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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Charakter

"Lieber Freund!

Du magst Dich gestern gewundert haben, daß ich auf dein Heimwege
vielleicht etwas schweigsamer war als sonst und daß ich mich auch früher von Dir
trennte als an anderen Tagen. Sei nur deshalb nicht böse und verzeihe nur
auch, wenn ich Dir mit den folgenden Zeilen vielleicht einen sehr großen Schmerz
zufüge. Es fällt mir am leichtesten, wenn ich es Dir gleich und rund heraus
sage: ich hebe meine Verlobung mit Dir auf.

Ich bitte Dich inständigst, mache keine Versuche mich umzustimmen. Denn
wenn es Dir auch gelingen könnte, noch eine Annäherung zwischen uns zustande
zu bringen, so wäre sie nur eine rein äußere und nur für den Augenblick. In
meinem Innersten würde immer ein Stachel zurückbleiben, der in unserer Ehe
ein vollständiges Aufgehen des einen in dem anderen -- ohne welches ich mir
ein Zusammenleben nicht vorstellen kann -- unmöglich machen müßte.

Es fällt nur furchtbar schwer, Dir die Gründe für meinen Entschluß aus¬
einander zu setzen, ja ich habe einen förmlichen Widerwillen dagegen, aber ich
fühle, daß ich es Dir schuldig bin.

Als ich Dich gestern fragte, ob Du den Hund auch dann niedergeschossen
hättest, wenn Du gewußt hättest, in welchem Verhältnisse wir einmal zueinander
stehen würden, antwortetest Du mir mit: Nein... Im Augenblicke erschien
mir diese Antwort auch ganz natürlich. Aber schon auf unserem Heimwege
drängte sich mir die Überlegung auf und ich erschrak förmlich über die Selbst¬
verständlichkeit, mit der Du mir geantwortet hattest. Mir wurde plötzlich
ganz kalt bei dem Gedanken an dieses: .Nein! was fällt Dir ein!'...

Du hast damals eine Grausamkeit begangen. Denn eine Grausamkeit ist
es unbedingt, wenn man ein Tier, das einem Naturtrieb folgt, einfach
umbringt. Eine solche Grausamkeit kann nur dann entschuldigt werden, wenn
sie aus einem Rechte heraus verübt wird. Aus einem Recht, welches in Vernunft-
gründen wurzelt. Und das glaubte ich von Dir. Bis gestern. Aber gestern
erkannte ich, daß Du meinen Hund nicht aus Rechtsgefühl, sondern nur aus
Laune erschossen hast. Denn wenn jemand irgend etwas das eine Mal tut, das
andere Mal aber ganz dasselbe, aus was immer für Gründen, nicht tut -- dann
ist dieses Begehen und Unterlassen kein Recht, sondern nur Laune. Und ich
würde niemals den Gedanken loswerden können, mit einem Menschen zusammen
zu leben, der imstande ist, aus Laune eine Grausamkeit zu begehen.

Du wirst jetzt vielleicht sagen: Gott sei Dank, daß ich mich mit dieser
Person noch nicht fürs Leben gebunden habe. Und das wäre nur eigentlich sehr
lieb, denn dann wüßte ich, daß ich Dir keinen allzu großen Schmerz bereite.
Es würde mich aber doch auch freuen, wenn Du mich verstehen oder wenigstens
nur ahnen könntest.

Leb' wohl, Erich, und wenn Du manchmal an die Susanne denkst, dann
tu es nicht mit allzu viel Spott und Geringschätzung!

?. S. Den Dackel, den Du mir geschenkt hast, behalte ich trotz alledem."




Dieser Brief verblüffte mich derart, daß ich an dem Tage, an dem ich ihn
empfing, gar nicht daran dachte, eine Aussprache mit Susanne zu suchen. Als


Charakter

„Lieber Freund!

Du magst Dich gestern gewundert haben, daß ich auf dein Heimwege
vielleicht etwas schweigsamer war als sonst und daß ich mich auch früher von Dir
trennte als an anderen Tagen. Sei nur deshalb nicht böse und verzeihe nur
auch, wenn ich Dir mit den folgenden Zeilen vielleicht einen sehr großen Schmerz
zufüge. Es fällt mir am leichtesten, wenn ich es Dir gleich und rund heraus
sage: ich hebe meine Verlobung mit Dir auf.

Ich bitte Dich inständigst, mache keine Versuche mich umzustimmen. Denn
wenn es Dir auch gelingen könnte, noch eine Annäherung zwischen uns zustande
zu bringen, so wäre sie nur eine rein äußere und nur für den Augenblick. In
meinem Innersten würde immer ein Stachel zurückbleiben, der in unserer Ehe
ein vollständiges Aufgehen des einen in dem anderen — ohne welches ich mir
ein Zusammenleben nicht vorstellen kann — unmöglich machen müßte.

Es fällt nur furchtbar schwer, Dir die Gründe für meinen Entschluß aus¬
einander zu setzen, ja ich habe einen förmlichen Widerwillen dagegen, aber ich
fühle, daß ich es Dir schuldig bin.

Als ich Dich gestern fragte, ob Du den Hund auch dann niedergeschossen
hättest, wenn Du gewußt hättest, in welchem Verhältnisse wir einmal zueinander
stehen würden, antwortetest Du mir mit: Nein... Im Augenblicke erschien
mir diese Antwort auch ganz natürlich. Aber schon auf unserem Heimwege
drängte sich mir die Überlegung auf und ich erschrak förmlich über die Selbst¬
verständlichkeit, mit der Du mir geantwortet hattest. Mir wurde plötzlich
ganz kalt bei dem Gedanken an dieses: .Nein! was fällt Dir ein!'...

Du hast damals eine Grausamkeit begangen. Denn eine Grausamkeit ist
es unbedingt, wenn man ein Tier, das einem Naturtrieb folgt, einfach
umbringt. Eine solche Grausamkeit kann nur dann entschuldigt werden, wenn
sie aus einem Rechte heraus verübt wird. Aus einem Recht, welches in Vernunft-
gründen wurzelt. Und das glaubte ich von Dir. Bis gestern. Aber gestern
erkannte ich, daß Du meinen Hund nicht aus Rechtsgefühl, sondern nur aus
Laune erschossen hast. Denn wenn jemand irgend etwas das eine Mal tut, das
andere Mal aber ganz dasselbe, aus was immer für Gründen, nicht tut — dann
ist dieses Begehen und Unterlassen kein Recht, sondern nur Laune. Und ich
würde niemals den Gedanken loswerden können, mit einem Menschen zusammen
zu leben, der imstande ist, aus Laune eine Grausamkeit zu begehen.

Du wirst jetzt vielleicht sagen: Gott sei Dank, daß ich mich mit dieser
Person noch nicht fürs Leben gebunden habe. Und das wäre nur eigentlich sehr
lieb, denn dann wüßte ich, daß ich Dir keinen allzu großen Schmerz bereite.
Es würde mich aber doch auch freuen, wenn Du mich verstehen oder wenigstens
nur ahnen könntest.

Leb' wohl, Erich, und wenn Du manchmal an die Susanne denkst, dann
tu es nicht mit allzu viel Spott und Geringschätzung!

?. S. Den Dackel, den Du mir geschenkt hast, behalte ich trotz alledem."




Dieser Brief verblüffte mich derart, daß ich an dem Tage, an dem ich ihn
empfing, gar nicht daran dachte, eine Aussprache mit Susanne zu suchen. Als


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[0510] Charakter „Lieber Freund! Du magst Dich gestern gewundert haben, daß ich auf dein Heimwege vielleicht etwas schweigsamer war als sonst und daß ich mich auch früher von Dir trennte als an anderen Tagen. Sei nur deshalb nicht böse und verzeihe nur auch, wenn ich Dir mit den folgenden Zeilen vielleicht einen sehr großen Schmerz zufüge. Es fällt mir am leichtesten, wenn ich es Dir gleich und rund heraus sage: ich hebe meine Verlobung mit Dir auf. Ich bitte Dich inständigst, mache keine Versuche mich umzustimmen. Denn wenn es Dir auch gelingen könnte, noch eine Annäherung zwischen uns zustande zu bringen, so wäre sie nur eine rein äußere und nur für den Augenblick. In meinem Innersten würde immer ein Stachel zurückbleiben, der in unserer Ehe ein vollständiges Aufgehen des einen in dem anderen — ohne welches ich mir ein Zusammenleben nicht vorstellen kann — unmöglich machen müßte. Es fällt nur furchtbar schwer, Dir die Gründe für meinen Entschluß aus¬ einander zu setzen, ja ich habe einen förmlichen Widerwillen dagegen, aber ich fühle, daß ich es Dir schuldig bin. Als ich Dich gestern fragte, ob Du den Hund auch dann niedergeschossen hättest, wenn Du gewußt hättest, in welchem Verhältnisse wir einmal zueinander stehen würden, antwortetest Du mir mit: Nein... Im Augenblicke erschien mir diese Antwort auch ganz natürlich. Aber schon auf unserem Heimwege drängte sich mir die Überlegung auf und ich erschrak förmlich über die Selbst¬ verständlichkeit, mit der Du mir geantwortet hattest. Mir wurde plötzlich ganz kalt bei dem Gedanken an dieses: .Nein! was fällt Dir ein!'... Du hast damals eine Grausamkeit begangen. Denn eine Grausamkeit ist es unbedingt, wenn man ein Tier, das einem Naturtrieb folgt, einfach umbringt. Eine solche Grausamkeit kann nur dann entschuldigt werden, wenn sie aus einem Rechte heraus verübt wird. Aus einem Recht, welches in Vernunft- gründen wurzelt. Und das glaubte ich von Dir. Bis gestern. Aber gestern erkannte ich, daß Du meinen Hund nicht aus Rechtsgefühl, sondern nur aus Laune erschossen hast. Denn wenn jemand irgend etwas das eine Mal tut, das andere Mal aber ganz dasselbe, aus was immer für Gründen, nicht tut — dann ist dieses Begehen und Unterlassen kein Recht, sondern nur Laune. Und ich würde niemals den Gedanken loswerden können, mit einem Menschen zusammen zu leben, der imstande ist, aus Laune eine Grausamkeit zu begehen. Du wirst jetzt vielleicht sagen: Gott sei Dank, daß ich mich mit dieser Person noch nicht fürs Leben gebunden habe. Und das wäre nur eigentlich sehr lieb, denn dann wüßte ich, daß ich Dir keinen allzu großen Schmerz bereite. Es würde mich aber doch auch freuen, wenn Du mich verstehen oder wenigstens nur ahnen könntest. Leb' wohl, Erich, und wenn Du manchmal an die Susanne denkst, dann tu es nicht mit allzu viel Spott und Geringschätzung! ?. S. Den Dackel, den Du mir geschenkt hast, behalte ich trotz alledem." Dieser Brief verblüffte mich derart, daß ich an dem Tage, an dem ich ihn empfing, gar nicht daran dachte, eine Aussprache mit Susanne zu suchen. Als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/510>, abgerufen am 23.07.2024.