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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Minchons Geheimnis

überhaupt in euch alle gefahren. Ich bin ein alteingesessener Bewohner dieser
Stadt wie Sie, meine Herren, und wenn Sie mit irgend etwas unzufrieden sind,
so halten Sie sich meinetwegen an die Regierung, aber lassen Sie gefälligst
Ihre ehrsamen Mitbürger in Ruhe! Das ist ja, als wenn alles verrückt geworden
wäre!"

Das energische Auftreten des würdigen Mannes verfehlte seine Wirkung nicht.

"Na ja," brummten die Leute, "wir sehen schon, daß er hier nicht ist. Aber
ins Haus war er hinein, das steht bombenfest."

"Dann ist er vielleicht, über den Hof und nach der Fruchtstratze hinaus¬
gegangen. Das ist doch hier ein Eckhaus."

Die Männer sahen sich verblüfft an.

"Wahrhaftig, daran haben wir gar nicht gedacht! Dann entschuldigen Sie
nur, Herr Hegerbarth!"

Sie gingen eilig wieder hinunter, und die Menschenmasse schob sich nach der
Aufklärung um die Ecke in die Seitenstraße.

Hegerbarth, der die Leute bis zur Haustür begleitet hatte, sagte oben zu
seiner Tochter:

"Es ist nur gut, daß Mutter nach dem Tee eingeschlafen ist und von der
ganzen Geschichte nichts gemerkt hat. Sie hätte sich zu Tode geängstigt. Du
mußt übrigens noch die Blutflecke entfernen, Minchen. Das hätte wirklich
unangenehm werden können, wenn ich nicht glücklicherweise gewußt hätte, wie sie
entstanden sind."

Minchen eilte sehr bereitwillig hinaus und wischte die Spuren auf.

Sie benutzte die Gelegenheit, einen Blick nach ihrem Pflegling zu werfen.
Er schlummerte friedlich. Gern hätte sie den Verband erneuert, wenn sie nicht
gefürchtet- hätte, zu stören, und so ging sie auf den Zehen wieder hinaus.

Langsam breitete sich die Dämmerung aus; dann kam auf dunkelsamtenen
Schwingen die Nacht, eine Lenznacht, weich und zärtlich, die schmeichelnd lockt
und mit kosenden, seidenen Händen die Wangen der Menschen streichelt.

Minchen zündete die Öllampe an und sagte:

"Es ist doch möglich, lieber Vater, daß mich die Mutter in der Nacht braucht.
Es wird also das beste sein, wenn ich heut hier auf dem Sofa übernachte."

Er suchte ihr das auszureden. Das wäre wohl nicht nötig, und bei dem
Lärm auf der Straße würde sie hinten in ihrem Stübchen viel besser ruhen als
im Vorderzimmer. Aber sie blieb fest bei ihrem Entschluß, holte sich vom Hänge¬
boden in der Küche einige Betten, und der Vater tätschelte ihr schließlich gerührt
die Wange und lobte sie:

"Du bist ein gutes Kind, du wirst auch gewiß dafür vom Himmel belohnt
werden."

Sie griff zu einer Handarbeit, ging aber noch mehreremal hinaus, so daß
der Vater fragte:

"Ist dir deine Absicht etwa wieder leid geworden? Dann bleib nur ruhig
in deiner Stube, wenn du willst! Mutter wird wohl vor morgen früh nicht auf¬
wachen."

Sie schüttelte den Kopf.

"Aber was hast du nur? - Du bist so eigentümlich ernst und dabei doch so
unruhig. Fehlt dir etwas?"

"Nichts, nichts, Vater!"

"Zu verwundern wäre das ja nicht. Wenn nur das Schießen endlich auf¬
hören wollte!"


Minchons Geheimnis

überhaupt in euch alle gefahren. Ich bin ein alteingesessener Bewohner dieser
Stadt wie Sie, meine Herren, und wenn Sie mit irgend etwas unzufrieden sind,
so halten Sie sich meinetwegen an die Regierung, aber lassen Sie gefälligst
Ihre ehrsamen Mitbürger in Ruhe! Das ist ja, als wenn alles verrückt geworden
wäre!"

Das energische Auftreten des würdigen Mannes verfehlte seine Wirkung nicht.

„Na ja," brummten die Leute, „wir sehen schon, daß er hier nicht ist. Aber
ins Haus war er hinein, das steht bombenfest."

„Dann ist er vielleicht, über den Hof und nach der Fruchtstratze hinaus¬
gegangen. Das ist doch hier ein Eckhaus."

Die Männer sahen sich verblüfft an.

„Wahrhaftig, daran haben wir gar nicht gedacht! Dann entschuldigen Sie
nur, Herr Hegerbarth!"

Sie gingen eilig wieder hinunter, und die Menschenmasse schob sich nach der
Aufklärung um die Ecke in die Seitenstraße.

Hegerbarth, der die Leute bis zur Haustür begleitet hatte, sagte oben zu
seiner Tochter:

„Es ist nur gut, daß Mutter nach dem Tee eingeschlafen ist und von der
ganzen Geschichte nichts gemerkt hat. Sie hätte sich zu Tode geängstigt. Du
mußt übrigens noch die Blutflecke entfernen, Minchen. Das hätte wirklich
unangenehm werden können, wenn ich nicht glücklicherweise gewußt hätte, wie sie
entstanden sind."

Minchen eilte sehr bereitwillig hinaus und wischte die Spuren auf.

Sie benutzte die Gelegenheit, einen Blick nach ihrem Pflegling zu werfen.
Er schlummerte friedlich. Gern hätte sie den Verband erneuert, wenn sie nicht
gefürchtet- hätte, zu stören, und so ging sie auf den Zehen wieder hinaus.

Langsam breitete sich die Dämmerung aus; dann kam auf dunkelsamtenen
Schwingen die Nacht, eine Lenznacht, weich und zärtlich, die schmeichelnd lockt
und mit kosenden, seidenen Händen die Wangen der Menschen streichelt.

Minchen zündete die Öllampe an und sagte:

„Es ist doch möglich, lieber Vater, daß mich die Mutter in der Nacht braucht.
Es wird also das beste sein, wenn ich heut hier auf dem Sofa übernachte."

Er suchte ihr das auszureden. Das wäre wohl nicht nötig, und bei dem
Lärm auf der Straße würde sie hinten in ihrem Stübchen viel besser ruhen als
im Vorderzimmer. Aber sie blieb fest bei ihrem Entschluß, holte sich vom Hänge¬
boden in der Küche einige Betten, und der Vater tätschelte ihr schließlich gerührt
die Wange und lobte sie:

„Du bist ein gutes Kind, du wirst auch gewiß dafür vom Himmel belohnt
werden."

Sie griff zu einer Handarbeit, ging aber noch mehreremal hinaus, so daß
der Vater fragte:

„Ist dir deine Absicht etwa wieder leid geworden? Dann bleib nur ruhig
in deiner Stube, wenn du willst! Mutter wird wohl vor morgen früh nicht auf¬
wachen."

Sie schüttelte den Kopf.

„Aber was hast du nur? - Du bist so eigentümlich ernst und dabei doch so
unruhig. Fehlt dir etwas?"

„Nichts, nichts, Vater!"

„Zu verwundern wäre das ja nicht. Wenn nur das Schießen endlich auf¬
hören wollte!"


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[0250] Minchons Geheimnis überhaupt in euch alle gefahren. Ich bin ein alteingesessener Bewohner dieser Stadt wie Sie, meine Herren, und wenn Sie mit irgend etwas unzufrieden sind, so halten Sie sich meinetwegen an die Regierung, aber lassen Sie gefälligst Ihre ehrsamen Mitbürger in Ruhe! Das ist ja, als wenn alles verrückt geworden wäre!" Das energische Auftreten des würdigen Mannes verfehlte seine Wirkung nicht. „Na ja," brummten die Leute, „wir sehen schon, daß er hier nicht ist. Aber ins Haus war er hinein, das steht bombenfest." „Dann ist er vielleicht, über den Hof und nach der Fruchtstratze hinaus¬ gegangen. Das ist doch hier ein Eckhaus." Die Männer sahen sich verblüfft an. „Wahrhaftig, daran haben wir gar nicht gedacht! Dann entschuldigen Sie nur, Herr Hegerbarth!" Sie gingen eilig wieder hinunter, und die Menschenmasse schob sich nach der Aufklärung um die Ecke in die Seitenstraße. Hegerbarth, der die Leute bis zur Haustür begleitet hatte, sagte oben zu seiner Tochter: „Es ist nur gut, daß Mutter nach dem Tee eingeschlafen ist und von der ganzen Geschichte nichts gemerkt hat. Sie hätte sich zu Tode geängstigt. Du mußt übrigens noch die Blutflecke entfernen, Minchen. Das hätte wirklich unangenehm werden können, wenn ich nicht glücklicherweise gewußt hätte, wie sie entstanden sind." Minchen eilte sehr bereitwillig hinaus und wischte die Spuren auf. Sie benutzte die Gelegenheit, einen Blick nach ihrem Pflegling zu werfen. Er schlummerte friedlich. Gern hätte sie den Verband erneuert, wenn sie nicht gefürchtet- hätte, zu stören, und so ging sie auf den Zehen wieder hinaus. Langsam breitete sich die Dämmerung aus; dann kam auf dunkelsamtenen Schwingen die Nacht, eine Lenznacht, weich und zärtlich, die schmeichelnd lockt und mit kosenden, seidenen Händen die Wangen der Menschen streichelt. Minchen zündete die Öllampe an und sagte: „Es ist doch möglich, lieber Vater, daß mich die Mutter in der Nacht braucht. Es wird also das beste sein, wenn ich heut hier auf dem Sofa übernachte." Er suchte ihr das auszureden. Das wäre wohl nicht nötig, und bei dem Lärm auf der Straße würde sie hinten in ihrem Stübchen viel besser ruhen als im Vorderzimmer. Aber sie blieb fest bei ihrem Entschluß, holte sich vom Hänge¬ boden in der Küche einige Betten, und der Vater tätschelte ihr schließlich gerührt die Wange und lobte sie: „Du bist ein gutes Kind, du wirst auch gewiß dafür vom Himmel belohnt werden." Sie griff zu einer Handarbeit, ging aber noch mehreremal hinaus, so daß der Vater fragte: „Ist dir deine Absicht etwa wieder leid geworden? Dann bleib nur ruhig in deiner Stube, wenn du willst! Mutter wird wohl vor morgen früh nicht auf¬ wachen." Sie schüttelte den Kopf. „Aber was hast du nur? - Du bist so eigentümlich ernst und dabei doch so unruhig. Fehlt dir etwas?" „Nichts, nichts, Vater!" „Zu verwundern wäre das ja nicht. Wenn nur das Schießen endlich auf¬ hören wollte!"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/250>, abgerufen am 23.07.2024.