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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Die Lage in Ungarn

eigentlichen Zusammenhang nicht kannte und schon den Sieg der ungarischen
Opposition gepriesen hatte, war es noch mehr; sie wußte sich den Vorgang nur
durch eine Sinnesänderung des Kaisers unter dem Einflüsse der sagenhaften
Kamarilla zu erklären. Das Ministerium Fejervary wurde natürlich reaktiviert
und die Gefahr des allgemeinen Wahlrechts bestand weiter.

Nun wurde zwar in den ungarischen Blättern viel staatsrechtlicher Lärm
gemacht, aber die Bevölkerung blieb ruhig. Sie hatte kein Interesse für die
militärischen und anderen staatsrechtlichen Forderungen ihrer Parlamentarier.
Die Sozialdemokratie schlug sich wegen des allgemeinen Wahlrechts auf die
Seite der Regierung und duldete keine Straßendemonstrationen außer den
eigenen. Als dann zu Anfang des Jahres 1906 das Ministerium Maßregeln
traf, aus denen unverkennbar hervorging, daß es sich auf eine längere Dauer
einrichtete, beschloß die Opposition wieder einzulenken, da auch Vermittelungs¬
versuche des Erzherzogs Joseph und eine Audienz des Grasen Andrassy am
26. Januar auf den unerschütterlichen Widerstand des Kaisers gestoßen waren,
der an seinem Ultimatum festhielt. Ihre ersten Vorschläge wurden Anfang
Februar abgelehnt und Fejervary mit der Auflösung des Reichstags beauftragt,
die am 19. vor sich ging, ohne einen Eindruck aus die Bevölkerung zu machen.
Diese blieb auch bei allen weiteren staatsrechtlichen Erörterungen der Presse,
gegen deren Ausschreitungen das Ministerium energisch einschritt, vollkommen
ruhig. Als Haupttrumpf wurde schließlich noch ausgespielt, der "König" müsse
die Neuwahlen vor dem 11. April ausschreiben infolge seines Eides auf die
Verfassung, von dem ihn nur der Papst entbinden könne. Diese Wahlfrist¬
bestimmung bezieht sich aber bloß auf regelmäßige Zustände, von denen doch
keine Rede war, und Fejervary machte am 15. März -- gerade am Gedenk¬
tage der Verfassung von 1848 -- bekannt, die Regierung werde erst dann
wählen lassen, wenn sie sicher sei, daß der neue Reichstag nicht einen völligen
Umsturz der öffentlichen Ordnung und des staatlichen Ansehens bedeuten würde.
Alles Wüten dagegen blieb nach oben wie nach unten hin wirkungslos, auch
der von den Damen der Parlamentarier gegründete Tulpenorden verfehlte
jeden Eindruck auf weitere Kreise. Dagegen schloß sich ein gemeinsamer
Ministerrat in Wien am 3. April der Auffassung Fejervarys an. Nun war
es die höchste Zeit für die parlamentarischen Herren, einzulenken, denn von
einem so gefährlichen Ministerium war jeden Moment auch die offizielle
Ankündigung des allgemeinen Wahlrechts zu befürchten.

Sobald man sich gezwungenermaßen zur Unterwerfung unter das kaiserliche
Ultimatum entschlossen hatte, ging die Entwickelung ungemein rasch vor sich.
Zuerst reisten Kossuth und Graf Andrassy nach Wien, dann folgten andere, und
schon am 9. April wurde das neue Ministerium in Wien vereidigt und abends
bei der Ankunft in Budapest mit unendlichem Jubel von der Bevölkerung
empfangen. Sie brachte aus Freude über den wiederhergestellten Frieden fort¬
während Hochrufe auf den "konstitutionellen König" aus, da ihr die Presse vor-


Die Lage in Ungarn

eigentlichen Zusammenhang nicht kannte und schon den Sieg der ungarischen
Opposition gepriesen hatte, war es noch mehr; sie wußte sich den Vorgang nur
durch eine Sinnesänderung des Kaisers unter dem Einflüsse der sagenhaften
Kamarilla zu erklären. Das Ministerium Fejervary wurde natürlich reaktiviert
und die Gefahr des allgemeinen Wahlrechts bestand weiter.

Nun wurde zwar in den ungarischen Blättern viel staatsrechtlicher Lärm
gemacht, aber die Bevölkerung blieb ruhig. Sie hatte kein Interesse für die
militärischen und anderen staatsrechtlichen Forderungen ihrer Parlamentarier.
Die Sozialdemokratie schlug sich wegen des allgemeinen Wahlrechts auf die
Seite der Regierung und duldete keine Straßendemonstrationen außer den
eigenen. Als dann zu Anfang des Jahres 1906 das Ministerium Maßregeln
traf, aus denen unverkennbar hervorging, daß es sich auf eine längere Dauer
einrichtete, beschloß die Opposition wieder einzulenken, da auch Vermittelungs¬
versuche des Erzherzogs Joseph und eine Audienz des Grasen Andrassy am
26. Januar auf den unerschütterlichen Widerstand des Kaisers gestoßen waren,
der an seinem Ultimatum festhielt. Ihre ersten Vorschläge wurden Anfang
Februar abgelehnt und Fejervary mit der Auflösung des Reichstags beauftragt,
die am 19. vor sich ging, ohne einen Eindruck aus die Bevölkerung zu machen.
Diese blieb auch bei allen weiteren staatsrechtlichen Erörterungen der Presse,
gegen deren Ausschreitungen das Ministerium energisch einschritt, vollkommen
ruhig. Als Haupttrumpf wurde schließlich noch ausgespielt, der „König" müsse
die Neuwahlen vor dem 11. April ausschreiben infolge seines Eides auf die
Verfassung, von dem ihn nur der Papst entbinden könne. Diese Wahlfrist¬
bestimmung bezieht sich aber bloß auf regelmäßige Zustände, von denen doch
keine Rede war, und Fejervary machte am 15. März — gerade am Gedenk¬
tage der Verfassung von 1848 — bekannt, die Regierung werde erst dann
wählen lassen, wenn sie sicher sei, daß der neue Reichstag nicht einen völligen
Umsturz der öffentlichen Ordnung und des staatlichen Ansehens bedeuten würde.
Alles Wüten dagegen blieb nach oben wie nach unten hin wirkungslos, auch
der von den Damen der Parlamentarier gegründete Tulpenorden verfehlte
jeden Eindruck auf weitere Kreise. Dagegen schloß sich ein gemeinsamer
Ministerrat in Wien am 3. April der Auffassung Fejervarys an. Nun war
es die höchste Zeit für die parlamentarischen Herren, einzulenken, denn von
einem so gefährlichen Ministerium war jeden Moment auch die offizielle
Ankündigung des allgemeinen Wahlrechts zu befürchten.

Sobald man sich gezwungenermaßen zur Unterwerfung unter das kaiserliche
Ultimatum entschlossen hatte, ging die Entwickelung ungemein rasch vor sich.
Zuerst reisten Kossuth und Graf Andrassy nach Wien, dann folgten andere, und
schon am 9. April wurde das neue Ministerium in Wien vereidigt und abends
bei der Ankunft in Budapest mit unendlichem Jubel von der Bevölkerung
empfangen. Sie brachte aus Freude über den wiederhergestellten Frieden fort¬
während Hochrufe auf den „konstitutionellen König" aus, da ihr die Presse vor-


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[0376] Die Lage in Ungarn eigentlichen Zusammenhang nicht kannte und schon den Sieg der ungarischen Opposition gepriesen hatte, war es noch mehr; sie wußte sich den Vorgang nur durch eine Sinnesänderung des Kaisers unter dem Einflüsse der sagenhaften Kamarilla zu erklären. Das Ministerium Fejervary wurde natürlich reaktiviert und die Gefahr des allgemeinen Wahlrechts bestand weiter. Nun wurde zwar in den ungarischen Blättern viel staatsrechtlicher Lärm gemacht, aber die Bevölkerung blieb ruhig. Sie hatte kein Interesse für die militärischen und anderen staatsrechtlichen Forderungen ihrer Parlamentarier. Die Sozialdemokratie schlug sich wegen des allgemeinen Wahlrechts auf die Seite der Regierung und duldete keine Straßendemonstrationen außer den eigenen. Als dann zu Anfang des Jahres 1906 das Ministerium Maßregeln traf, aus denen unverkennbar hervorging, daß es sich auf eine längere Dauer einrichtete, beschloß die Opposition wieder einzulenken, da auch Vermittelungs¬ versuche des Erzherzogs Joseph und eine Audienz des Grasen Andrassy am 26. Januar auf den unerschütterlichen Widerstand des Kaisers gestoßen waren, der an seinem Ultimatum festhielt. Ihre ersten Vorschläge wurden Anfang Februar abgelehnt und Fejervary mit der Auflösung des Reichstags beauftragt, die am 19. vor sich ging, ohne einen Eindruck aus die Bevölkerung zu machen. Diese blieb auch bei allen weiteren staatsrechtlichen Erörterungen der Presse, gegen deren Ausschreitungen das Ministerium energisch einschritt, vollkommen ruhig. Als Haupttrumpf wurde schließlich noch ausgespielt, der „König" müsse die Neuwahlen vor dem 11. April ausschreiben infolge seines Eides auf die Verfassung, von dem ihn nur der Papst entbinden könne. Diese Wahlfrist¬ bestimmung bezieht sich aber bloß auf regelmäßige Zustände, von denen doch keine Rede war, und Fejervary machte am 15. März — gerade am Gedenk¬ tage der Verfassung von 1848 — bekannt, die Regierung werde erst dann wählen lassen, wenn sie sicher sei, daß der neue Reichstag nicht einen völligen Umsturz der öffentlichen Ordnung und des staatlichen Ansehens bedeuten würde. Alles Wüten dagegen blieb nach oben wie nach unten hin wirkungslos, auch der von den Damen der Parlamentarier gegründete Tulpenorden verfehlte jeden Eindruck auf weitere Kreise. Dagegen schloß sich ein gemeinsamer Ministerrat in Wien am 3. April der Auffassung Fejervarys an. Nun war es die höchste Zeit für die parlamentarischen Herren, einzulenken, denn von einem so gefährlichen Ministerium war jeden Moment auch die offizielle Ankündigung des allgemeinen Wahlrechts zu befürchten. Sobald man sich gezwungenermaßen zur Unterwerfung unter das kaiserliche Ultimatum entschlossen hatte, ging die Entwickelung ungemein rasch vor sich. Zuerst reisten Kossuth und Graf Andrassy nach Wien, dann folgten andere, und schon am 9. April wurde das neue Ministerium in Wien vereidigt und abends bei der Ankunft in Budapest mit unendlichem Jubel von der Bevölkerung empfangen. Sie brachte aus Freude über den wiederhergestellten Frieden fort¬ während Hochrufe auf den „konstitutionellen König" aus, da ihr die Presse vor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/376>, abgerufen am 03.07.2024.