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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Recht und Milche

Paris rechtsverbindlich und mußte später erst durch ein französisches Gesetz
beseitigt werden? Oder wenn Don Carlos in den von ihm besetzten spanischen
Provinzen Gesetze gab? Oder die Revolutionäre in Venetien 1848? Gewiß nicht!

Vielmehr muß durch die Gewalt ein dauernder Zustand eingerichtet sein.
Das trifft zweifellos zu, wenn die neuen Gewalthaber einige Zeit lang im
ruhigen, ungestörten Besitz der Gewalt gewesen sind. Aber kleinere Störungen,
die den Besitz der Gewalt nicht ernstlich gefährden, kommen dabei nicht in
Betracht, wie Guerillakriege in einigen Provinzen, einzelne örtliche Putsche der
früheren Gewalthaber usw. Hat der gar nicht oder nur unerheblich gestörte
Besitz eine Zeitlang gedauert, so beeinträchtigt auch eine spätere ernstliche
Besitzstörung den Rechtsbestand der neuen Verfassung nicht, solange das nicht
wieder zur Begründung eines neuen Gewaltbesitzes führt.

Ohne diesen Grundsatz ist im Leben der Völker nicht auszukommen, so
wenig wie ohne Gesetz und Recht überhaupt. Würde immer nur das als
Gesetz gelten, was auch in letzter Linie auf Gesetz oder doch auf langdauernde
Rechtsübung (Gewohnheitsrecht) beruhte, so wäre es vorbei mit dem Haupt¬
vorzüge der Gesetzlichkeit, nämlich der Sicherheit. Die rechtsgeschichtliche Auf¬
deckung ehemaliger Gewaltsamkeit könnte dann unsre ganze Rechtsordnung über
den Haufen werfen, und wir Gegenwärtigen hätten überhaupt kein Mittel, uns
rechtswirksame Gesetze zu verschaffen. Und doch können die Funktionen des
Staates, darunter die Gesetzgebung, keine längere Unterbrechung erleiden, so
wenig wie die Funktion der Ernährungsorgane des menschlichen Körpers.

Der so gewonnene Grundsatz, der wie bemerkt, tatsächlich allgemein befolgt
wird, lautet nun so: Die Verfassungen beruhen aus der tatsächlichen Macht.
Gesetzgeber ist, wer vom tatsächlichen Machthaber im Staat dazu bestimmt wird.
Ist die Verfassung gesetzlich zustande gekommen, so beruht doch ihre Verbind¬
lichkeit nicht hierauf. Stände die tatsächliche Macht nicht hinter ihr, so würde
sie nichts gelten, wie die deutsche Reichsverfassung von 1849 und die fran¬
zösische Verfassung von 1791, und wenn sie diese Macht hinter sich hätte, so
würde sie gelten, auch ohne gesetzliche Entstehung. Nur stärkt die Gesetzlichkeit
die tatsächliche Macht sehr erheblich. Wer die Gesetzlichkeit für sich hat, der
hat mehr Aussicht, die Macht zu behaupten oder zu erlangen, aber entscheidend
ist nur diese, nicht jene. So beruht das Gesetz auf der Macht. Zwar sind
Angriffe gegen die Verfassung ungesetzlich und werden überall bestraft, so
Revolutions- und Staatsstreichsoersuche. Eine gelungene Revolution und
ein gelungener Staatsstreich schaffen aber Recht, sie sind rechtserzeugende
Vorgänge.

Sie stehen also nicht außerhalb der Sphäre des Rechts, sondern sie sind,
als Grundlagen der Macht, aus der das Recht fließt, selbst Grundlagen des
Rechts.

Die Geltung des Grundsatzes, daß die Macht das Gesetzesrecht schafft,
kann nicht selbst aus dem Gesetze beruhen. Sie muß also auf etwas gegründet


Recht und Milche

Paris rechtsverbindlich und mußte später erst durch ein französisches Gesetz
beseitigt werden? Oder wenn Don Carlos in den von ihm besetzten spanischen
Provinzen Gesetze gab? Oder die Revolutionäre in Venetien 1848? Gewiß nicht!

Vielmehr muß durch die Gewalt ein dauernder Zustand eingerichtet sein.
Das trifft zweifellos zu, wenn die neuen Gewalthaber einige Zeit lang im
ruhigen, ungestörten Besitz der Gewalt gewesen sind. Aber kleinere Störungen,
die den Besitz der Gewalt nicht ernstlich gefährden, kommen dabei nicht in
Betracht, wie Guerillakriege in einigen Provinzen, einzelne örtliche Putsche der
früheren Gewalthaber usw. Hat der gar nicht oder nur unerheblich gestörte
Besitz eine Zeitlang gedauert, so beeinträchtigt auch eine spätere ernstliche
Besitzstörung den Rechtsbestand der neuen Verfassung nicht, solange das nicht
wieder zur Begründung eines neuen Gewaltbesitzes führt.

Ohne diesen Grundsatz ist im Leben der Völker nicht auszukommen, so
wenig wie ohne Gesetz und Recht überhaupt. Würde immer nur das als
Gesetz gelten, was auch in letzter Linie auf Gesetz oder doch auf langdauernde
Rechtsübung (Gewohnheitsrecht) beruhte, so wäre es vorbei mit dem Haupt¬
vorzüge der Gesetzlichkeit, nämlich der Sicherheit. Die rechtsgeschichtliche Auf¬
deckung ehemaliger Gewaltsamkeit könnte dann unsre ganze Rechtsordnung über
den Haufen werfen, und wir Gegenwärtigen hätten überhaupt kein Mittel, uns
rechtswirksame Gesetze zu verschaffen. Und doch können die Funktionen des
Staates, darunter die Gesetzgebung, keine längere Unterbrechung erleiden, so
wenig wie die Funktion der Ernährungsorgane des menschlichen Körpers.

Der so gewonnene Grundsatz, der wie bemerkt, tatsächlich allgemein befolgt
wird, lautet nun so: Die Verfassungen beruhen aus der tatsächlichen Macht.
Gesetzgeber ist, wer vom tatsächlichen Machthaber im Staat dazu bestimmt wird.
Ist die Verfassung gesetzlich zustande gekommen, so beruht doch ihre Verbind¬
lichkeit nicht hierauf. Stände die tatsächliche Macht nicht hinter ihr, so würde
sie nichts gelten, wie die deutsche Reichsverfassung von 1849 und die fran¬
zösische Verfassung von 1791, und wenn sie diese Macht hinter sich hätte, so
würde sie gelten, auch ohne gesetzliche Entstehung. Nur stärkt die Gesetzlichkeit
die tatsächliche Macht sehr erheblich. Wer die Gesetzlichkeit für sich hat, der
hat mehr Aussicht, die Macht zu behaupten oder zu erlangen, aber entscheidend
ist nur diese, nicht jene. So beruht das Gesetz auf der Macht. Zwar sind
Angriffe gegen die Verfassung ungesetzlich und werden überall bestraft, so
Revolutions- und Staatsstreichsoersuche. Eine gelungene Revolution und
ein gelungener Staatsstreich schaffen aber Recht, sie sind rechtserzeugende
Vorgänge.

Sie stehen also nicht außerhalb der Sphäre des Rechts, sondern sie sind,
als Grundlagen der Macht, aus der das Recht fließt, selbst Grundlagen des
Rechts.

Die Geltung des Grundsatzes, daß die Macht das Gesetzesrecht schafft,
kann nicht selbst aus dem Gesetze beruhen. Sie muß also auf etwas gegründet


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[0235] Recht und Milche Paris rechtsverbindlich und mußte später erst durch ein französisches Gesetz beseitigt werden? Oder wenn Don Carlos in den von ihm besetzten spanischen Provinzen Gesetze gab? Oder die Revolutionäre in Venetien 1848? Gewiß nicht! Vielmehr muß durch die Gewalt ein dauernder Zustand eingerichtet sein. Das trifft zweifellos zu, wenn die neuen Gewalthaber einige Zeit lang im ruhigen, ungestörten Besitz der Gewalt gewesen sind. Aber kleinere Störungen, die den Besitz der Gewalt nicht ernstlich gefährden, kommen dabei nicht in Betracht, wie Guerillakriege in einigen Provinzen, einzelne örtliche Putsche der früheren Gewalthaber usw. Hat der gar nicht oder nur unerheblich gestörte Besitz eine Zeitlang gedauert, so beeinträchtigt auch eine spätere ernstliche Besitzstörung den Rechtsbestand der neuen Verfassung nicht, solange das nicht wieder zur Begründung eines neuen Gewaltbesitzes führt. Ohne diesen Grundsatz ist im Leben der Völker nicht auszukommen, so wenig wie ohne Gesetz und Recht überhaupt. Würde immer nur das als Gesetz gelten, was auch in letzter Linie auf Gesetz oder doch auf langdauernde Rechtsübung (Gewohnheitsrecht) beruhte, so wäre es vorbei mit dem Haupt¬ vorzüge der Gesetzlichkeit, nämlich der Sicherheit. Die rechtsgeschichtliche Auf¬ deckung ehemaliger Gewaltsamkeit könnte dann unsre ganze Rechtsordnung über den Haufen werfen, und wir Gegenwärtigen hätten überhaupt kein Mittel, uns rechtswirksame Gesetze zu verschaffen. Und doch können die Funktionen des Staates, darunter die Gesetzgebung, keine längere Unterbrechung erleiden, so wenig wie die Funktion der Ernährungsorgane des menschlichen Körpers. Der so gewonnene Grundsatz, der wie bemerkt, tatsächlich allgemein befolgt wird, lautet nun so: Die Verfassungen beruhen aus der tatsächlichen Macht. Gesetzgeber ist, wer vom tatsächlichen Machthaber im Staat dazu bestimmt wird. Ist die Verfassung gesetzlich zustande gekommen, so beruht doch ihre Verbind¬ lichkeit nicht hierauf. Stände die tatsächliche Macht nicht hinter ihr, so würde sie nichts gelten, wie die deutsche Reichsverfassung von 1849 und die fran¬ zösische Verfassung von 1791, und wenn sie diese Macht hinter sich hätte, so würde sie gelten, auch ohne gesetzliche Entstehung. Nur stärkt die Gesetzlichkeit die tatsächliche Macht sehr erheblich. Wer die Gesetzlichkeit für sich hat, der hat mehr Aussicht, die Macht zu behaupten oder zu erlangen, aber entscheidend ist nur diese, nicht jene. So beruht das Gesetz auf der Macht. Zwar sind Angriffe gegen die Verfassung ungesetzlich und werden überall bestraft, so Revolutions- und Staatsstreichsoersuche. Eine gelungene Revolution und ein gelungener Staatsstreich schaffen aber Recht, sie sind rechtserzeugende Vorgänge. Sie stehen also nicht außerhalb der Sphäre des Rechts, sondern sie sind, als Grundlagen der Macht, aus der das Recht fließt, selbst Grundlagen des Rechts. Die Geltung des Grundsatzes, daß die Macht das Gesetzesrecht schafft, kann nicht selbst aus dem Gesetze beruhen. Sie muß also auf etwas gegründet

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/235>, abgerufen am 01.10.2024.