Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches den ordentlichen Lehrstühlen Deutschlands -- den einzigen Lamprecht nimmt er Und das, Herr Dr. Kemmerich, sind "Dinge, die man nicht sagt? Verzeihen Ich beneide Sie, Herr Doktor, beneide Sie von ganzem Herzen. Nicht so sehr Nein, Herr Doktor! Ihnen kann keiner den Vorwmf irgendwelcher Wissen¬ Maßgebliches und Unmaßgebliches den ordentlichen Lehrstühlen Deutschlands — den einzigen Lamprecht nimmt er Und das, Herr Dr. Kemmerich, sind „Dinge, die man nicht sagt? Verzeihen Ich beneide Sie, Herr Doktor, beneide Sie von ganzem Herzen. Nicht so sehr Nein, Herr Doktor! Ihnen kann keiner den Vorwmf irgendwelcher Wissen¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0415" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/316704"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_1822" prev="#ID_1821"> den ordentlichen Lehrstühlen Deutschlands — den einzigen Lamprecht nimmt er<lb/> aus (S. 45 f.) — sind nach ihm spezialisierende Bohrwürmer, die sich in irgend¬<lb/> einen kleinsten Teil der Weltgeschichte festfressen und von nichts anderem wissen<lb/> noch wissen wollen. Ein rücksichtsloser Klüngelgeist herrscht unter ihnen; keiner,<lb/> der nicht zur Zunft gehört, wird zugelassen; wer ihre Töchter heiratet, wird ordent¬<lb/> licher Professor; wer sie wissenschaftlich angreift, ist ein boshafter Ignorant, ein<lb/> hämischer Narr, dem man entweder die Karriere abschneidet oder ihn, wenn er<lb/> sie schon hinter sich hat, der allgemeinen Verachtung preisgibt is. 45 f.).<lb/> "</p><lb/> <p xml:id="ID_1823"> Und das, Herr Dr. Kemmerich, sind „Dinge, die man nicht sagt? Verzeihen<lb/> Sie gütigst: aber das sind Dinge, die so veraltet und unwahr geworden sind, daß<lb/> die „Fliegenden Blätter" sich ihrer bereits vor zwanzig Jahren bemächtigt haben.<lb/> Solche Typen laufen noch hier und da in kleinen Universitäten vereinzelt herum.<lb/> Weshalb, Herr Dr. Kemmerich, stellen Sie diese Originale als Durchschnittstypen<lb/> dar? Weshalb, Herr Doktor, tun Sie, als ob Sie die trojanische Mauer einrennen,<lb/> während Sie doch in Wahrheit durch offene Türen mit Siegermiene ungehindert<lb/> hindurchschreiten? Sie haben eine scharfe Feder. Herr Doktor, Sie sind witzig und<lb/> voll Esprit und deshalb Ihrer Wirkung auf gewisse Menschen sicher. Aber ein<lb/> Wahrheitsfinder sind Sie nicht. Denn wenn man im ersten Teile Ihres Werkes, soweit<lb/> es die Universitäten behandelt, Ihnen eine gewisse Kenntnis ganz bestimmter Einzcl-<lb/> vcrhältnisse nicht absprechenkann, so fälltdoch weiterhinunangenehm auf, daß einem alle?,<lb/> was man liest, so bekannt vorkommt. Verzeihen Sie. Herr Doktor: kennen Sie Georg<lb/> Hirths „Wege zur Liebe"? (vgl. Kemmerich S. 146, 152.167, 183, 194). Pardon:<lb/> sind Ihnen Chamberlains „Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts" bekannt?<lb/> Haben Sie vielleicht Schopenhauer gelesen (vgl. Kemmerich S. 223), vielleicht<lb/> sogar die Paralipomena, und zwar Ur. 28? (vgl. Kemmerich S. 160.) Denn,<lb/> Herr Doktor, bei Hirth (vgl. Hirth „Wege zur Liebe". (Hirths Verlag, 1906), Inhalts¬<lb/> verzeichnis) finden sich so wunderhübsche Abhandlungen über eheliche Moral,<lb/> über Nuditätenschnüffeleien, über Humanität und Patriotismus, die sich mit den<lb/> Ihren —ein wenig berühren! Wie originell auch, das Chamberlain etwa fünfzehn<lb/> Jahre vor Ihnen den Gedanken gedacht hat, daß das alte Testament, das Judentum<lb/> und dadurch natürlich das Christentum auf die Germanen unheilvollen Einfluß<lb/> ausübte? Daß der bibliche Christus für die wahrhaft germanische Seele nicht<lb/> zu brauchen sei? (Haben Sie vielleicht gar Hilligenlei gelesen?) Ist Ihnen Schopen¬<lb/> hauers Vorschlag, die Polygamie einzuführen, ganz unbekannt? (Vgl. Chamber¬<lb/> lain a. a. O. „Der Eintritt der Juden in die Weltgeschichte".)</p><lb/> <p xml:id="ID_1824"> Ich beneide Sie, Herr Doktor, beneide Sie von ganzem Herzen. Nicht so sehr<lb/> um Ihre Belesenheit (auch die muß ganz hübsch sein), nicht so sehr um Ihren<lb/> freien, allem wissenschaftlichen Frondienste feindlichen Geist, der Sie Quellen¬<lb/> angaben als Kleinlichkeitskrämereien verachten läßt, nein, wirklich und aus tiefster<lb/> Seele beneide ich Sie um Ihren unerschütterlichen Mut. Sie »vagen es, ein<lb/> Buch zu schreiben, das für die laienhaftesten Laien bestimmt ist — nur für sie<lb/> bestimmt sein kann. Sie wagen es, dieses Buch „Dinge, die man nicht sagt" zu<lb/> betiteln — und in ihm Dinge auszusprechen, die seit dreißig und mehr Jahren<lb/> entweder veraltet und unwahr sind oder so oft gesagt, durchdacht, besprochen, daß<lb/> ein halbwegs kulturdurchsetzter Primaner sich von ihnen abwendet. Sie bekommen<lb/> es fertig auf fast dreihundert Seiten keinen neuen Gedanken zu bringen und wagen es<lb/> doch sich als den Luzifer, den Lichtträger und sarkastischen Satan zugleich aufzuspielen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1825" next="#ID_1826"> Nein, Herr Doktor! Ihnen kann keiner den Vorwmf irgendwelcher Wissen¬<lb/> schaftlichkeit machen. Sie haben — gegen alles Herkommen — vorn aufs Titel¬<lb/> blatt Ihren „Dr." gesetzt: Ihre Arbeit aber ist eine, die jeder noch so „Examens-</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0415]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
den ordentlichen Lehrstühlen Deutschlands — den einzigen Lamprecht nimmt er
aus (S. 45 f.) — sind nach ihm spezialisierende Bohrwürmer, die sich in irgend¬
einen kleinsten Teil der Weltgeschichte festfressen und von nichts anderem wissen
noch wissen wollen. Ein rücksichtsloser Klüngelgeist herrscht unter ihnen; keiner,
der nicht zur Zunft gehört, wird zugelassen; wer ihre Töchter heiratet, wird ordent¬
licher Professor; wer sie wissenschaftlich angreift, ist ein boshafter Ignorant, ein
hämischer Narr, dem man entweder die Karriere abschneidet oder ihn, wenn er
sie schon hinter sich hat, der allgemeinen Verachtung preisgibt is. 45 f.).
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Und das, Herr Dr. Kemmerich, sind „Dinge, die man nicht sagt? Verzeihen
Sie gütigst: aber das sind Dinge, die so veraltet und unwahr geworden sind, daß
die „Fliegenden Blätter" sich ihrer bereits vor zwanzig Jahren bemächtigt haben.
Solche Typen laufen noch hier und da in kleinen Universitäten vereinzelt herum.
Weshalb, Herr Dr. Kemmerich, stellen Sie diese Originale als Durchschnittstypen
dar? Weshalb, Herr Doktor, tun Sie, als ob Sie die trojanische Mauer einrennen,
während Sie doch in Wahrheit durch offene Türen mit Siegermiene ungehindert
hindurchschreiten? Sie haben eine scharfe Feder. Herr Doktor, Sie sind witzig und
voll Esprit und deshalb Ihrer Wirkung auf gewisse Menschen sicher. Aber ein
Wahrheitsfinder sind Sie nicht. Denn wenn man im ersten Teile Ihres Werkes, soweit
es die Universitäten behandelt, Ihnen eine gewisse Kenntnis ganz bestimmter Einzcl-
vcrhältnisse nicht absprechenkann, so fälltdoch weiterhinunangenehm auf, daß einem alle?,
was man liest, so bekannt vorkommt. Verzeihen Sie. Herr Doktor: kennen Sie Georg
Hirths „Wege zur Liebe"? (vgl. Kemmerich S. 146, 152.167, 183, 194). Pardon:
sind Ihnen Chamberlains „Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts" bekannt?
Haben Sie vielleicht Schopenhauer gelesen (vgl. Kemmerich S. 223), vielleicht
sogar die Paralipomena, und zwar Ur. 28? (vgl. Kemmerich S. 160.) Denn,
Herr Doktor, bei Hirth (vgl. Hirth „Wege zur Liebe". (Hirths Verlag, 1906), Inhalts¬
verzeichnis) finden sich so wunderhübsche Abhandlungen über eheliche Moral,
über Nuditätenschnüffeleien, über Humanität und Patriotismus, die sich mit den
Ihren —ein wenig berühren! Wie originell auch, das Chamberlain etwa fünfzehn
Jahre vor Ihnen den Gedanken gedacht hat, daß das alte Testament, das Judentum
und dadurch natürlich das Christentum auf die Germanen unheilvollen Einfluß
ausübte? Daß der bibliche Christus für die wahrhaft germanische Seele nicht
zu brauchen sei? (Haben Sie vielleicht gar Hilligenlei gelesen?) Ist Ihnen Schopen¬
hauers Vorschlag, die Polygamie einzuführen, ganz unbekannt? (Vgl. Chamber¬
lain a. a. O. „Der Eintritt der Juden in die Weltgeschichte".)
Ich beneide Sie, Herr Doktor, beneide Sie von ganzem Herzen. Nicht so sehr
um Ihre Belesenheit (auch die muß ganz hübsch sein), nicht so sehr um Ihren
freien, allem wissenschaftlichen Frondienste feindlichen Geist, der Sie Quellen¬
angaben als Kleinlichkeitskrämereien verachten läßt, nein, wirklich und aus tiefster
Seele beneide ich Sie um Ihren unerschütterlichen Mut. Sie »vagen es, ein
Buch zu schreiben, das für die laienhaftesten Laien bestimmt ist — nur für sie
bestimmt sein kann. Sie wagen es, dieses Buch „Dinge, die man nicht sagt" zu
betiteln — und in ihm Dinge auszusprechen, die seit dreißig und mehr Jahren
entweder veraltet und unwahr sind oder so oft gesagt, durchdacht, besprochen, daß
ein halbwegs kulturdurchsetzter Primaner sich von ihnen abwendet. Sie bekommen
es fertig auf fast dreihundert Seiten keinen neuen Gedanken zu bringen und wagen es
doch sich als den Luzifer, den Lichtträger und sarkastischen Satan zugleich aufzuspielen.
Nein, Herr Doktor! Ihnen kann keiner den Vorwmf irgendwelcher Wissen¬
schaftlichkeit machen. Sie haben — gegen alles Herkommen — vorn aufs Titel¬
blatt Ihren „Dr." gesetzt: Ihre Arbeit aber ist eine, die jeder noch so „Examens-
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