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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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zurecht zu finden und sich in ihrem Rahmen zur Geltung zu bringen. Die
Grundlagen dafür seien gegeben. Nun werde aus den Kreisen von Industrie
und Handel behauptet, diese Grundlagen seien falsch; sie ermöglichten Industrie
und Handel nicht, die ihrer wirtschaftlichen Bedeutung im Kreise entsprechende
Stellung einzunehmen. Dem sei entgegen zu halten, daß allerdings im Osten
eine Prävalenz des größeren ländlichen Grundbesitzes vorhanden sei; dafür
bestehe aber im Westen, wie das Material, das im Ministerium des Innern
über die Zusammensetzung der Kreistage gesammelt worden sei"), lehre, eine
Prävalenz der Industrie. Diese Vorgänge bewiesen gerade die Anpassungs¬
fähigkeit der Kreisordnung; sie zeigten, daß im allgemeinen eine automatische
Regulierung in der Kräfteverteilung stattfinde. Die Forderung, statt der Be¬
völkerungszahl die Steuerleistung sür die Verteilung der Abgeordneten auf die
Wahlverbände zur Anwendung zu bringen, zerstöre die Hauptgrundlage der
Kreisordnung Damit werde eine plutokratische Entwicklung unserer Kreis¬
vertretung in die Wege geleitet. Es werde zu einer eklatanten Prävalenz der
wirtschaftlichen Macht kommen, die dem Wohl des Ganzen sehr nachteilig werden
könne. Die Kreisordnungen bezweckten in erster Linie eine Organisation des
Platten Landes; sie wollten in den Kreistagen speziell dein wirtschaftlich
schwächsten Teil des Kreises die intensivste Vertretung sichern. Die wichtigsten
großen Aufgaben der Kreise dienten in erster Linie den ländlichen Interessen;
ihre Erfüllung sei aber auch zum Wohl des Ganzen unumgänglich notwendig.
Dieser ländliche wirtschaftliche Bedarf, wie man diese Aufgaben umschreiben
könne, sei unvergleichlich viel stärker als der wirtschaftliche Bedarf, der in erster
Linie hinsichtlich städtischer bezw. industrieller Interessen hervortrete. Durch
die Zugrundelegung der Steuerleistung für die Abgrenzung der Wahlverbände
bestehe die Gefahr, daß der bei weitem überwiegende ländliche wirtschaftliche
Bedarf majorisiert werde. Auch die Städte seien nicht benachteiligt. Im
Gegenteil bilde es eine Begünstigung der Städte, daß bei der Scheidung der
Abgeordneten die Zahl der Städtevertreter nach dem Verhältnis der städtischen
und ländlichen Bevölkerung bemessen werde. Denn die Bevölkerung der Städte
wachse bekanntlich viel rascher als die des platten Landes; die erstere vermehre
sich sogar auf Kosten der letzteren.

Diese Auffassung der Negierung steht einerseits mit den Tatsachen^im
Widerspruch, anderseits verkennt sie die Tragweite der Vorschläge des Deutschen
Handelstags. Wie unsere früheren Erörterungen zeigen, bilden die maßgebenden
Bestimmilngen über das Wahlrecht in der Kreisverfassung ein bewußt geschaffenes
System, um dem größeren ländlichen Grundbesitz eine starke Prävalenz zu
sichern. Diese Ausfassung findet ihre Bestätigung in dem Ergebnis unserer
statistischen Betrachtungen, das in gar nicht zu bezweifelnder Weise zeigt, daß



^Wenn die Regierung, wie im Abgeordnetenhaus n.ehrsnch gefordert wurde, dieses
Motmot veröffentlicht holte, wären die außerordentlich kostspieligen Erhebungen des Deutschen
Hnndelstngs nicht erforderlich gewesen.
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zurecht zu finden und sich in ihrem Rahmen zur Geltung zu bringen. Die
Grundlagen dafür seien gegeben. Nun werde aus den Kreisen von Industrie
und Handel behauptet, diese Grundlagen seien falsch; sie ermöglichten Industrie
und Handel nicht, die ihrer wirtschaftlichen Bedeutung im Kreise entsprechende
Stellung einzunehmen. Dem sei entgegen zu halten, daß allerdings im Osten
eine Prävalenz des größeren ländlichen Grundbesitzes vorhanden sei; dafür
bestehe aber im Westen, wie das Material, das im Ministerium des Innern
über die Zusammensetzung der Kreistage gesammelt worden sei"), lehre, eine
Prävalenz der Industrie. Diese Vorgänge bewiesen gerade die Anpassungs¬
fähigkeit der Kreisordnung; sie zeigten, daß im allgemeinen eine automatische
Regulierung in der Kräfteverteilung stattfinde. Die Forderung, statt der Be¬
völkerungszahl die Steuerleistung sür die Verteilung der Abgeordneten auf die
Wahlverbände zur Anwendung zu bringen, zerstöre die Hauptgrundlage der
Kreisordnung Damit werde eine plutokratische Entwicklung unserer Kreis¬
vertretung in die Wege geleitet. Es werde zu einer eklatanten Prävalenz der
wirtschaftlichen Macht kommen, die dem Wohl des Ganzen sehr nachteilig werden
könne. Die Kreisordnungen bezweckten in erster Linie eine Organisation des
Platten Landes; sie wollten in den Kreistagen speziell dein wirtschaftlich
schwächsten Teil des Kreises die intensivste Vertretung sichern. Die wichtigsten
großen Aufgaben der Kreise dienten in erster Linie den ländlichen Interessen;
ihre Erfüllung sei aber auch zum Wohl des Ganzen unumgänglich notwendig.
Dieser ländliche wirtschaftliche Bedarf, wie man diese Aufgaben umschreiben
könne, sei unvergleichlich viel stärker als der wirtschaftliche Bedarf, der in erster
Linie hinsichtlich städtischer bezw. industrieller Interessen hervortrete. Durch
die Zugrundelegung der Steuerleistung für die Abgrenzung der Wahlverbände
bestehe die Gefahr, daß der bei weitem überwiegende ländliche wirtschaftliche
Bedarf majorisiert werde. Auch die Städte seien nicht benachteiligt. Im
Gegenteil bilde es eine Begünstigung der Städte, daß bei der Scheidung der
Abgeordneten die Zahl der Städtevertreter nach dem Verhältnis der städtischen
und ländlichen Bevölkerung bemessen werde. Denn die Bevölkerung der Städte
wachse bekanntlich viel rascher als die des platten Landes; die erstere vermehre
sich sogar auf Kosten der letzteren.

Diese Auffassung der Negierung steht einerseits mit den Tatsachen^im
Widerspruch, anderseits verkennt sie die Tragweite der Vorschläge des Deutschen
Handelstags. Wie unsere früheren Erörterungen zeigen, bilden die maßgebenden
Bestimmilngen über das Wahlrecht in der Kreisverfassung ein bewußt geschaffenes
System, um dem größeren ländlichen Grundbesitz eine starke Prävalenz zu
sichern. Diese Ausfassung findet ihre Bestätigung in dem Ergebnis unserer
statistischen Betrachtungen, das in gar nicht zu bezweifelnder Weise zeigt, daß



^Wenn die Regierung, wie im Abgeordnetenhaus n.ehrsnch gefordert wurde, dieses
Motmot veröffentlicht holte, wären die außerordentlich kostspieligen Erhebungen des Deutschen
Hnndelstngs nicht erforderlich gewesen.
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[0481] Zur Reform der preußischen Arcisvcrfassung zurecht zu finden und sich in ihrem Rahmen zur Geltung zu bringen. Die Grundlagen dafür seien gegeben. Nun werde aus den Kreisen von Industrie und Handel behauptet, diese Grundlagen seien falsch; sie ermöglichten Industrie und Handel nicht, die ihrer wirtschaftlichen Bedeutung im Kreise entsprechende Stellung einzunehmen. Dem sei entgegen zu halten, daß allerdings im Osten eine Prävalenz des größeren ländlichen Grundbesitzes vorhanden sei; dafür bestehe aber im Westen, wie das Material, das im Ministerium des Innern über die Zusammensetzung der Kreistage gesammelt worden sei"), lehre, eine Prävalenz der Industrie. Diese Vorgänge bewiesen gerade die Anpassungs¬ fähigkeit der Kreisordnung; sie zeigten, daß im allgemeinen eine automatische Regulierung in der Kräfteverteilung stattfinde. Die Forderung, statt der Be¬ völkerungszahl die Steuerleistung sür die Verteilung der Abgeordneten auf die Wahlverbände zur Anwendung zu bringen, zerstöre die Hauptgrundlage der Kreisordnung Damit werde eine plutokratische Entwicklung unserer Kreis¬ vertretung in die Wege geleitet. Es werde zu einer eklatanten Prävalenz der wirtschaftlichen Macht kommen, die dem Wohl des Ganzen sehr nachteilig werden könne. Die Kreisordnungen bezweckten in erster Linie eine Organisation des Platten Landes; sie wollten in den Kreistagen speziell dein wirtschaftlich schwächsten Teil des Kreises die intensivste Vertretung sichern. Die wichtigsten großen Aufgaben der Kreise dienten in erster Linie den ländlichen Interessen; ihre Erfüllung sei aber auch zum Wohl des Ganzen unumgänglich notwendig. Dieser ländliche wirtschaftliche Bedarf, wie man diese Aufgaben umschreiben könne, sei unvergleichlich viel stärker als der wirtschaftliche Bedarf, der in erster Linie hinsichtlich städtischer bezw. industrieller Interessen hervortrete. Durch die Zugrundelegung der Steuerleistung für die Abgrenzung der Wahlverbände bestehe die Gefahr, daß der bei weitem überwiegende ländliche wirtschaftliche Bedarf majorisiert werde. Auch die Städte seien nicht benachteiligt. Im Gegenteil bilde es eine Begünstigung der Städte, daß bei der Scheidung der Abgeordneten die Zahl der Städtevertreter nach dem Verhältnis der städtischen und ländlichen Bevölkerung bemessen werde. Denn die Bevölkerung der Städte wachse bekanntlich viel rascher als die des platten Landes; die erstere vermehre sich sogar auf Kosten der letzteren. Diese Auffassung der Negierung steht einerseits mit den Tatsachen^im Widerspruch, anderseits verkennt sie die Tragweite der Vorschläge des Deutschen Handelstags. Wie unsere früheren Erörterungen zeigen, bilden die maßgebenden Bestimmilngen über das Wahlrecht in der Kreisverfassung ein bewußt geschaffenes System, um dem größeren ländlichen Grundbesitz eine starke Prävalenz zu sichern. Diese Ausfassung findet ihre Bestätigung in dem Ergebnis unserer statistischen Betrachtungen, das in gar nicht zu bezweifelnder Weise zeigt, daß ^Wenn die Regierung, wie im Abgeordnetenhaus n.ehrsnch gefordert wurde, dieses Motmot veröffentlicht holte, wären die außerordentlich kostspieligen Erhebungen des Deutschen Hnndelstngs nicht erforderlich gewesen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/481>, abgerufen am 23.07.2024.