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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Zur Reform der preußischen Arcisverfiissmig

Veränderungen ziehen. Die ganze Frage wurde aufgerollt durch einen Antrag
von liberaler Seite, der eine Änderung der Kreisordnung insbesondere dahin
herbeiführen will, daß das Wahlrecht zum Kreistage entsprechend der vermehrten
Bedeutung der Stadt- und Landgemeinden sowie von Industrie und Gewerbe
umgestaltet werde. Dieser Antrag wanderte zusammen mit einem ähnlich lautenden
Antrag von Zentrumsseite in die Gemeindekommission des Abgeordnetenhauses,
und hier, es mutet wie eine Ironie des Schicksals an, überwog die Auffassung,
daß eine Kontingentierung des industriellen Einflusses in der Kreisvertretung
erforderlich erscheine. Es wurde betont, die liberale Argumentation, daß Städte
und Industrie nicht genügend zur Geltung kämen, baue sich lediglich auf den
Verhältnissen des Ostens auf. Im Westen mache sich aber eine die landwirt¬
schaftlichen Interessen stark gefährdende Prävalenz der Industrie geltend. Im
Hinblick hierauf wurde von Zentrumsseite beantragt, im Wahlverband der
Großgrundbesitzer zwei Drittel der Zahl der Abgeordneten dem ländlichen Gro߬
grundbesitz zu reservieren, um so grundsätzlich die Möglichkeit der Industriali¬
sierung auszuschließen. In diesem Zusammenhang wurde ferner auch auf die
Zurückdrängung der ländlichen Interessen in den Provinziallandtagen hingewiesen;
es wurde dabei auf die veränderte Zusammensetzung des rheinischen Provinzial-
landtags verwiesen, in dem nach einem Vergleich der Wahlergebnisse der Jahre
1888 und 1906 die Zahl der Industriellen um 50 Prozent gewachsen sei, die
der Gutsbesitzer aber um 25 Prozent zurückgegangen sei. Es wurde demgemäß
von Zentrumsseite der Antrag gestellt, in den Provinzialordnnngen allgemein
zu bestimmen, daß die Zahl der Abgeordneten nicht wesentlich vermehrt werde.
Die Gemeindekommission nahm diesen Antrag an; ein später von konservativer
Seite hierzu gestellter Änderungsantrag wollte allerdings diese Bestimmung auf
die Provinzen Westfalen und Rheinland beschränkt wissen. Von konservativer
Seite wurde ferner eine Änderung der Kreisordnung für die Ostprovinzen dahin
beantragt, daß von dem für die Wahlberechtigung im Wahlverband der Gro߬
grundbesitzer maßgebenden Mindestbetrage an Grund- und Gebäudesteuer min¬
destens die Hälfte auf die Grundsteuer entfallen müsse. Der Antrag hat folgende
Bedeutung. In den Ostprovinzen ist im Gegensatz zu allen anderen Provinzen
die Grund- und Gebäudesteuer und nicht die Grundsteuer allein für die Ausübung
des Wahlrechts im Wahlverband der Großgrundbesitzer maßgebend. Nun zeigte
sich, daß in den Kreisen, in denen eine starke Bautätigkeit sich entfaltete, sei es
dadurch, daß an den Kreis größere Städte grenzten, die mit Vororten in die
Kreise hineinragten, sei es aus anderen Gründen, wie das Aufkommen der
Badeindustrie, die landwirtschaftlichen Grundbesitzer durch nicht ländliche
Gebäudebesitzer zurückgedrängt wurden. Den speziellen Anlaß zu dein
Antrag gab die Entwicklung der Badeorte im Kreise Usedom-Wollen.
Also auch hier ein Grund zu einer Reform der Kreisordnung, und zwar
ein von konservativer Seite kommender. Des weiteren wurden von liberaler
Seite noch folgende Anträge zur Änderung der Kreisordnung gestellt: einmal


Zur Reform der preußischen Arcisverfiissmig

Veränderungen ziehen. Die ganze Frage wurde aufgerollt durch einen Antrag
von liberaler Seite, der eine Änderung der Kreisordnung insbesondere dahin
herbeiführen will, daß das Wahlrecht zum Kreistage entsprechend der vermehrten
Bedeutung der Stadt- und Landgemeinden sowie von Industrie und Gewerbe
umgestaltet werde. Dieser Antrag wanderte zusammen mit einem ähnlich lautenden
Antrag von Zentrumsseite in die Gemeindekommission des Abgeordnetenhauses,
und hier, es mutet wie eine Ironie des Schicksals an, überwog die Auffassung,
daß eine Kontingentierung des industriellen Einflusses in der Kreisvertretung
erforderlich erscheine. Es wurde betont, die liberale Argumentation, daß Städte
und Industrie nicht genügend zur Geltung kämen, baue sich lediglich auf den
Verhältnissen des Ostens auf. Im Westen mache sich aber eine die landwirt¬
schaftlichen Interessen stark gefährdende Prävalenz der Industrie geltend. Im
Hinblick hierauf wurde von Zentrumsseite beantragt, im Wahlverband der
Großgrundbesitzer zwei Drittel der Zahl der Abgeordneten dem ländlichen Gro߬
grundbesitz zu reservieren, um so grundsätzlich die Möglichkeit der Industriali¬
sierung auszuschließen. In diesem Zusammenhang wurde ferner auch auf die
Zurückdrängung der ländlichen Interessen in den Provinziallandtagen hingewiesen;
es wurde dabei auf die veränderte Zusammensetzung des rheinischen Provinzial-
landtags verwiesen, in dem nach einem Vergleich der Wahlergebnisse der Jahre
1888 und 1906 die Zahl der Industriellen um 50 Prozent gewachsen sei, die
der Gutsbesitzer aber um 25 Prozent zurückgegangen sei. Es wurde demgemäß
von Zentrumsseite der Antrag gestellt, in den Provinzialordnnngen allgemein
zu bestimmen, daß die Zahl der Abgeordneten nicht wesentlich vermehrt werde.
Die Gemeindekommission nahm diesen Antrag an; ein später von konservativer
Seite hierzu gestellter Änderungsantrag wollte allerdings diese Bestimmung auf
die Provinzen Westfalen und Rheinland beschränkt wissen. Von konservativer
Seite wurde ferner eine Änderung der Kreisordnung für die Ostprovinzen dahin
beantragt, daß von dem für die Wahlberechtigung im Wahlverband der Gro߬
grundbesitzer maßgebenden Mindestbetrage an Grund- und Gebäudesteuer min¬
destens die Hälfte auf die Grundsteuer entfallen müsse. Der Antrag hat folgende
Bedeutung. In den Ostprovinzen ist im Gegensatz zu allen anderen Provinzen
die Grund- und Gebäudesteuer und nicht die Grundsteuer allein für die Ausübung
des Wahlrechts im Wahlverband der Großgrundbesitzer maßgebend. Nun zeigte
sich, daß in den Kreisen, in denen eine starke Bautätigkeit sich entfaltete, sei es
dadurch, daß an den Kreis größere Städte grenzten, die mit Vororten in die
Kreise hineinragten, sei es aus anderen Gründen, wie das Aufkommen der
Badeindustrie, die landwirtschaftlichen Grundbesitzer durch nicht ländliche
Gebäudebesitzer zurückgedrängt wurden. Den speziellen Anlaß zu dein
Antrag gab die Entwicklung der Badeorte im Kreise Usedom-Wollen.
Also auch hier ein Grund zu einer Reform der Kreisordnung, und zwar
ein von konservativer Seite kommender. Des weiteren wurden von liberaler
Seite noch folgende Anträge zur Änderung der Kreisordnung gestellt: einmal


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[0478] Zur Reform der preußischen Arcisverfiissmig Veränderungen ziehen. Die ganze Frage wurde aufgerollt durch einen Antrag von liberaler Seite, der eine Änderung der Kreisordnung insbesondere dahin herbeiführen will, daß das Wahlrecht zum Kreistage entsprechend der vermehrten Bedeutung der Stadt- und Landgemeinden sowie von Industrie und Gewerbe umgestaltet werde. Dieser Antrag wanderte zusammen mit einem ähnlich lautenden Antrag von Zentrumsseite in die Gemeindekommission des Abgeordnetenhauses, und hier, es mutet wie eine Ironie des Schicksals an, überwog die Auffassung, daß eine Kontingentierung des industriellen Einflusses in der Kreisvertretung erforderlich erscheine. Es wurde betont, die liberale Argumentation, daß Städte und Industrie nicht genügend zur Geltung kämen, baue sich lediglich auf den Verhältnissen des Ostens auf. Im Westen mache sich aber eine die landwirt¬ schaftlichen Interessen stark gefährdende Prävalenz der Industrie geltend. Im Hinblick hierauf wurde von Zentrumsseite beantragt, im Wahlverband der Großgrundbesitzer zwei Drittel der Zahl der Abgeordneten dem ländlichen Gro߬ grundbesitz zu reservieren, um so grundsätzlich die Möglichkeit der Industriali¬ sierung auszuschließen. In diesem Zusammenhang wurde ferner auch auf die Zurückdrängung der ländlichen Interessen in den Provinziallandtagen hingewiesen; es wurde dabei auf die veränderte Zusammensetzung des rheinischen Provinzial- landtags verwiesen, in dem nach einem Vergleich der Wahlergebnisse der Jahre 1888 und 1906 die Zahl der Industriellen um 50 Prozent gewachsen sei, die der Gutsbesitzer aber um 25 Prozent zurückgegangen sei. Es wurde demgemäß von Zentrumsseite der Antrag gestellt, in den Provinzialordnnngen allgemein zu bestimmen, daß die Zahl der Abgeordneten nicht wesentlich vermehrt werde. Die Gemeindekommission nahm diesen Antrag an; ein später von konservativer Seite hierzu gestellter Änderungsantrag wollte allerdings diese Bestimmung auf die Provinzen Westfalen und Rheinland beschränkt wissen. Von konservativer Seite wurde ferner eine Änderung der Kreisordnung für die Ostprovinzen dahin beantragt, daß von dem für die Wahlberechtigung im Wahlverband der Gro߬ grundbesitzer maßgebenden Mindestbetrage an Grund- und Gebäudesteuer min¬ destens die Hälfte auf die Grundsteuer entfallen müsse. Der Antrag hat folgende Bedeutung. In den Ostprovinzen ist im Gegensatz zu allen anderen Provinzen die Grund- und Gebäudesteuer und nicht die Grundsteuer allein für die Ausübung des Wahlrechts im Wahlverband der Großgrundbesitzer maßgebend. Nun zeigte sich, daß in den Kreisen, in denen eine starke Bautätigkeit sich entfaltete, sei es dadurch, daß an den Kreis größere Städte grenzten, die mit Vororten in die Kreise hineinragten, sei es aus anderen Gründen, wie das Aufkommen der Badeindustrie, die landwirtschaftlichen Grundbesitzer durch nicht ländliche Gebäudebesitzer zurückgedrängt wurden. Den speziellen Anlaß zu dein Antrag gab die Entwicklung der Badeorte im Kreise Usedom-Wollen. Also auch hier ein Grund zu einer Reform der Kreisordnung, und zwar ein von konservativer Seite kommender. Des weiteren wurden von liberaler Seite noch folgende Anträge zur Änderung der Kreisordnung gestellt: einmal

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/478>, abgerufen am 23.07.2024.