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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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<?"r Reform der preußischen Areisverfassung

Landgemeinden nur durch eine verhältnismäßig geringe Zahl von Abgeordneten
vertreten.

Den Anstoß zu einer Änderung dieser Verhältnisse gab die Verfassung, die
Preußen im Jahre 1850 erhielt. Sie versprach im Artikel 105 eine Reform
der Provinzial-, Kreis- und Gemeindeverfassung. Jedoch erst dreiundzwanzig Jahre
später, und auch erst uach schweren parlamentarischen Kämpfen gelang es der
Staatsregierung, den Entwurf einer Kreisordnung in den beiden Häusern des
Landtags zur Annahme zu bringen, der die Konsequenzen des Ediktes vom
Jahre 1807 zog. Dieser Entwurf wurde am 13. Dezember 1872 als Kreis¬
ordnung für die Provinzen Preußen, Brandenburg, Pommern, Schlesien, Sachsen
und Posen im "Staatsanzeiger" verkündet und damit Gesetz.

Wenn auch zwei Menschenalter später als die Städteordnung, so brachte
die Kreisordnung nunmehr doch auch an ihrem Teil die Befreiung des Staats
vom patrimonialen Verwaltuugsspstem. Sie beseitigte die kreisständischen
Befugnisse der Rittergüter, die gutsherrliche Polizeigewalt, das Aufsichtsrecht
der Gutsherren über die Landgemeinden und die mit dem Besitz gewisser
Grundstücke verbundene Berechtigung zur Verwaltung des Schulzenamtes. Die
Landgemeinden erhielten das Recht, ihre Schulzen und Schöffen vorbehaltlich der
Bestätigung durch den Landrat zu wählen. Zur Verwaltung der Ortspolizei
ans dem platten Lande wurde das Ehrenamt der Amtsvorsteher geschaffen und
damit das der Steinschen Städteordnung zugrunde liegende Prinzip auf das
flache Land übertragen. Der Kreisordnnng für die sieben Ostprovinzen folgte
im Jahre 1884 die Kreisordnung für die Provinz Hannover, und bis zum
Jahre 1888 die Kreisorduungen für die Provinzen Hessen-Nassau. Westfalen,
die Rheinlande und Schleswig-Holstein.

Die Hauptgrundlage der geltenden Kreisverfassung bildet die
Dreiteilung in die Wahlverbände der größeren ländlichen Grundbesitzer, der
Landgemeinden und der Städte. Die Industriellen und sonstigen Gewerbe¬
treibenden in den Landkreisen sind teils dem Wahlverband der Großgrundbesitzer,
teils dem der Landgemeinden angefügt, und zwar nach dem Grundsatz, ob sie
bei der Veranlagung zur Gewerbesteuer über oder unter dem Mittelsalz der
Steuerklassen I und II, nämlich dem Satz von !!00 Mark, bleiben. Der Kern
liegt nun in der Verteilung der einem Landkreis nach seiner Bevölkerungsziffer
zustehenden Zahl vou Kreistagsabgeorducten auf jene Wahlverbäude. Die Zahl
der Stüdtevertreter wird uach dem Verhältnis der städtischen und ländlichen
Bevölkerung im Kreis bestimmt; die verbleibende Zahl von Abgeordneten wird
je zur Hälfte den Wahlverbünden der Großgrundbesitzer und der Landgemeinden
zugewiesen. Die Neuverteilung der Abgeordneten kann mit gewissen Ausnahmen
uur alle zwölf Jahre erfolgen.

Die Bedeutung des Kreistages und seines geschüftsführenden Organs,
des Kreisausschusses, ergibt sich aus der Tatsache, daß der Kreis einerseits
staatlicher Verwaltungsbezirk und anderseits Kommimalverbaud zur Selbst-


<?»r Reform der preußischen Areisverfassung

Landgemeinden nur durch eine verhältnismäßig geringe Zahl von Abgeordneten
vertreten.

Den Anstoß zu einer Änderung dieser Verhältnisse gab die Verfassung, die
Preußen im Jahre 1850 erhielt. Sie versprach im Artikel 105 eine Reform
der Provinzial-, Kreis- und Gemeindeverfassung. Jedoch erst dreiundzwanzig Jahre
später, und auch erst uach schweren parlamentarischen Kämpfen gelang es der
Staatsregierung, den Entwurf einer Kreisordnung in den beiden Häusern des
Landtags zur Annahme zu bringen, der die Konsequenzen des Ediktes vom
Jahre 1807 zog. Dieser Entwurf wurde am 13. Dezember 1872 als Kreis¬
ordnung für die Provinzen Preußen, Brandenburg, Pommern, Schlesien, Sachsen
und Posen im „Staatsanzeiger" verkündet und damit Gesetz.

Wenn auch zwei Menschenalter später als die Städteordnung, so brachte
die Kreisordnung nunmehr doch auch an ihrem Teil die Befreiung des Staats
vom patrimonialen Verwaltuugsspstem. Sie beseitigte die kreisständischen
Befugnisse der Rittergüter, die gutsherrliche Polizeigewalt, das Aufsichtsrecht
der Gutsherren über die Landgemeinden und die mit dem Besitz gewisser
Grundstücke verbundene Berechtigung zur Verwaltung des Schulzenamtes. Die
Landgemeinden erhielten das Recht, ihre Schulzen und Schöffen vorbehaltlich der
Bestätigung durch den Landrat zu wählen. Zur Verwaltung der Ortspolizei
ans dem platten Lande wurde das Ehrenamt der Amtsvorsteher geschaffen und
damit das der Steinschen Städteordnung zugrunde liegende Prinzip auf das
flache Land übertragen. Der Kreisordnnng für die sieben Ostprovinzen folgte
im Jahre 1884 die Kreisordnung für die Provinz Hannover, und bis zum
Jahre 1888 die Kreisorduungen für die Provinzen Hessen-Nassau. Westfalen,
die Rheinlande und Schleswig-Holstein.

Die Hauptgrundlage der geltenden Kreisverfassung bildet die
Dreiteilung in die Wahlverbände der größeren ländlichen Grundbesitzer, der
Landgemeinden und der Städte. Die Industriellen und sonstigen Gewerbe¬
treibenden in den Landkreisen sind teils dem Wahlverband der Großgrundbesitzer,
teils dem der Landgemeinden angefügt, und zwar nach dem Grundsatz, ob sie
bei der Veranlagung zur Gewerbesteuer über oder unter dem Mittelsalz der
Steuerklassen I und II, nämlich dem Satz von !!00 Mark, bleiben. Der Kern
liegt nun in der Verteilung der einem Landkreis nach seiner Bevölkerungsziffer
zustehenden Zahl vou Kreistagsabgeorducten auf jene Wahlverbäude. Die Zahl
der Stüdtevertreter wird uach dem Verhältnis der städtischen und ländlichen
Bevölkerung im Kreis bestimmt; die verbleibende Zahl von Abgeordneten wird
je zur Hälfte den Wahlverbünden der Großgrundbesitzer und der Landgemeinden
zugewiesen. Die Neuverteilung der Abgeordneten kann mit gewissen Ausnahmen
uur alle zwölf Jahre erfolgen.

Die Bedeutung des Kreistages und seines geschüftsführenden Organs,
des Kreisausschusses, ergibt sich aus der Tatsache, daß der Kreis einerseits
staatlicher Verwaltungsbezirk und anderseits Kommimalverbaud zur Selbst-


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[0470] <?»r Reform der preußischen Areisverfassung Landgemeinden nur durch eine verhältnismäßig geringe Zahl von Abgeordneten vertreten. Den Anstoß zu einer Änderung dieser Verhältnisse gab die Verfassung, die Preußen im Jahre 1850 erhielt. Sie versprach im Artikel 105 eine Reform der Provinzial-, Kreis- und Gemeindeverfassung. Jedoch erst dreiundzwanzig Jahre später, und auch erst uach schweren parlamentarischen Kämpfen gelang es der Staatsregierung, den Entwurf einer Kreisordnung in den beiden Häusern des Landtags zur Annahme zu bringen, der die Konsequenzen des Ediktes vom Jahre 1807 zog. Dieser Entwurf wurde am 13. Dezember 1872 als Kreis¬ ordnung für die Provinzen Preußen, Brandenburg, Pommern, Schlesien, Sachsen und Posen im „Staatsanzeiger" verkündet und damit Gesetz. Wenn auch zwei Menschenalter später als die Städteordnung, so brachte die Kreisordnung nunmehr doch auch an ihrem Teil die Befreiung des Staats vom patrimonialen Verwaltuugsspstem. Sie beseitigte die kreisständischen Befugnisse der Rittergüter, die gutsherrliche Polizeigewalt, das Aufsichtsrecht der Gutsherren über die Landgemeinden und die mit dem Besitz gewisser Grundstücke verbundene Berechtigung zur Verwaltung des Schulzenamtes. Die Landgemeinden erhielten das Recht, ihre Schulzen und Schöffen vorbehaltlich der Bestätigung durch den Landrat zu wählen. Zur Verwaltung der Ortspolizei ans dem platten Lande wurde das Ehrenamt der Amtsvorsteher geschaffen und damit das der Steinschen Städteordnung zugrunde liegende Prinzip auf das flache Land übertragen. Der Kreisordnnng für die sieben Ostprovinzen folgte im Jahre 1884 die Kreisordnung für die Provinz Hannover, und bis zum Jahre 1888 die Kreisorduungen für die Provinzen Hessen-Nassau. Westfalen, die Rheinlande und Schleswig-Holstein. Die Hauptgrundlage der geltenden Kreisverfassung bildet die Dreiteilung in die Wahlverbände der größeren ländlichen Grundbesitzer, der Landgemeinden und der Städte. Die Industriellen und sonstigen Gewerbe¬ treibenden in den Landkreisen sind teils dem Wahlverband der Großgrundbesitzer, teils dem der Landgemeinden angefügt, und zwar nach dem Grundsatz, ob sie bei der Veranlagung zur Gewerbesteuer über oder unter dem Mittelsalz der Steuerklassen I und II, nämlich dem Satz von !!00 Mark, bleiben. Der Kern liegt nun in der Verteilung der einem Landkreis nach seiner Bevölkerungsziffer zustehenden Zahl vou Kreistagsabgeorducten auf jene Wahlverbäude. Die Zahl der Stüdtevertreter wird uach dem Verhältnis der städtischen und ländlichen Bevölkerung im Kreis bestimmt; die verbleibende Zahl von Abgeordneten wird je zur Hälfte den Wahlverbünden der Großgrundbesitzer und der Landgemeinden zugewiesen. Die Neuverteilung der Abgeordneten kann mit gewissen Ausnahmen uur alle zwölf Jahre erfolgen. Die Bedeutung des Kreistages und seines geschüftsführenden Organs, des Kreisausschusses, ergibt sich aus der Tatsache, daß der Kreis einerseits staatlicher Verwaltungsbezirk und anderseits Kommimalverbaud zur Selbst-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/470>, abgerufen am 23.07.2024.