Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.Yucm Shih-kai 528 Gelb des Bodens und des Wassers trüb gewordenes Europüerherz wieder zu ' Das moderne Tientsin ist ein anderes. Kein Fort und keine Fahne erzwingt Yucm Shih-kai 528 Gelb des Bodens und des Wassers trüb gewordenes Europüerherz wieder zu ' Das moderne Tientsin ist ein anderes. Kein Fort und keine Fahne erzwingt <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0540" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/316825"/> <fw type="header" place="top"> Yucm Shih-kai</fw><lb/> <p xml:id="ID_2275" prev="#ID_2274" next="#ID_2276"> 528</p><lb/> <p xml:id="ID_2276" prev="#ID_2275"> Gelb des Bodens und des Wassers trüb gewordenes Europüerherz wieder zu<lb/> ermutigen geeignet ist. Die zahlreichen Windungen des Flußes verzögern die<lb/> Ankunft, und es beginnt schon zu dunkeln, als mau die wallumgürtete Stadt<lb/> mit ihren gewaltigen schwarzen Forts erreicht, auf denen wieder viele viele<lb/> Fahnen, vier- und dreieckig, gezähnten Randes und vielfarbig, triumphierend<lb/> und herausfordernd im Winde flattern. Dies ist das alte Tientsin, das Tientsin<lb/> der Zeiten, die vor dein Jahre 1900 liegen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2277" next="#ID_2278"> ' Das moderne Tientsin ist ein anderes. Kein Fort und keine Fahne erzwingt<lb/> sich Achtung an der Mündung des Peiho, dessen Lauf reguliert ist, und der in<lb/> fast schnurgeraden Bett seine schlickbeladenen Wasser dem Meere zuführt. Auch<lb/> droht kein schwarzes Fort in Tientsin mehr; sie sind abgetragen worden, und<lb/> die Besorgnis und Not, die Angst und der Jammer, die sie einst erzeugten,<lb/> belästigen die Teilnehmer an der Belagerung nur noch als Albdruck, dessen<lb/> hirnvermirrende Kraft auch schon acht dazwischenliegende Jahre abgeschwächt<lb/> haben. An ihrer Stelle gibt es eine moderne Straße von europäischen, besser<lb/> noch von amerikanischen Abmessungen, wenn eben amerikanisch hier den Begriff<lb/> der „Großzügigkeit" deckt. Eine elektrische Straßenbahn kennt diese Straße auch.<lb/> Vor allen diesen Neuerungen fühlt man den Kopf schwindeln. Die Umwälzung,<lb/> die hier in wenig Jahren stattgefunden hat, ist gewaltig. Man begreift und<lb/> fühlt, daß die Änderung, die hier vor sich gegangen ist, keine bloß äußerliche<lb/> ist, daß wenigstens hier chinesische Art so seine Natur verleugnet hat, daß das<lb/> Resultat fast unasiatisch ausgeht. Mau Hütte den, der vor 1900 solche Änderungen<lb/> nur für möglich gehalten hätte, mitleidigen Blicks angesehen, hätte geglaubt,<lb/> daß vielleicht chinesisches Sprachstudium sein klares Urteil getrübt habe, denn diese<lb/> Beschäftigung soll uach der allgemeinen Meinung vieler alter Ostasiaten „unklug"<lb/> machen. Aber so groß angelegt und groß durchgeführt diese Änderungen auch<lb/> erscheinen mögen, ist wohl in der Seele des Chinesen soviel wie eine Ahnung<lb/> von fremder Welt, von einer Welt der „Fremden" aufgestiegen? Wer weiß<lb/> das? Wer von uns weiß überhaupt etwas vou der Psyche des Chinesen?<lb/> Man schwankt in jenem Zustand von stumpfer Verzweiflung und Lachkrampf<lb/> hin und her, wenn man immer wieder Leute trifft, die sich anheischig machen,<lb/> alle Dinge zwischen dem astatischen Himmel und seiner Erde in bestimmte und<lb/> zu bestimmende Formeln dem Verstände greifbar darzustellen. Es gibt Leute,<lb/> die über die intimste» Seiten asiatischen Lebens ihre Monographie schreiben zu<lb/> können glauben, und, sobald das Werk gedruckt, gebunden und der Bibliothek<lb/> einverleibt ist, zu dein Gefühl befriedigten Stolzes berechtigt zu sein meinen,<lb/> daß sie wieder eine der dunkelsten Ecken der Chinesenseele erleuchtet haben. Wie<lb/> fast hoffnungslos die Aufgabe des Studiums der Asiatennatur ist, lehrt das<lb/> Werk von Artur Smith, der als Befähigungsnachweis zu seiner Arbeit unter<lb/> seinem Namen den Zusatz anbrachte: 30 Jahre Missionar in China. Das Werk,<lb/> dessen Titel lautet: „Chinese Characteristics", gilt in Kennerkreisen für das beste<lb/> Buch, das über den Chinesen geschrieben worden ist. Und was erfahren wir<lb/> da? Nicht Positives, keinen allgemein giltigen Satz. Der Chinese ist und bleibt<lb/> für uus ein rätselhaftes Wesen. Ist die Kluft zwischen östlicher und westlicher<lb/> Art wirklich so groß, oder ist es bloß unsre Erkenntnis chinesischen Wesens, die<lb/> noch so mangelhaft ist, ist eine Frage, die wir uns heute auf unserm Gange<lb/> durch die Chinesenstadt Tientsin wieder einmal vorlegen, wobei wir uus auch<lb/> diesmal wieder die Antwort schuldig bleiben. Wo die Straße heute läuft, haben<lb/> früher Wohnhäuser gestanden. Sie sind rücksichtslos fortgeräumt worden. Wir<lb/> sehen elektrisches Licht; eine modern gedrillte und „zielbewußt" arbeitende Polizei</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0540]
Yucm Shih-kai
528
Gelb des Bodens und des Wassers trüb gewordenes Europüerherz wieder zu
ermutigen geeignet ist. Die zahlreichen Windungen des Flußes verzögern die
Ankunft, und es beginnt schon zu dunkeln, als mau die wallumgürtete Stadt
mit ihren gewaltigen schwarzen Forts erreicht, auf denen wieder viele viele
Fahnen, vier- und dreieckig, gezähnten Randes und vielfarbig, triumphierend
und herausfordernd im Winde flattern. Dies ist das alte Tientsin, das Tientsin
der Zeiten, die vor dein Jahre 1900 liegen.
' Das moderne Tientsin ist ein anderes. Kein Fort und keine Fahne erzwingt
sich Achtung an der Mündung des Peiho, dessen Lauf reguliert ist, und der in
fast schnurgeraden Bett seine schlickbeladenen Wasser dem Meere zuführt. Auch
droht kein schwarzes Fort in Tientsin mehr; sie sind abgetragen worden, und
die Besorgnis und Not, die Angst und der Jammer, die sie einst erzeugten,
belästigen die Teilnehmer an der Belagerung nur noch als Albdruck, dessen
hirnvermirrende Kraft auch schon acht dazwischenliegende Jahre abgeschwächt
haben. An ihrer Stelle gibt es eine moderne Straße von europäischen, besser
noch von amerikanischen Abmessungen, wenn eben amerikanisch hier den Begriff
der „Großzügigkeit" deckt. Eine elektrische Straßenbahn kennt diese Straße auch.
Vor allen diesen Neuerungen fühlt man den Kopf schwindeln. Die Umwälzung,
die hier in wenig Jahren stattgefunden hat, ist gewaltig. Man begreift und
fühlt, daß die Änderung, die hier vor sich gegangen ist, keine bloß äußerliche
ist, daß wenigstens hier chinesische Art so seine Natur verleugnet hat, daß das
Resultat fast unasiatisch ausgeht. Mau Hütte den, der vor 1900 solche Änderungen
nur für möglich gehalten hätte, mitleidigen Blicks angesehen, hätte geglaubt,
daß vielleicht chinesisches Sprachstudium sein klares Urteil getrübt habe, denn diese
Beschäftigung soll uach der allgemeinen Meinung vieler alter Ostasiaten „unklug"
machen. Aber so groß angelegt und groß durchgeführt diese Änderungen auch
erscheinen mögen, ist wohl in der Seele des Chinesen soviel wie eine Ahnung
von fremder Welt, von einer Welt der „Fremden" aufgestiegen? Wer weiß
das? Wer von uns weiß überhaupt etwas vou der Psyche des Chinesen?
Man schwankt in jenem Zustand von stumpfer Verzweiflung und Lachkrampf
hin und her, wenn man immer wieder Leute trifft, die sich anheischig machen,
alle Dinge zwischen dem astatischen Himmel und seiner Erde in bestimmte und
zu bestimmende Formeln dem Verstände greifbar darzustellen. Es gibt Leute,
die über die intimste» Seiten asiatischen Lebens ihre Monographie schreiben zu
können glauben, und, sobald das Werk gedruckt, gebunden und der Bibliothek
einverleibt ist, zu dein Gefühl befriedigten Stolzes berechtigt zu sein meinen,
daß sie wieder eine der dunkelsten Ecken der Chinesenseele erleuchtet haben. Wie
fast hoffnungslos die Aufgabe des Studiums der Asiatennatur ist, lehrt das
Werk von Artur Smith, der als Befähigungsnachweis zu seiner Arbeit unter
seinem Namen den Zusatz anbrachte: 30 Jahre Missionar in China. Das Werk,
dessen Titel lautet: „Chinese Characteristics", gilt in Kennerkreisen für das beste
Buch, das über den Chinesen geschrieben worden ist. Und was erfahren wir
da? Nicht Positives, keinen allgemein giltigen Satz. Der Chinese ist und bleibt
für uus ein rätselhaftes Wesen. Ist die Kluft zwischen östlicher und westlicher
Art wirklich so groß, oder ist es bloß unsre Erkenntnis chinesischen Wesens, die
noch so mangelhaft ist, ist eine Frage, die wir uns heute auf unserm Gange
durch die Chinesenstadt Tientsin wieder einmal vorlegen, wobei wir uus auch
diesmal wieder die Antwort schuldig bleiben. Wo die Straße heute läuft, haben
früher Wohnhäuser gestanden. Sie sind rücksichtslos fortgeräumt worden. Wir
sehen elektrisches Licht; eine modern gedrillte und „zielbewußt" arbeitende Polizei
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