecken. Unzählige Stimmen reden mich
im Wald an, flüsternd, raunend, einteilt, lockend, rauschend, brausend, lieblich,
schmeichelnd, drohend. Einmal ist es, wie wenn eine Orgel im Walde spielte,
dann geht eine Uhr. dann hallt dumpf ein Schritt, dann ein leises verdächtiges
Pfeifen, ein Näuberpsiff, darauf ein Hohngelächter, ein Gebrüll von wilden Tieren,
ein lawinenartiges Sausen und Brausen, als ob der Teufel durchs Drachenloch
führe, und schließlich das Stimmengewirr einer aufgeregten Menge, einer Herde
von Wahnsinnigen, die sich näher und näher wälzt, wie sehr ich auch meinen
Schritt beschleunige, so beschleunige, daß ich beinahe laufe.

Ich war in den Wald gegangen, um mit meinen Gedanken allein zu sein,
und damit ist es wieder nichts geworden. Ich fühle mich abgeschnitten von aller
Welt, in diesen Zauberkreis gebannt. Ich könnte entfliehen und fühle mich doch
gehemmt. Ich bin der Sklave meiner Vorsätze geworden. Nachts versuche ich
vergebens zu schlafen. Das Lager ist hart, das Polster zu klein, die Decke ist mit
Federn gefüllt und schwer wie Pflastersteine. Der schwarze Wald reckt sich drohend
vor dem Fenster auf. der Mond tritt geisterhaft in das Zimmer, ein Knacksen und
Knarren, als ob es spukte. Sollte es wieder die verstorbene Schwiegermutter
sein? Im Zimmer nebenan, wo sich die Kinderwiege und der Totenkranz befinden,
wird es sehr unruhig. Und bei allen diesen heimlichen Leiden muß ich mir sagen,
daß ich das Ziel meiner Wünsche erreicht habe. Meine Sehnsucht nach dem
Bauernhaus hat sich erfüllt. Ich wohne im Haus des Glücks.

Es scheint jedoch recht schwer, das Paradies zu ertragen!

(Schlus; folgt in Ur. 38.)




Grcnzöotcn III 1910L9

Aber die verzerrten Züge des Wahnsinns, die den Horizont umstellen, ver¬
wandeln die freie Natur in ein Gefängnis, Das zweite Gesicht der lieblichen
Landschaft tritt jetzt stärker hervor. Das unergründliche Auge des Sees, die
Drachenwand mit ihrem dunklen Teufelsspuk, der schwarze zackige Wald neben
dem Haus, das Menetekel, von der Hand des Schicksals auf diese vier Wände
gezeichnet, die kleinen, aber drückenden Beschwerden des Alltags, sie schließen sich
M einer fürchterlichen .Kette zusammen. Ich versuche zu lesen und zu schreiben,
aber die Aufmerksamkeit weicht ab. Ich laufe in meinem Gefängnis waldein,
Waldaus, verfolgt vou unsichtbaren Gestalten, von Fratzen neben mir, hinter mir.
vor mir. von Unholden, die aus jedem Busch aufspringen, hinter jedem Baume
hervortreten, über jeden Weg ein Wurzelbein stellen. Die Bäume neigen sich,
langen mit Hunderten von Armen nach dem Fliehenden, verwandeln sich in
ungeheuerliche Wesen, die locken und erschrecken. Unzählige Stimmen reden mich
im Wald an, flüsternd, raunend, einteilt, lockend, rauschend, brausend, lieblich,
schmeichelnd, drohend. Einmal ist es, wie wenn eine Orgel im Walde spielte,
dann geht eine Uhr. dann hallt dumpf ein Schritt, dann ein leises verdächtiges
Pfeifen, ein Näuberpsiff, darauf ein Hohngelächter, ein Gebrüll von wilden Tieren,
ein lawinenartiges Sausen und Brausen, als ob der Teufel durchs Drachenloch
führe, und schließlich das Stimmengewirr einer aufgeregten Menge, einer Herde
von Wahnsinnigen, die sich näher und näher wälzt, wie sehr ich auch meinen
Schritt beschleunige, so beschleunige, daß ich beinahe laufe.

Ich war in den Wald gegangen, um mit meinen Gedanken allein zu sein,
und damit ist es wieder nichts geworden. Ich fühle mich abgeschnitten von aller
Welt, in diesen Zauberkreis gebannt. Ich könnte entfliehen und fühle mich doch
gehemmt. Ich bin der Sklave meiner Vorsätze geworden. Nachts versuche ich
vergebens zu schlafen. Das Lager ist hart, das Polster zu klein, die Decke ist mit
Federn gefüllt und schwer wie Pflastersteine. Der schwarze Wald reckt sich drohend
vor dem Fenster auf. der Mond tritt geisterhaft in das Zimmer, ein Knacksen und
Knarren, als ob es spukte. Sollte es wieder die verstorbene Schwiegermutter
sein? Im Zimmer nebenan, wo sich die Kinderwiege und der Totenkranz befinden,
wird es sehr unruhig. Und bei allen diesen heimlichen Leiden muß ich mir sagen,
daß ich das Ziel meiner Wünsche erreicht habe. Meine Sehnsucht nach dem
Bauernhaus hat sich erfüllt. Ich wohne im Haus des Glücks.

Es scheint jedoch recht schwer, das Paradies zu ertragen!

(Schlus; folgt in Ur. 38.)




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[0557] Aber die verzerrten Züge des Wahnsinns, die den Horizont umstellen, ver¬ wandeln die freie Natur in ein Gefängnis, Das zweite Gesicht der lieblichen Landschaft tritt jetzt stärker hervor. Das unergründliche Auge des Sees, die Drachenwand mit ihrem dunklen Teufelsspuk, der schwarze zackige Wald neben dem Haus, das Menetekel, von der Hand des Schicksals auf diese vier Wände gezeichnet, die kleinen, aber drückenden Beschwerden des Alltags, sie schließen sich M einer fürchterlichen .Kette zusammen. Ich versuche zu lesen und zu schreiben, aber die Aufmerksamkeit weicht ab. Ich laufe in meinem Gefängnis waldein, Waldaus, verfolgt vou unsichtbaren Gestalten, von Fratzen neben mir, hinter mir. vor mir. von Unholden, die aus jedem Busch aufspringen, hinter jedem Baume hervortreten, über jeden Weg ein Wurzelbein stellen. Die Bäume neigen sich, langen mit Hunderten von Armen nach dem Fliehenden, verwandeln sich in ungeheuerliche Wesen, die locken und erschrecken. Unzählige Stimmen reden mich im Wald an, flüsternd, raunend, einteilt, lockend, rauschend, brausend, lieblich, schmeichelnd, drohend. Einmal ist es, wie wenn eine Orgel im Walde spielte, dann geht eine Uhr. dann hallt dumpf ein Schritt, dann ein leises verdächtiges Pfeifen, ein Näuberpsiff, darauf ein Hohngelächter, ein Gebrüll von wilden Tieren, ein lawinenartiges Sausen und Brausen, als ob der Teufel durchs Drachenloch führe, und schließlich das Stimmengewirr einer aufgeregten Menge, einer Herde von Wahnsinnigen, die sich näher und näher wälzt, wie sehr ich auch meinen Schritt beschleunige, so beschleunige, daß ich beinahe laufe. Ich war in den Wald gegangen, um mit meinen Gedanken allein zu sein, und damit ist es wieder nichts geworden. Ich fühle mich abgeschnitten von aller Welt, in diesen Zauberkreis gebannt. Ich könnte entfliehen und fühle mich doch gehemmt. Ich bin der Sklave meiner Vorsätze geworden. Nachts versuche ich vergebens zu schlafen. Das Lager ist hart, das Polster zu klein, die Decke ist mit Federn gefüllt und schwer wie Pflastersteine. Der schwarze Wald reckt sich drohend vor dem Fenster auf. der Mond tritt geisterhaft in das Zimmer, ein Knacksen und Knarren, als ob es spukte. Sollte es wieder die verstorbene Schwiegermutter sein? Im Zimmer nebenan, wo sich die Kinderwiege und der Totenkranz befinden, wird es sehr unruhig. Und bei allen diesen heimlichen Leiden muß ich mir sagen, daß ich das Ziel meiner Wünsche erreicht habe. Meine Sehnsucht nach dem Bauernhaus hat sich erfüllt. Ich wohne im Haus des Glücks. Es scheint jedoch recht schwer, das Paradies zu ertragen! (Schlus; folgt in Ur. 38.) Grcnzöotcn III 1910L9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/557>, abgerufen am 23.07.2024.