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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr.

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Recht und Macht

Übung herausgebildet. Und sollte etwa unsre jetzige preußische Verfassung nicht
rechtswirksam erlassen sein -- wie vielfach angenommen wird --, so wäre auch
sie durch langdauernde Übung wirksam geworden. Wie aber, wenn sich heraus¬
stellt, daß die jetzige oder eine frühere Verfassung weder verfassungsmäßig
zustande gekommen noch in langer Übung allgemein beobachtet worden ist?
Sollen dann diese Verfassung und auch alle späteren, soweit sie sich nicht selbst
wieder durch lange Übung befestigt haben, unverbindlich sein, und zugleich alle
unter ihrer Herrschaft erlassenen Gesetze? Solche Fälle sind im Laufe der
Geschichte sehr häufig gewesen. Oft ist die Verfassung eines Landes gewaltsam,
ohne Beachtung des geltenden Rechtes geändert worden, von oben und von
unten, durch Staatsstreich und Revolution, auch durch gewaltsame Losreißung
von Landesteilen.

Nun wird niemand unsre Frage bejahen. Niemand wird wollen, daß
heute untersucht wird, ob eine Verfassung, auf der alle späteren unmittelbar
oder mittelbar beruhen, nach damaligem Staatsrecht zu Recht eingeführt wordeu
war, und wenn nicht, daß die späteren Gesetze ungültig sind. Auch hat man
im Staatsleben solches nie befolgt. Beim Sturze einer gewaltsamen Regierung
hat man zwar viele ihrer Gesetze aufgehoben, sogar mit rückwirkender Kraft;
aber grade durch solche Aushebung hat man sie doch als für die Vergangenheit
bindend gewesen behandelt. Und soweit man sie nicht aufhob, hat man sie als vor
wie nach verbindlich angesehen"). So Caesars verfassungswidrige Einrichtungen
nach seiner Ermordung, Cromwells Gesetze uach der Reaktion der Stuarts, die
revolutionären und napoleonischen Gesetze nach der Rückkehr der Bourbonen.
Und wenn der erste Kurfürst von Hessen versucht hat, die Einrichtungen aus
der Zeit des Königreichs Westfalen als nicht bestehend zu behandeln, so
erscheint das nicht nur verwerflich, sondern gradezu grotesk. Ebenso lächerlich
mutet uns eine Gesinnungstüchtigkeit an, die in den dreißiger Jahren des
neunzehnten Jahrhunderts vorgekommen ist, also vierzig Jahre nach Erlaß des
preußischen Landrechts. Da entschied ein preußischer Kreisrichter noch immer
nach römischem Recht und begründete oas so: Als 1794 unser Landrecht ein¬
geführt wurde, hatte unser König nach der Verfassung des heiligen römischen
Reichs als Kurfürst von Brandenburg nicht die Befugnis, selbständig ein neues
Zivilgesetzbuch zu schaffen. Daher war der Erlaß des Landrechts unwirksam.
Später, seit 1806, erhielt der König zwar diese Befugnis, aber dadurch wurde
sein ungültiges Gesetzbuch nicht nachträglich gültig. Das Komische hierau war,
daß ein Schatten, die Oberherrschaft des Reiches, als lebendes Wesen behandelt
wurde, die tatsächliche Macht des preußischen Königs aber nicht.

Also: eine Verfassung kann auch durch Gewalt geändert werden. Wann
aber tritt solche Änderung ein? Wenn die Pariser Kommunisten im Jahre
1871 den Grundbesitz sür gemeinsam erklärten, war das etwa zunächst für



") Vgl. hierüber Brockhaus, Das Legitimitätsprinzip, 1868. S, 823, 82V, 423.
Recht und Macht

Übung herausgebildet. Und sollte etwa unsre jetzige preußische Verfassung nicht
rechtswirksam erlassen sein — wie vielfach angenommen wird —, so wäre auch
sie durch langdauernde Übung wirksam geworden. Wie aber, wenn sich heraus¬
stellt, daß die jetzige oder eine frühere Verfassung weder verfassungsmäßig
zustande gekommen noch in langer Übung allgemein beobachtet worden ist?
Sollen dann diese Verfassung und auch alle späteren, soweit sie sich nicht selbst
wieder durch lange Übung befestigt haben, unverbindlich sein, und zugleich alle
unter ihrer Herrschaft erlassenen Gesetze? Solche Fälle sind im Laufe der
Geschichte sehr häufig gewesen. Oft ist die Verfassung eines Landes gewaltsam,
ohne Beachtung des geltenden Rechtes geändert worden, von oben und von
unten, durch Staatsstreich und Revolution, auch durch gewaltsame Losreißung
von Landesteilen.

Nun wird niemand unsre Frage bejahen. Niemand wird wollen, daß
heute untersucht wird, ob eine Verfassung, auf der alle späteren unmittelbar
oder mittelbar beruhen, nach damaligem Staatsrecht zu Recht eingeführt wordeu
war, und wenn nicht, daß die späteren Gesetze ungültig sind. Auch hat man
im Staatsleben solches nie befolgt. Beim Sturze einer gewaltsamen Regierung
hat man zwar viele ihrer Gesetze aufgehoben, sogar mit rückwirkender Kraft;
aber grade durch solche Aushebung hat man sie doch als für die Vergangenheit
bindend gewesen behandelt. Und soweit man sie nicht aufhob, hat man sie als vor
wie nach verbindlich angesehen"). So Caesars verfassungswidrige Einrichtungen
nach seiner Ermordung, Cromwells Gesetze uach der Reaktion der Stuarts, die
revolutionären und napoleonischen Gesetze nach der Rückkehr der Bourbonen.
Und wenn der erste Kurfürst von Hessen versucht hat, die Einrichtungen aus
der Zeit des Königreichs Westfalen als nicht bestehend zu behandeln, so
erscheint das nicht nur verwerflich, sondern gradezu grotesk. Ebenso lächerlich
mutet uns eine Gesinnungstüchtigkeit an, die in den dreißiger Jahren des
neunzehnten Jahrhunderts vorgekommen ist, also vierzig Jahre nach Erlaß des
preußischen Landrechts. Da entschied ein preußischer Kreisrichter noch immer
nach römischem Recht und begründete oas so: Als 1794 unser Landrecht ein¬
geführt wurde, hatte unser König nach der Verfassung des heiligen römischen
Reichs als Kurfürst von Brandenburg nicht die Befugnis, selbständig ein neues
Zivilgesetzbuch zu schaffen. Daher war der Erlaß des Landrechts unwirksam.
Später, seit 1806, erhielt der König zwar diese Befugnis, aber dadurch wurde
sein ungültiges Gesetzbuch nicht nachträglich gültig. Das Komische hierau war,
daß ein Schatten, die Oberherrschaft des Reiches, als lebendes Wesen behandelt
wurde, die tatsächliche Macht des preußischen Königs aber nicht.

Also: eine Verfassung kann auch durch Gewalt geändert werden. Wann
aber tritt solche Änderung ein? Wenn die Pariser Kommunisten im Jahre
1871 den Grundbesitz sür gemeinsam erklärten, war das etwa zunächst für



") Vgl. hierüber Brockhaus, Das Legitimitätsprinzip, 1868. S, 823, 82V, 423.
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[0234] Recht und Macht Übung herausgebildet. Und sollte etwa unsre jetzige preußische Verfassung nicht rechtswirksam erlassen sein — wie vielfach angenommen wird —, so wäre auch sie durch langdauernde Übung wirksam geworden. Wie aber, wenn sich heraus¬ stellt, daß die jetzige oder eine frühere Verfassung weder verfassungsmäßig zustande gekommen noch in langer Übung allgemein beobachtet worden ist? Sollen dann diese Verfassung und auch alle späteren, soweit sie sich nicht selbst wieder durch lange Übung befestigt haben, unverbindlich sein, und zugleich alle unter ihrer Herrschaft erlassenen Gesetze? Solche Fälle sind im Laufe der Geschichte sehr häufig gewesen. Oft ist die Verfassung eines Landes gewaltsam, ohne Beachtung des geltenden Rechtes geändert worden, von oben und von unten, durch Staatsstreich und Revolution, auch durch gewaltsame Losreißung von Landesteilen. Nun wird niemand unsre Frage bejahen. Niemand wird wollen, daß heute untersucht wird, ob eine Verfassung, auf der alle späteren unmittelbar oder mittelbar beruhen, nach damaligem Staatsrecht zu Recht eingeführt wordeu war, und wenn nicht, daß die späteren Gesetze ungültig sind. Auch hat man im Staatsleben solches nie befolgt. Beim Sturze einer gewaltsamen Regierung hat man zwar viele ihrer Gesetze aufgehoben, sogar mit rückwirkender Kraft; aber grade durch solche Aushebung hat man sie doch als für die Vergangenheit bindend gewesen behandelt. Und soweit man sie nicht aufhob, hat man sie als vor wie nach verbindlich angesehen"). So Caesars verfassungswidrige Einrichtungen nach seiner Ermordung, Cromwells Gesetze uach der Reaktion der Stuarts, die revolutionären und napoleonischen Gesetze nach der Rückkehr der Bourbonen. Und wenn der erste Kurfürst von Hessen versucht hat, die Einrichtungen aus der Zeit des Königreichs Westfalen als nicht bestehend zu behandeln, so erscheint das nicht nur verwerflich, sondern gradezu grotesk. Ebenso lächerlich mutet uns eine Gesinnungstüchtigkeit an, die in den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts vorgekommen ist, also vierzig Jahre nach Erlaß des preußischen Landrechts. Da entschied ein preußischer Kreisrichter noch immer nach römischem Recht und begründete oas so: Als 1794 unser Landrecht ein¬ geführt wurde, hatte unser König nach der Verfassung des heiligen römischen Reichs als Kurfürst von Brandenburg nicht die Befugnis, selbständig ein neues Zivilgesetzbuch zu schaffen. Daher war der Erlaß des Landrechts unwirksam. Später, seit 1806, erhielt der König zwar diese Befugnis, aber dadurch wurde sein ungültiges Gesetzbuch nicht nachträglich gültig. Das Komische hierau war, daß ein Schatten, die Oberherrschaft des Reiches, als lebendes Wesen behandelt wurde, die tatsächliche Macht des preußischen Königs aber nicht. Also: eine Verfassung kann auch durch Gewalt geändert werden. Wann aber tritt solche Änderung ein? Wenn die Pariser Kommunisten im Jahre 1871 den Grundbesitz sür gemeinsam erklärten, war das etwa zunächst für ") Vgl. hierüber Brockhaus, Das Legitimitätsprinzip, 1868. S, 823, 82V, 423.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_316288/234>, abgerufen am 01.07.2024.